Kapitel 37: Ein Stück vergessene Vergangenheit

Ich sehe nervös auf die Uhranzeige meines Handys und lege es dann wieder in die Tasche.

"Er hasst Unpünktlichkeit.", denke ich und beiße mir auf die Unterlippe.

Dabei ist es nicht einmal meine Schuld, dass ich zu spät komme. Der Bus hatte Verspätung. Natürlich hätte ich auch ohne Probleme ein Taxi nehmen können, da es niemandem auffallen würde, ob nun dreißig oder dreißigtausend Dollar von unserem Konto abgezogen werden würde, aber merkwürdigerweise mag ich es einfach Bus zu fahren. Auch wenn ich es gegenüber meiner Familie und Freunden - nun ja besonders gegenüber meiner Mutter - niemals zugeben würde, aber ich fühle mich in einem stickigen Bus mit Kaugummi und Graffiti an den Wänden wohler als in einem Taxi. Ich mag die Stille in einem Taxi nicht, da der Fahrer genau weiß, woher ich herkomme, wer meine Familie ist und sich so niemals trauen würde, auch nur den Mund in meiner Gegenwart aufzumachen, außer vielleicht um nach der Adresse zu fragen, wo ich hinwill. In einem Bus ist es ganz anders. Niemand kennt mich und vor allen Dingen niemand sieht mich. Ich bin unsichtbar. Normalerweise nichts, das ich erstrebe, aber hier geht es schließlich nicht darum, die beste in der Klasse zu sein.

Ruckelnd hält der Bus an meiner Haltestelle an und ich sehe auf. Eilig werfe ich mir meine Tasche über die Schulter und steige in die warme Novembernacht hinaus.

"Hi ... ehm ... ich ... würde gerne zu Nate Dyllan, bitte.", stottere ich, wie auch die anderen Male von dem Prunk, Luxus und auch Kälte der Lobby samt Portier eingeschüchtert.

Ähnlich wie auch das letzte Mal als ich Nate sehen wollte, zieht der Mann im eleganten Anzug hinter der Rezeption demonstrativ eine Braue hoch und mustert mich wieder einmal skeptisch.

"Und Ihr Name?", fragt der Mann schließlich in vor Arroganz triefender Stimme.

"Erkennt er mich denn nicht?", schießt es mir automatisch durch den Kopf und ich spüre wie das Monster in meinem Bauch interessiert den Kopf hebt, "Natürlich sieht er täglich viele neue Gesichter ... oder liegt es daran, dass ich nicht das einzige Mädchen in - Nein. Schluss damit.", ermahne ich mich selbst und versuche mich wieder auf's Wesentliche zu konzentrieren.

"Jennifer Clark.", sage ich mit bemüht ausdrucksloser Stimme und sehe dabei zu, wie der Portier murmelnd etwas in seinen Computer eintippt.

Nach einigen Sekunden bildet sich ein überraschtes "O" auf seinen Lippen und ich grinse in mich hinein.

"S-Sie stehen auf der Liste.", sagt er schließlich einigermaßen verblüfft, fängt sich dann jedoch wieder recht schnell und tritt hinter der Theke hervor.

Zufrieden lächelnd folge ich ihm bis zu den Aufzügen und steige ein, als die stählernen Türen beiseite gleiten und den kleinen Raum dahinter freigeben. Der Türmann macht ebenfalls einen Schritt hinein, tippt eine Zahlenkombination in die kleine Tastatur ganz oben auf der Knopfleiste ein und steigt dann wieder aus. Die Türen schließen sich und der Fahrstuhl setzt sich ohne die Spur eines Ruckelns in Bewegung.

Ich spüre, wie mein Herz immer schneller und schneller schlägt, je höher mich der Aufzug bringt. Ich versuche meine unregelmäßige Atmung unter Kontrolle zu bringen, aber ich weiß, dass es aussichtslos ist. Meine Finger werden ganz kalt und fangen an zu zittern vor lauter - "Pling!"

Die Türen öffnen sich und ich trete mit weichen Knien heraus.

"Du bist zu spät, Jennifer.", sagt plötzlich eine eiskalte Stimme hinter mir und ich wirble herum. Nate am Türrahmen direkt neben dem Aufzug gelehnt sieht mich mit todernster Miene an.

"I-Ich ... ehm ... tut mir Leid.", nuschle ich und sehe zu, wie er an mir vorbei und in sein Wohnzimmer rauscht.

Ich folge ihm etwas verdutzt und setzte mich mit einigem Sicherheitsabstand neben Nate auf die Eckcouch.

Er schweigt, sieht mich jedoch auch nicht an, sondern starrt nur mit nachdenklichen Blick auf sein Bücherregal neben dem Cello.

"Du magst Bücher oder?", fragt er plötzlich nach einiger Stille und ich sehe ihn verblüfft an.

"Ehm ... ja klar. Ich schätze schon aber-"

"Was hältst du von englischer Literatur?"

Ich stutze. "Was will Nate mit diesen merkwürdigen Fragen? Er hat mich zweifellos nicht hierher bestellt, um sich mit mir über Bücher zu unterhalten.", überlege ich, kommentiere es aber nicht weiter.

"Ich bewundere sie.", antworte ich nach kurzer Pause und denke dabei an mein Lieblingsbuch "Stolz und Vorurteil" von Jane Austin.

"Wer ist dein Lieblingsautor?"

Wieder stutze ich, antworte jedoch wahrheitsgemäß:

"Jane Austen."

Er sieht mich kurz von der Seite aus an und wendet dann wieder den Blick ab.

"Ich liebe Stolz und Vorurteil. Mein Vater hat es mir vorgelesen, als ich kleiner war und es hat mich schon immer fasziniert.", sage ich, bevor er fragen kann und lächle beim Gedanken an meinen Vater, eine Lesebrille auf die Nase geklemmt und konzentriert lesend.

"Das dachte ich mir.", lacht Nate leise und atmet dann tief aus.

Er wendet den Kopf und sieht mich durchdringend an, sodass sich eine unangenehme Gänsehaut auf meinem gesamten Körper ausbreitet.

"Jennifer, ich will, dass du weißt, dass ich kein Mr. Darcy bin.", sagt er schließlich nach einiger Weile, "Ich bin kein Gentleman, der sich Hals über Kopf in eine Frau verliebt und dann alles versucht, um ihr näher zu kommen. Ich bin kein Romantiker. Ich bin ...", er beißt sich verzweifelt auf die Lippe, "... dunkel."

Ich starre ihn verblüfft an, aber bevor ich etwas erwidern kann, ergreift er erneut das Wort.

"Ich bin nicht gut für dich, Jennifer und das weißt du auch. Nur ...", er stöhnt und beißt sich wieder auf die Lippe, "...ich kann mich einfach nicht von dir fern halten. Ich will dich. Ich will dich so sehr, dass nicht in deiner Nähe zu sein, dich nicht zu küssen, mich von innen heraus zerfrisst."

Mein Herz stoppt für eine Sekunde und mein Atem geht wieder flacher und stoßweise.

"Dann küss mich.", hauche ich und sehe, wie sich Nate's Augen vor Begierde weiten.

"Du musst erst wissen, auf was du dich einlässt."

"Ich weiß, auf was-"

"Du sagtest gestern, dass du dich in mich verliebt hast.", schneidet er mir mit kalter und doch ruhiger Stimme das Wort ab und ich runzle die Stirn.

"Ja?"

Er beißt sich wieder auf die Unterlippe und schließt dann kurz die Augen, wie als müsse er seine Gedanken wieder ordnen.

"Das hättest du niemals tun dürfen, Jennifer.", sagt er leise und öffnet sie dann wieder.

Ich spüre, wie etwas tief in meinem Inneren zerbricht und in Tausend Splitter zerspringt. Dann jedoch kocht in mir die Wut hoch und ich schnaube verächtlich, während ich Nate einen zornigen Blick zuwerfe.

"Das jetzt zu sagen, ist ein wenig zu spät, denkst du nicht?", keife ich und wende den Blick von diesen unglaublich schönen Augen weg, die jetzt merkwürdig schmerzerfüllt wirken.

"Mich zu lieben, wäre dein Untergang.", sagt er schwer atmend und rauft sich verzweifelt die Haare.

Langsam reißt mir der Geduldsfaden und ich springe auf, wie als hätte die Couch unter mir Feuer gefangen.

"Warum, Nate? Erklär's mir!", brülle ich und sehe ihm direkt in die Augen, "Warum willst du keine Beziehung, warum willst du es nicht zulassen, dass dich wirklich einmal jemand mag oder sogar liebt? Warum-"

"Weil ich es nicht kann, Jennifer.", donnert und baut sich demonstrativ vor mir auf, "Ich. Kann. Nicht. Lieben.", sagt er mit kalter Stimme und durchbohrt mich dabei wie so oft mit seinen Augen.

"Ach ja?", rufe ich und funkle ihn wütend an, "Was ist dann das hier?"

Mein Herz schlägt immer schneller, aber jetzt ist es bereits zu spät, um Kehrt zu machen. Ich habe mich entschieden.

Ohne zu zögern, oder Nate's verblüfften Gesichtsausdruck weiter zu beachten, schließe ich die Lücke zwischen uns, stelle mich ein wenig auf die Zehenspitzen und presse meine Lippen auf seine.

Er erwidert den Kuss nicht sofort, jedoch als ich meine Lippen heftiger gegen seine bewege, gibt er nach und küsst mich dafür nur umso stürmischer. Das Prickeln auf meiner Haut weicht zu Flammen und ich spüre, wie das hungrige Monster in meinem Bauch zufrieden schnurrt. Sein unglaublicher Duft vermischt mit dem Zitronengeruch seines Shampoos versetzt mich wie jedes Mal in eine Art Trance und lässt mich nach mehr ächzen.

Ich japse auf, als er mich plötzlich an der Hüfte packt und mich auf die Couch drückt. Seinen Körper gegen meinen gepresst. Ich kann jeden einzelnen seiner perfekten Bauchmuskeln an mir spüren und kann nicht anders, als mit meiner Hand unter sein T-Shirt zu fahren. Seine Haut ist heiß wie die meine und seine angespannten Muskeln sind steinhart unter meinen weichen Fingern.

Er lässt kurz von meinen Lippen ab, jedoch nur um sich das Shirt über den Kopf zu ziehen und es dann achtlos auf den Boden zu werfen. Zur Abwechslung verspüre ich einmal nicht den unbändigen Drang, sein Oberteil aufzuheben und sorgsam gefaltet in seinen Schrank zu legen. Ich muss für den Bruchteil einer Sekunde bei der Vorstellung schmunzeln, bemerke dann jedoch den Blick, den er mir dicht über mir schwebend zuwirft und ich beiße mir auf die Unterlippe. Es ist nicht nur die Tatsache, dass Nate ohne T-Shirt verboten heiß aussieht, die mich nervös werden lässt, sondern die Art wie sein Atem heftig geht und seine Augen voller Begierde glühen.

"Du hast keine Ahnung, Jennifer, auf was und vor allem wen du dich einlässt.", keucht er schwer atmend und sieht mich dabei wieder so durchdringend an, als würde er mich röntgen wollen.

"Du hast Recht.", flüstere ich, "Ich weiß nicht auf was ich mich einlasse, aber ich weiß, auf wen ich mich einlasse. Ich will dich, Nate."

Er macht den Mund auf um etwas zu erwidern und in genau diesem Moment ertönt das Klingeln eines Handys. Fluchend zieht er es aus seiner Hosentasche und sieht mich dann an.

"Tut mir Leid, das ist wichtig. Ich bin gleich wieder da.", sagt er mit ausdrucksloser Miene und steht auf.

Ich nicke und sehe ihm dabei zu, wie er hektisch, das Handy an sein Ohr gedrückt, den Raum verlässt.

Ich seufze und richte mich etwas auf. Ich sehe mich um und fast automatisch bleibt mein Blick an dem Bücherregal hängen. Ich weiß, ich sollte hier nicht herumschnüffeln, wenn Nate weg ist, aber die Versuchung ist einfach zu groß und ich stehe auf.

Ich schleiche auf Zehenspitzen zum Regal hinüber und lasse meine Fingerspitzen sehsüchtig über die dicken, modrigen Bücherrücken streifen. Meine Augen weiten sich, als ich die Worte "Stolz und Vorurteil" auf einen der Buchdeckel entdecke und ziehe es ohne zu zögern heraus. Aufgeregt schlage ich die erste Seite auf und habe damit meine Vermutung bestätigt. Eine Erstausgabe.

"Vielleicht lässt es mich Nate eines Tages ausleihen ... vielleicht.", denke ich und stelle das Buch mit großer Mühe wieder zurück.

Ich ziehe einige weitere großartige Werke der englischen Literatur wie "Jane Eyre", "Vanity Fair" oder "Emma" heraus und muss feststellen, dass er nicht nur seine Bücher alle alphabetisch nach Autor sortiert hat, sonder es alles Erstausgaben sind.

Nach einem letzten sehnlichen Seufzer, stelle ich schließlich eines meiner absoluten Lieblingsbücher nach "Stolz und Vorurteil" von Emily Brontë namens "Sturmhöhe" ins Regal. Dann fällt mein Blick auf das scheinbar neuste und unberührteste Buch im Regal, das somit einen kompletten Gegensatz zu den anderen, ausschließlich Erst-Ausgaben, setzt. Ich ziehe es vorsichtig heraus und sehe auf den glänzenden Umschlag.

Thomas Hardy: Tess von den d'Urbervilles

Stirnrunzelnd suche ich mit den Augen die Bücherreihen ab und tatsächlich: Ein verblichener Buchdeckel mit gelblicher Schrift steht unschuldig neben anderen Thomas Hardy Werken und ich ziehe eine Augenbraue hoch.

"Warum hat Nate "Tess von den d'Urbervilles" doppelt? Und warum ist das eine so neu?", frage ich mich und schlage schulterzuckend die erste Seite auf.

Anstatt wie bei Jane Austen's "Stolz und Vorurteil" steht hier anstatt den verblichenen Lettern "1. Ausgabe" ein Text in unordentlicher Schreibschrift und ich lese ihn rasch durch.

Lieber Nate,

Alex hat mir den Tipp gegeben, dass du englische Literatur magst, also habe ich dir das gekauft. Der Verkäufer meinte, dass es eines der größten Werke der britischen Literatur ist, aber du weißt ja, wie wenig Ahnung ich von Literatur habe. Ich hoffe, du denkst jedes Mal an mich, wenn du es liest.

Alles gute zum Geburtstag,

Ich liebe dich,

Deine Tess

Mein Blick erstarrt, als ich fertig gelesen habe und meine Gedanken überschlagen sich.

"Wer ist sie? Hat auch er sie geliebt? Waren sie zusammen? Was ist aus ihr geworden? Warum hat er noch das Buch?"

Ein weiteres Mal lese ich den Brief und versuche dabei einen klaren Kopf zu bewahren. Gerade als ich in Gedanken versunken über das "liebe" von "Ich liebe dich" streiche, höre ich Nate's Stimme lauter werden und klappe das Buch zu. Hastig versuche ich es zurück ins Regal zu stellen, jedoch fällt dabei ein Zettel heraus und ich hebe ihn vom Boden auf. Eigentlich will ich ihn sofort achtlos zurück ins Buch stopfen, nur lässt mich das Gesicht eines Mädchens Inne halten.

Es ist ein kleines quadratisches Bild von einem höchstens 16- oder sogar 15-jährigen Mädchen. Ihr zartes, ungeschminktes Gesicht wird von ihrem blonden Haar, das ihr in feinen Wellen über die Brust fällt, umrandet und ihre weichen, mandelförmigen, hellbraunen Augen erhalten durch ihr breites Lächeln einen gewissen Glanz. Sie ist unbestreitbar eine Naturschönheit.

Ich lese die Zeilen, die folgendermaßen unter dem Bild stehen:

Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus,

Gleitet über stille Seen, Felder und Wälder,

Dem Licht entgegen.

Theresa Caroline Fell (*04.11.1997 †14.10.2013)

Auch wenn du nicht mehr unter uns weilst, wirst du immer in unseren Herzen bleiben.

Ruhe in Frieden.

"Was machst du da?", ertönt Nate's knurrende Stimme dicht an meinem Ohr und ich zucke vor Schreck zusammen.

Ich drehe mich langsam zu ihm um und sehe ihm direkt in die Augen.

"Wer ist Theresa Caroline Fell?", frage ich mit zitternder Stimme und komme nicht umhin, zu bemerken, dass sich Nate's Miene versteinert.

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So ich hoffe es hat euch gefallen und ihr seid genauso gespannt wie ich, wie es weiter geht! :D

Ich würde mich wirklich sehr über jegliches Feedback von euch freuen! Also nicht vergessen, zu voten und zu kommentieren ;)

♥︎Danke für's Lesen♥︎ --> UND DANKE FÜR FAST 10 K READS! Das ist echt irre!! DANKE DANKE DANKE!

Bis Bald, Eliana

P.S. Das Kapitel widme ich Mitchel2368, weil sie mir in den letzten Tagen unglaublich viel Motivation durch das eiskalte Durch-voten und ihren vielen lieben Kommentaren gegeben hat. Vielen Dank. Ich schätze es sehr, dass du mich und mein Buch so unterstützt.

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