Kapitel 23: Kenne deine Freunde

Ich schlage die Autotür zu und sehe dann wieder zu Alex neben mir - das zufriedene Grinsen, das ich gerade eben noch für eine Millisekunde zu sehen geglaubt habe, ist verschwunden und an seiner Stelle ist jetzt ein besorgter Ausdruck auf sein Gesicht gehuscht.

"J-Jenny ...", setzt er an, aber ich schüttle nur den Kopf bevor er auch nur ein weiteres Wort sagen kann.

"Ich will nicht darüber reden, Alex. Bring mich einfach nur nach Hause, OK?", Meine Stimme zittert und ich fühle mich als würde ich jeden Moment in ein Tausend winzige Stücke brechen.

"Jen, Mr. Sheehan hat tausend Mal in der Schule eine Durchsage gemacht, dass du sofort in sein Büro kommen sollst.", erwidert er mitleidig und bei seinen Worten dreht es mir den Magen um.

"Das kann sicher bis morgen warten-"

"Er droht dich aus der Schule zu werfen, wenn du nicht heute noch bei ihm auftauchst."

Ich schlucke schwer.

"Fahr mich in die Schule.", weise ich ihn nach einer kurzen Stille an und er nickt kurz.

Ich sehe aus dem Fenster und starre dem immer kleiner werdende Baum auf der Wiese nach.


"Worauf wartest du, Klein Jenny? Da drüben ist die Bibliothek - oder wollt ihr der Jungfrau noch Tschüss sagen?"

Ich drehe den Kopf ein wenig und versuche die vielen in meinem Kopf nachhallenden Stimmen zu verdrängen. Vergebens.


"Sie hat mir durch eine schwere Phase meines Lebens geholfen. Die schwerste."

Vor meinem geistigen Auge erscheint Alex' Gesicht. Seine ozeanblauen, wachsamen Augen fixieren mich.

"Willst du sicher nicht darüber reden?", fragt der echte Alex der Gegenwart plötzlich neben mir und ich schrecke aus meinen Erinnerungen hoch.

Ich rutsche unruhig auf dem Beifahrersitz herum und kaue fieberhaft auf meiner Unterlippe.

"Du musst nicht, aber ich dachte ... also wenn doch, nun ... ich bin ein guter Zuhörer", sagt Alex nervös und sieht mich kurz von der Seite aus an.

"I-Ich weiß nicht.", murmle ich und sehe auf meine Knie, die plötzlich furchtbar interessant scheinen.

"Du musst natürlich nicht. Ich will nur, dass du weißt, dass du jeder Zeit zu mir kommen kannst, wenn etwas passiert, OK? Zu jeder Zeit.", bietet Alex mit Nachdruck an und mir huscht unweigerlich ein kleines Lächeln auf die Lippen.

Genau das ist Alex. Lieb und hilfsbereit - nicht fordernd, schattenseitig und aufbrausend wie Nate - Alex scheint einfach der perfekte Freund zu sein, oder?

Ich starre weiter aus dem Fenster, ohne jedoch die am Fenster vorbeiziehende Landschaft wirklich wahrzunehmen. Unweigerlich muss ich an Nate denken, an seine leuchtend grünen Augen, die merkwürdigerweise nur mir so bemerkenswert und anziehend erscheinen, an seinen unverwechselbaren Duft, der wie eine Droge für mich ist und mich jedes mal in eine Trance versetzt, und schließlich seine tiefe, raue Stimme, bei der mir, nur bei der Erinnerung an sie, ein angenehmer Schauder über den Rücken läuft.

Mit einem schmerzhaften Stich in meine Magengrube, erinnere ich mich selbst daran, dass Nate mit großer Wahrscheinlichkeit nicht dasselbe für mich empfindet - Aber was fühle ich überhaupt? Seit wann bin ich eines der naiven Mädchen, das Stunden lang nur an einen Jungen denkt, obwohl es diese Zeit viel besser in Lernen investieren könnte?

Was ist mit mir passiert?

"Wir sind da.", sagt plötzlich eine Stimme neben mir und ich sehe verwirrt auf. Aus dem Fenster erspähe ich das kalte Schulgebäude und schlucke bei dessen Anblick.

"Danke" ist es, was ich gerade sagen will, aber ohne, dass ich ich es hätte verhindern können, erfährt ein leises Piepsen meinem Mund:

"Kommst du noch mit?"

Er sieht mich erstaunt an, dann wird sein Blick weich und ein zartes Lächeln liegt auf seinem Mund.

"Natürlich.", flüstert er vorsichtig und ich nicke erleichtert.

Wie ich so neben dem großen und unbestreitbar gut aussehenden Jungen durch die Gänge der Schule gehe, wird mir eins auf einmal klar: Alex ist nicht er. Ich habe nicht das Gefühl, mein Herz würde die ganze Zeit über stehen bleiben, auch wenn ich nicht einmal einen Meter von ihm entfernt bin. Ich habe nicht das Gefühl am ertrinken zu sein, weil ich weiß, nein weil ich es nur zu deutlich spüre, dass er nicht Nate ist.

"Viel Glück. Du schaffst das. Ich warte hier draußen auf dich.", sagt Alex als wir vor der großen, glanzvoll polierten Mahagoni-Türe mit dem goldenen Schild, auf das in geschwungenen Lettern "Mr. Wolfrick A. Sheehan - Schulleiter" steht, Halt machen.

"Danke.", murmle ich und atme tief ein und aus. Dann sehe ich erneut zu Alex.

Er beugt sich zu mir herunter und drückt mich sanft an seine Brust als wäre ich so zerbrechlich wie Porzellan, dass er Angst hat, er könnte mir wehtun. Der Gedanke treibt mir ein Schmunzeln ins Gesicht.

"Ich warte auf dich, Jen.", murmelt er gegen mein Ohr und merkwürdigerweise habe ich das Gefühl, er meint damit nicht die Zeit, die ich im Büro von Mr. Sheehan verbringen werde.

Abermals werde ich unweigerlich daran erinnert, dass in der Umarmung nicht dieses Gefühl, dass unsere elektrisch geladenen Körper Funken schlagen und ich förmlich die Spannung zwischen uns knistern hören kann, liegt. Ich fühle mich zu ihm nicht in der Weise hingezogen wie zu Nate, fühle mich nicht zu ihm hingezogen wie bei einem Magneten der Minus- den Plus-Pol anzieht, habe nicht das Gefühl jegliche Kontrolle über mich, über meinen gesamten Körper verloren zu haben.

Und obwohl ich nicht das Gefühl habe, zu verbluten, innerlich zu explodieren, keine Luft mehr zu bekommen, ist das hier schön. So Einfach. So Problemlos. Ich fühle mich umsorgt und beschützt in einem Kokon aus seinem angenehm süßlichen Duft und seiner ruhigen Stimme.

Ich löse mich von ihm und trete dann einen Schritt auf die Tür zu. Ich werfe einen kurzen Blick über meine Schulter um mich zu vergewissern, dass Alex nicht wieder verschwunden ist, und klopfe dann mit zitternden Handknöcheln zwei Mal gegen das glatt glänzende, rötlich braune Holz.

Ein dumpfes "Herein" ertönt und ich hole tief Luft bevor ich die Klinke herunterdrücke und eintrete.

Das Büro ist geräumig und wirkt durch die hohen Decken sogar noch größer und eindrucksvoller. Ein ebenfalls aus Mahagoni gemachter, auf Hochglanz polierter Schreibtisch steht an der Stirnseite des Raums auf dem mehrere aufgeschlagene Ordner und ein großer Computer sind. Davor stehen zwei gemütlich aussehende Chintz-Sessel, die ganz und gar nicht zu der eleganten Innenausstattung des Büros und der restlichen Schule passen. Auf der anderen Seite des Büros steht eine weiße Leinwand mit einem Stuhl davor und einer aufgestellten Kamera etwa einen Meter von ihr entfernt.

"Hier werden immer die Aufnahmen für das Jahrbuch und Mr. Sheehan's jährliche Videobotschaft über die Bekanntgabe des Schülersprechers aufgenommen.", erinnere ich mich und sehe es fast vor mir wie ich in mit meiner Mutter vor drei Jahren zum ersten Mal hier war und Mr. Sheehan gefragt habe, für was die Leinwand nütze.

Im Gegensatz zu vielen anderen Schulen, wird in der Harvard-Westlake School das Schülersprecherpaar erst etwa gegen Ende des Jahres festgelegt, sodass sie dann vor allem für das darauf folgende Schuljahr verantwortlich sind. Auch eine Besonderheit an dieser Schule ist, dass die Schülersprecher nicht von den Schülern, sondern von den Lehrern und dem Vorsitzenden der Harvard University ausgewählt werden. Da Schülersprecher nur die mit den besten Noten und dem besten Benehmen werden und bis jetzt alle Schülersprecherpaare in der Harvard Universität aufgenommen wurden, gilt es hier wie das beste Empfehlungsschreiben überhaupt.

Ich zittere am ganzen Körper bei dem Gedanken, dass ich mir jetzt die einzige Chance endgültig verspielt habe, Schülersprecherin zu werden, da man erst ab den Junior Year, also dem dritten Jahr der HighSchool, in dem ich bin, auserkoren werden kann.

"Setzt dich doch bitte, Jennifer.", murmelt der alte, rotbärtige Mann hinter dem Schreibtisch gedankenverloren und blättert eine Seite seiner Zeitung um.

Schweigend tue ich wie mir geheißen, verschränke die Finger ineinander und warte nervös darauf, dass der Mann mir gegenüber das Wort ergreift. Mr. Sheehan's Gesicht ist verhutzelt, trägt alle Spuren des Alters und doch lässt ihn seine gelassene Ausstrahlung, seine absolute Ruhe, wie ich sie bei niemand anderen so erlebt oder gespürt habe, ihn nicht mehr wie ein alter, sonder ein weiser Mann erscheinen.

"So.", sagt er schließlich nach einiger Zeit und mustert mich, "Es ist ungewohnt dich nicht unter den üblichen Umständen hier her gebeten zu haben."

Ich nicke und denke an die Male als mir Mr. Sheehan mir stolz die Urkunden der besten Schülerin der einzelnen vergangenen Jahre seit ich als Freshman an die Harvard-Westlake gekommen bin, überreicht hat.

Jetzt liegt in seinem Blick keinerlei Stolz mehr, nur Enttäuschung und Müdigkeit.

"Ich weiß, Sir.", gebe ich kleinlaut zurück und er seufzt leise.

Seine hellblauen, klaren Augen sehen mich abschätzend an, wie sie es schon immer getan haben, nur liegt heute ein anderer Ausdruck darin, den ich nicht zuordnen kann.

"Die letzten Jahre warst du die Musterschülerin der Schule, Jennifer und hast dir nie etwas zu Schuleden kommen lassen. Du warst im Prinzip seit deinem Freshman Jahr bereits eine klare Kandidatin für den Posten der Schülersprecherin. Und jetzt?", er sieht mich immer noch durchdringend an und ich würde am Liebsten in Tränen ausbrechen, wenn die Situation nicht so heikel wäre.

Mr. Sheehan seufzt erneut und sieht einen dicken Stapel Unterlagen aus seinem Ordner hervor und beginnt zu lesen:

"Vermehrte Unpünktlichkeit, drei Wochen Nachsitzen, ein zusätzliches Referat und heute einen fünf-seitigen Aufsatz", Er sieht auf und ich senke rasch meinen Kopf, da ich spüre wie mir Tränen in die Augen steigen.

"Atmen, Jenny. Atmen.", flüstert meine innere Stimme und ich atme einige Male tief ein und aus.

"Es tut mir wirklich Leid, das zu sagen, Jennifer, aber was auch immer in deinem Privatleben vor sich geht, bekomm es unter Kontrolle. Heute kann ich noch ein Augen zumachen.", sagt er und ich nicke kurz, "Bei einem weiteren Fehltritt aber, wirst du nicht nur einen Verweis erhalten, sondern auch mit großer Wahrscheinlichkeit meinen Glauben an dich und damit die Möglichkeit auf den Posten der Schülersprecherin verloren haben."

Ich blinzle schnell um meine nahendenTränen aus den Augen zu verbannen und nicke dann wieder stumm.

"Es tut mir Leid, Sir.", krächze ich und sehe aus dem Augenwinkel wie er ebenfalls kurz nickt.

"Ich möchte, dass du nach unserem Gespräch nach Hause gehst, über meine Worte noch einmal nachdenkst und dann morgen mit einer neuen Einstellung und pünktlich im Unterricht erscheinst. Aber bevor du gehen kannst, will ich nur noch Eines wissen, Jennifer.", sagt er ruhig und ich sehe auf, da ich es nicht mehr für gefährlich halte, jeden Moment in Tränen auszubrechen, "Was ist mit dir passiert?"

Ich blinzle verwirrt.

Er. Er ist mir passiert.

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So ich hoffe, es hat euch gefallen!♥︎ 

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x Eliana




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