KAPITEL EINS
›Liebste Aria,
ich habe das Gefühl für Zeit verloren. Meine einst so zahlreichen Tränen sind versiegt und ich habe keine Möglichkeit, sie erneut heraufzubeschwören. Meine Trauer ist trocken. Ich würde gerne versuchen, meine Gefühle in Marcus Aurelius' Wein zu ertränken, würde versuchen, meine Sinne zu betäuben und meine Gedanken von deinem Verlust abzulenken. Aber ich kann nicht. Kann nicht anders, als daran zu denken, dass mit jedem Tag, an dem ich dein schönes Gesicht nicht sehe, deine zarte Stimme nicht höre und dein ganz eigenes Aroma rieche, ein Stück mehr von jeder Erinnerung an dich verschwindet.
Das Gefühl ist schrecklich, als würde man dich mir erneut entreißen.
Ich kann nicht mehr, halte das erdrückende Gefühl nicht mehr aus, das mir meine Schuld zuschreibt. Du würdest noch leben, Aria, wenn wir einige Entscheidungen anders getroffen hätten und unsere Liebe nur halb so unzertrennlich gewesen wäre, wie sie war...
Ich habe dich verloren. Alles an dir. Und mir dir habe ich mich verloren. Meine Mutter hat einmal gesagt, dass es Trauerphasen gibt, erinnerst du dich? Nachdem mein Vater mich ebenso verlassen hat, wie du es nun getan hast, bin ich in tiefes Loch gefallen. Nur du hast mich dort rausholen können, und es war die schlimmste Erfahrung, die ich je machen musste. Dein Tod... dein Tod ist auch ein Loch. Tief genug, dass ich durch die Welt fallen müsste, doch ich bin bloß durch mein eigenes Leben gefallen. Ich glaube, meine Mutter lag falsch. Trauer ist keine Phase. Trauer ist kein Zustand. Trauer ist ewig und wird für die Dauer meines Lebens ein Bestandteil meines Geistes sein.
Es fühlt sich unwirklich an, dass ich dich bald wiedersehen werde... Sie sagen, dass morgen mein letztes Stündlein geschlagen hat... Aber wenn diese letzte Stunde die erste Stunde ist, in der ich wieder in deinen Armen liegen kann, ist mir der Tod mehr als willkommen. Ich war nie gläubig, war nie in der Lage, Sympathie für die Leute aufzubringen, die fanatisch ihr Leben nach einer Sache ausrichten, nach ihrer Religion.
Heute spendet mir der Gedanke an eine Zukunft nach dem Tod Trost. Hoffnung. Hoffnung ist verhängnisvoll, weißt du... Ich würde dich so gerne wiedersehen, würde so viel dafür geben, und ich klammere mich an jedes Körnchen Hoffnung, das ich finden kann. Irgendwann sollte jede Hoffnung zu spät sein, oder? Doch warum nimmt das Gefühl zu, wenn einem bewusst wird, dass dazu keine Möglichkeit existiert, die Zeit zurückzudrehen?
Ich glaube nicht an Engel, Aria, aber du war ein Engel, als du noch gelebt hast... Du warst so rein und schön. Doch du wurdest heruntergezogen vom Leben, dir waren die Flügel genommen durch unsere Armut... Heute fliegst du sicher mit deinen eigenen Flügeln über Wolken und Paläste im Himmelsreich.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, seitdem ich dich verloren habe. Tage? Wochen? Monate? Jede einzelne Sekunde ohne dich ist eine Sekunde zu viel.
Ich liebe dich, Aria, mit jeder Faser meines Körpers und jedem einzelnen Gedanken.
Auf bald,
Valerian‹
Der Wärter riss den Brief aus meiner Hand, kaum hatte mein Name auf dem Papier gestanden. Grobschlächtig öffnete er das zusammengefaltete Blatt und überflog die Worte.
»Sie fliegt mit ihren eigenen Flügeln?«, fragte er belustigt und sah auf mich hinab.
»Du hast eine blühende Fantasie, Bursche. Aber wenn du sie wirklich so geliebt hast, warum ist sie dann jetzt tot? Warum hast du sie getötet, huh?« Er lachte und zerriss das Blatt vor meinen Augen. Ich fühlte, wie mein Herz auseinandergerissen wurde.
»Ich habe sie nicht getötet ...«, wisperte ich schließlich und sah ihn standhaft an. Meine Augen brannten, als würden sie weinen wollen.
»Aber das bedeutet nicht, dass ich nicht schuld an ihrem Tod bin.«
»Wie auch immer. Morgen um acht bist du genauso Geschichte wie deine Ausreden.«
Der Mann verschwand im unendlichen Dunkel des Gefängnisses. Oder war es das Dunkel meines Herzens?
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