Die Elvarion der letzten Generation

Ruhig und betont gelassen schlenderte Cassaras an der Elbe entlang, durch die Stadt Hamburg. Auch wenn er wegen seiner auffälligen schwarzen Kleidung und seine Waffenausrüstung mehrfach von Landgängern in der vollen Innenstadt begafft wurde, schaffte er es doch in und wieder in den Schatten zu verschwinden, um unterzutauchen.

Er spazierte an Restaurants und Kneipen vorbei, hörte den verschiedenen Sprachen zu. Mittlerweile konnte er flüssig Deutsch sprechen und hatte gute Grundkenntnisse in anderen Sprachen. Dadurch konnte er einiges verstehen.
Manche Dinge hielt er jedoch für zu privat, weshalb er sich entschied wegzuhören.

Am Straßenrand versuchten einige Musiker ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Cassaras verzog den Mund. Nicht nur wegen seiner schwierigen Vergangenheit, sondern auch, weil er wusste wie es war, knapp bei Kasse zu sein.
Das war auch bei ihm keine Seltenheit, eher Dauerzustand.

Eigentlich sollte er genug haben, würde man meinen. Immerhin arbeitete er für einen reichen Mann. Einen sehr reichen.

Doktor Aquilius Orion, der das Volk der Meermenschen vor elf Jahren mit einem Virus nahezu komplett ausgelöscht hatte. Als Mischling konnte er sich mit Rofus vor der Krankheit schützen und war auch so vor dem sicheren Tod bewahrt.
Eigentlich war er früher ein ausgezeichneter Roix gewesen und wollte auch den Landgängern mit seiner Praxis zu Diensten sein.

Sein Geld, von dem Cassaras regelmäßig einen fürstlichen Anteil erhielt, verdiente er nicht mit seiner Arbeit als Arzt oder mit seiner Forschung.
Er organisierte Gretzerteams, die Giftmüll, Schadstoffe, radioaktiven Bauschutt und sonstigen Unrat im Meer abluden, und damit maßgeblich zur Zerstörung der Ozeane beitrugen.
Für Orion selbst zählte nur der Profit.

Cassaras und er waren definitiv nicht die besten Geschäftspartner. Sie hatten beide Geheimnisse und spielten nie mit offenen Karten.

Doch hielten sie sich an den Deal, den sie vor all der Zeit eingegangen waren.

Mithilfe von Doktor Orion würde Cassaras nach der Elvarion der letzten Generation suchen, der seine Mutter auch den Silberumhang vermacht hatte, obwohl er rechtmäßig ihm zustand und den er brauchte, wenn er den Thron der Nixen besteigen und ihnen den Respekt, den sie ihm als Nachfolger von Königin Haruko verweigert hatten, abzwingen wollte.

Nachdem er fündig geworden wäre, bekäme Cassaras sein Erbe und der Doktor das Mädchen, das er unbedingt auf seine Seite ziehen wollte.

In den letzten Jahren war Cassaras immer wieder nach Island gereist, um seinen Handel mit Orion zu bestärken. Er erzählte von brandheißen Spuren, die er verfolgte und die ihn am Ende ganz sicher zur Elvarion führen würden.

Dabei hatte Cassaras sie schon längst gefunden. Sie lebte bei einer Pflegemutter in Hamburg. Doch der Silberumhang war noch nicht da und wenn Cassaras sie auslieferte, würde sie ihn wohl auch nicht bekommen.

Also hielt er es geheim und tat weiterhin so, als würde er intensiv suchen und nahm die finanzielle Unterstützung gerne entgegen. Schließlich musste er Alea rund um die Uhr beschatten.
Auch wenn sie es nicht merkte, dass sie jemanden hatte, der dafür sorgte, dass sie alt genug werden konnte. Mal musste Cassaras sie vom Eis holen, wo sie beinahe einbrach oder von der Straße schubsen, damit sie nicht von einem Auto angefahren wurde.

Das Geld ging auch mehrmals für Regenschirme, Thermoskannen oder Lutscher (für Alea im jüngeren Alter) drauf. Oft vergaß Aleas Pflegemutter einen Schirm mitzunehmen oder das Wasser war zu kalt zum Trinken.
Dann musste Cassaras dafür sorgen, dass die benötigten Dinge vorhanden waren. Denn Alea konnte bei Kontakt mit kaltem Wasser sterben.

Cassaras hatte überhaupt kein unbehagliches Gefühl, dass er seinem Handelspartner die Elvarion vorenthielt. Vor kurzem hatte er herausgefunden, dass dieser eben solch ein Doppelspiel führte. Wann immer er in der Villa Konungur zu Besuch war und dort auch übernachtete, war eine bestimmte Tür verschlossen.

Als er das erste Mal in das Zimmer gelangte, hätte er nicht überraschter sein können. Drinnen befand sich ein Mädchen, dass der Elvarion wie aus dem Gesicht geschnitten war. Mit Ausnahme von den deutlich kürzeren, kinnlangen Haaren und den pinken Strähnen.

Mittlerweile wusste er, dass sie, Anthea, auch Thea genannt, gehörlos war, weswegen er angefangen hatte die deutsche Gebärdensprache zu lernen. Ab und zu spielten sie Schach und er brachte ihr Bücher. Sie hatte eine besondere Leidenschaft für Sagen und Mythen.

Sie war als Ziehtochter bei Orion aufgewachsen und für Cassaras war schnell klar: Orion musste sie für die Elvarion halten.

Offenbar waren die beiden eineiige Zwillinge, nur wussten sie nichts voneinander. Allerdings ahnte Orion wohl genauso wenig, dass es eine zweite Kandidatin für die Rolle der Elvarion gab.

Unterdessen hatte Cassaras das Viertel erreicht, in dem Alea und ihre Pflegemutter Marianne in einem Hochhaus lebten.

Da nahm er aus den Augenwinkeln einen weißblonden Haarschopf wahr. Schnell drehte er sich um. Doch da war nichts.

Er lief ein paar Schritte weiter. Jemand versuchte ihm unauffällig zu folgen. ‚Schattfa, fluchte Cassaras. Gerade stand er vor der Haustür, aus der Alea und Marianne traten.

Der Nixenprinz bemerkte den ungläubigen Blick seines Verfolgers und erkannte ihn sofort.
Es war Jinx, Orions Mann, dessen rechte Hand und der zweite Ziehvater von Thea.

Wahrscheinlich hatte Orion ihm den Auftrag gegeben, den Prinzen zu beschatten.
Nun sah Cassaras nur noch einen Ausweg.
Rasch holte er sein Handy hervor und wählte Orions Nummer.

„Ja?“, fragte die Stimme an der anderen Leitung.
„Ich habe die Elvarion gefunden. Sie lebt in Hamburg.“
„Wirklich?“, Orion klang sehr erstaunt. „Nun, ich muss sagen, ich hätte nicht erwartet, dass Sie sie finden würden. Und Sie sind sich auch wirklich sicher, dass sie es ist?“, hakte er nach.

„Natürlich“, bestätigte der Prinz schnell. „Ein Irrtum ist ausgeschlossen. Ich werde sie auch gleich zur Rede stellen, ich will den Umhang!“

„Nun, das ist gut. Wie es der Zufall will befindet sich Jinx momentan ebenfalls in Hamburg.“

Cassaras musste ein hartes Lachen unterdrücken. „ Aber Sie sollten nicht mit ihr reden. Sie sind nun ja, vielleicht etwas zu grob und nach einem Gespräch mit Ihnen, ist sie bestimmt sehr viel weniger vertrauensselig. Außerdem besitzt sie den Umhang vielleicht noch gar nicht. Bringen Sie das Mädchen mit Jinx nach Island!“, ordnete der Doktor an und beendete das Gespräch.

Der Nixenprinz stöhnte frustriert. Jetzt hatte er das Mädchen verraten und musste sie ausliefern.
Und zu allem Überfluss zeigte sich auch die Vision von seinem Rilling, wegen der er sich erst mit dem Doktor zusammengetan hatte nicht mehr. In dieser hatte Alea Orion den Silberumhang stolz präsentiert.

Zu seinem Glück traf Alea wenige Tage später auf die Alpha Cru. Marianne erlitt einen Herzinfarkt und wurde ins Krankenhaus eingeliefert.

Von da an begleitete Cassaras die Crew unauffällig auf ihrer Seereise. Sein Rilling war wie ein magischer Kompass und zeigte ihm stets den Weg zum Schiff.
Der Doktor war sehr erfreut zu hören, dass Alea nun freiwillig zu ihm nach Island segeln würde. So wäre eine Entführung gar nicht erst von Nöten.

Die Insel rückte nun immer näher und Cassaras' Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Er hoffte, dass Alea den Umhang vor ihrem Treffen mit Doktor Orion erhielt, der, wie er nun wusste, dabei überhaupt keine Rolle spielen würde.






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