Zuhause
Zwanzig Minuten später erreichten sie den kleinen Vorort der ehemaligen Römerstadt, in welchem die Crucis geankert war. Alea hatte während der restlichen Fahrt nachdenklich aus dem Fenster gestarrt und vor sich hin geträumt. Lennox war in der zwischenzeit in ihrer Meerkinderchatgruppe aktiv gewesen und hatte alle auf den neuesten Stand gebracht. Als sie nun aus dem Auto steigen, fühlten Aleas Glieder sich eingerostet an und sie streckte sich erst einmal. Die Fahrt war lang gewesen und der Kofferraum war viel zu eng für zwei Personen. Aufseufzend schloss sie die Augen, ließ sich die warme Nachmittagssonne auf ihr Gesicht scheinen und genoss den kurzen Augenblick der Ruhe. Und schon war der Augenblick vorüber, denn Sammy sprang aufgeregt neben sie.
„In vierundzwanzig Stunden werden wir in die Geschichte des Umweltschutzes eingehen, Schneewittchen", erklärte er ihr in geheimnisvollem Flüsterton.
Alea verzog das Gesicht. Zwar konnte sie Sammys Aufregung und Freude verstehen und wusste, wie gut es war, dass sie endlich aktiver in Sachen Umweltschutz wurden. Dennoch bereitete ihr der morgige Auftritt noch immer Sorgen. Was, wenn sie nicht gut genug war? Oder den Text vergaß? Das wäre sowas von peinlich! Sammy schien ihre Anspannung zu bemerken, denn er stellte sich breitbeinig und mit einem Oberlehrerhaften Gesichtsausdruck vor sie.
„So sieht ein künftiger Superstar und obendrein noch die Elvarion der letzten Generation aber nicht aus", stellte er fest.
„Du bist voll verkrampft!"
Alea seufzte nur. Sammy hatte recht. Schon bei ihrem letzten Straßenbandauftritt hatte sie sich geschworen, keine Angst mehr vor künftigen Auftritten zu haben. Aber ein Konzert war nun einmal etwas anderes als die Gassen einer Stadt...
Da drehte Sammy sich um, reckte die Faust in die Höhe und stieß einen schrillen Schrei aus, so schrill, dass Alea sich die Ohren zu halten musste. Sammy legte den Kopf in den Nacken und sah sie mit schrägem Gesichtsaudruck an. „Jetzt du", wies er sie sogleich an.
Alea lachte verwundert auf.
„Was, hier? Niemals!"
Aber Sammy nickte schon.
„Doch, doch. Ein Schrei am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen", belehrte er sie mit erhobenem Zeigefinger und Alea lachte erneut.
Da packte der Bandenjüngste ihr Handgelenk und zog sie neben sich.
„Komm, ich zeig' dir, wie das geht."
Diesmal hielt er beide Fäuste in die Höhe, holte tief Luft und schrie erneut aus Leibeskraft.
Dann sah er Alea auffordernd an. Doch bevor diese auch nur etwas derartiges tun konnte, trat plötzlich Siska mit schmerzverzerrtem Gesichtsausdruck neben sie.
„Vielleicht übst du deinen Urschrei nächstes Mal zwanzig Kilometer entfernt von mir", schlug sie vor und lächelte schief.
Erschrocken schlug Sammy sich die Hand vor den Mund. „Sista Siska, dich und dein Supergehör hab ich vor lauter Beststimmung ganz vergessen!", rief er und rang entschuldigend die Hände.
Siska öffnete den Mund um etwas zu sagen, aber da schlang Sammy bereits beide Arme um sie und drückte sie fest an sich. Die Darkonerin schloss den Mund wieder und schien völlig überrumpelt von Sammys Aktion. Da ertönte die genervte Stimme von Tess hinter ihnen.
„Willst du sie erdrücken, Draco? Oder was hast du vor?"
Alea drehte sich um. Tess stand am geöffneten Kofferraum
des Autos und zog die Rucksäcke daraus hervor. Schnell lief
Alea zu ihr und nahm sie ihr ab.
„Merci", murmelte Tess und schlug die Klappe mit einem lauten Knall zu.
Siska hatte es inzwischen geschafft, von Sammy loszukommen und nun kam sie rasch in ihre Richtung geeilt um wohl nicht noch mehr von Sammys Kuschelattacken abzubekommen. Tess drückte ihr mit entschuldigender Miene den Autoschlüssel in die Hand, und die Darkonerin ließ den Motort des Alpha-Mobils an. Sie wollte einen kostenlosen Parkplatz in der Nähe des Hafens suchen, während sich die übrigen Crumitglieder auf den Weg zur Crucis machen würden.
Sobald alle Rucksäcke ausgeladen waren, fuhr Siska los. Gedankenverloren sah Alea dem blauen Kombi nach. Sie hatte noch immer ein schlechtes Gewissen wegen des Verbrennungsmotors. Egal, wie wichtig es war, dass sie nach Rom oder Venedig kamen, es fühlte sich einfach falsch an mit solch einem Auto durch die Gegend zu fahren.
„Alea, kommst du? Die Crucis ist in die Richtung!", riss Ben sie in diesem Moment aus ihren Gedanken.
Rasch drehte Alea sich um, verstaute den Gedanken an das Alpha-Mobil in der hintersten Ecke ihres Gedächtnisses und lief ihren Freunden nach, dem tiefblauen Meer entgegen.
Während sie gingen, setzte Ben sich an die Spitze ihrer kleinen Truppe. Er hatte vermutlich wieder einmal den gesamten Stadtplan studiert und wusste am besten, wie sie auf schnellstem Wege nach Hause kommen könnten. Bei dem Gedanken an die Crucis bekam Alea großes Heimweh. Sie sehnte sich nach dem uralten Schiff mit den ungefähr einhundert Mal geflickten Segeln und den knarzenden Bodenplanken und konnte es kaum erwarten, wieder am Bug zu stehen und auf die bunten Wellen zu schauen. Da führte Ben sie in einem weiten Bogen um eine Hausecke herum, und Alea stieg der Duft von Pizza in die Nase. Augenblicklich knurrte ihr Magen. Sie hatte mehrere Stunden nichts gegessen, was sich nun bemerkbar machte. Aber Ben lief schon weiter und sie machte, dass sie hinterherkam. Vielleicht gab es auf der Crucis ja noch etwas Brot und Gemüse...
Kaum hatte sie das gedacht, begann Sammy neben ihr laut zu schreien und sie zuckte zusammmen.
„Da ist sie! Wir sind da!", brüllte er immer wieder und stürmte los.
Alea hob den Kopf. Dort, nur wenige Meter entfernt, trieb die Crucis auf dem tiefblauen Meer, mit stolz gehissten Segeln. Der Anblick des alten, heruntergekommen aussehenden Schiffes, versetzte Alea augenblicklich in eine Euphorische Stimmung und sie ließ ihren knurrenden Magen links liegen. Jauchzend breitete sie die Arme aus, rannte Sammy hinterher die Gangway hinauf und sprang schließlich katzengleich auf die knarzenden Planken. Sammy vollführte bereits einen seiner verrückten Freudentänze, und Alea machte einfach mit. Glücklich sprang sie mit ihm auf und ab, drehte sich im Kreis, wedelte mit den Armen und ließ sich schließlich Rücklings auf den Boden fallen. Lachend rollte sie sich quer über Deck und vergaß für einen Moment all ihre Sorgen. Hier auf der Crucis, ihrem Zuhause, konnte sie einfach nur Alea Aquarius sein, Tochter der Nelani und des Keblarr, und nicht die verantwortungsvolle Elvarion der letzten Generation. Schwer atmend stoppte sie schließlich ihre Rollpartie und blieb auf dem Rücken mit ausgestreckten Armen und Beinen liegen. Über ihr zogen kleine Schäfchenwolken über den abendrötlichen Himmel. Sammy lag neben ihr, die Glieder auf seltsamste Art und Weise verrenkt, und starrte ebenfalls nach oben.
„Wir sind Zuhause", schnaufte er.
Schweigend genossen sie die Schönheit des Augenblicks.
Ben, Tess und Lennox gingen an ihnen vorbei, sagten aber nichts und schienen sie nicht stören zu wollen. Da deutete Sammy nach oben.
„Sieh mal, die Wolke da sieht aus wie eine Robbe! Nein, sie sieht aus wie eine Wolkenrobbe! Wie die Talassiopa!", rief er und erinnerte sich scheinbar an seinen Vorschlag, den er der Talassiopa im Herz des Ozeans unterbreitet hatte. Grinsend ließ Alea den Blick über den Himmel schweifen und versuchte, in den Wolkenformen ebenfalls Tiere zu entdecken. Aber Sammy kam ihr zuvor.
„Und das da ist ein Drache. Ganz eindeutig! Vielleicht finden wir ja auch noch den Skorpion? Oder den Stier! Nein, den Steinbock! Oder doch alle?"
Lachend drehte Alea sich auf den Bauch.
„Du bist ein echt schräger Vogel, Samuel Draco", scherzte sie.
Sammy grinste frech zurück.
„Und zwar gerne! Sehr gerne sogar! Bestgerne!", rief er, drehte sich ebenfalls und war mit einem Satz auf den Beinen.
„Und du, Schneewittchen Aquarius, du bist auch ein schräger Vogel. Vielleicht ein schräger Papagei. Oder ein schräger Paradiesvogel. Die sind genauso schön wie du.", überlegte er ernsthaft, während Alea sich auf dem Boden vor Lachen kringelte.
„Wir sind alle schräge Vögel.", stellte sie dann fest, wischte sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel und stand auf.
Grinsend straffte sie ihre Schultern, die wegen des Gewichts ihres Rucksacks bereits schmerzten, und machte sich gefolgt von Sammy auf den Weg nach unten.
Tess stand in der Küche und studierte mit hochkonzentriertem Blick die geöffneten Küchenschränke. Vor ihr stand ein großer dampfender Topf auf dem Herd. Allem Anschein nach kochte sie bereits Abendessen. Als Sammy Tess erblickte, sprang er sofort neben sie und begann mit einer Komplimenttirade, die ihm mehr als nur eine Kopfnuss einbrachte. Alea marschierte indessen zu der Mädchenkajüte, die sie sich mit Tess teilte, und ließ den Bleischweren Rucksack auf den Boden gleiten. Kurz ließ sie den Blick schweifen. Die Kajüte war wie immer ordentlich aufgeräumt, die Betten gemacht. Ein kurzer Blick in den Schrank verriet ihr jedoch, dass Tess diesen offenbar in Ruhe gelassen hatte, denn er war chaotisch wie eh und je. Leise lächelnd schloss sie die Tür wieder und lief in den Salon. Lennox saß auf seinem Schlafsofa, den Laptop auf seinem Schoß. Als Alea eintrat, blickte er auf.
„Gut, dass du kommst", begrüßte er sie lächelnd und klopfte auf einen freien Platz neben sich.
„Ich könnte deine Hilfe brauchen."
„Wobei?", fragte Alea interessiert, aber sie ahnte bereits, was Lennox meinte.
„Ich wollte Ocean's Heart produzieren, aber ich weiß nicht genau, was zu deinem Sopran am besten passt.", erklärte er und deutete auf den Bildschirm. Alea nickte.
„Wir hatten gesagt, dass du die Melodie einen halben Ton höher machst."
„Ja...", brummte Lennox gedankenverloren und tippte angestrengt auf den Buchstabentasten herum.
„Ich hätte bereits eine Version, deshalb hatte ich gehofft, dass wir sie mal kurz ausprobieren könnten...?" Fragend sah er sie an. Alea grinste.
„Klar."
„Super." Lennox lächelte sichtlich erfreut, tippte noch einmal auf die Tastatur – und fluchte laut.
„Nichts mehr da! Wie kann das sein?! Ich hab' doch extra alles gesichert! Warum ist der Song gelöscht?"
Verständnislos fuhr er sich durch sein dunkles Haar und verstrubbelte es dadurch noch mehr. Verwundert drehte Alea den Bildschirm in ihre Richtung. Keine Datei gefunden stand dort auf dem schwarzen Hintergrund des Programms.
„Das kriegen wir schon wieder hin. Wir... produzieren die Melodie einfach nochmal neu. Die Noten kennst du ja.", meinte sie dann zuversichtlich.
„Und dann wird das der bombastischste Song der gesamten bombastischen Welt!", fügte sie lachend hinzu. Lennox lachte ebenfalls.
„Du verbringst einfach zu viel Zeit mit Samuel Draco, Yavani", lächelte er und sah ihr in die Augen. Und im nächsten Moment küsste er sie.
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