Was die Zukunft bringt

Alea stand am Bug der Crucis  und blickte gedankenverloren hinab auf die schillernden Wellen des Wassers, die im strahlenden Sonnenlicht ihren Tanz vollführten. Es war noch sehr früh am Morgen, nicht einmal acht Uhr, aber Alea konnte und wollte nicht mehr schlafen. Zwar war sie letzte Nacht todmüde in ihre Koje gefallen und auf der Stelle eingeschlafen, doch die Gedanken an Orion, Jinx und den Meermenschenvirus hatten sie schnell wieder hellwach werden lassen.
Die Tasche mit den Gegenmitteln hatte wie versprochen auf der Crucis gelegen, angelehnt an den Bug an dem Alea nun stand. Nelani hatte sie sofort in Verwahrung genommen und sie alle waren unter Deck geschlurft, während Cassaras mit den Kobolden ins Meer gestiegen war. Im Salon hatten sich die Meerkinder ein gemütliches Nachtlager aus Kissen und Decken errichtet, Die Darkoner waren in die Jungenkajüte gezogen und Thea hatte sich zu Alea in die Koje gekuschelt. Wo Lennox und ihre Eltern übernachtet hatten, wusste Alea nicht. Sie hatte keinen der drei gesehen als sie in der Früh auf Zehenspitzen an Deck geschlichen war. Nur Cassaras hatte sie in der Küche entdeckt, wie er mit dem Rücken zu ihr am Fenster gestanden und aufs Meer hinausgeblickt hatte. Einen kurzen Moment hatte Alea überlegt, sich zu ihm zu gesellen, aber ihr Bauchgefühl hatte ihr gesagt, dass der Prinz lieber allein war. Also war sie zu ihrem Lieblingsort des Schiffes geschlichen, zum Bug.
Über ihrem Kopf kreischten einige Möwen, aber sonst war alles ruhig. Nicht einmal das Meer schien heute große Wellen entsenden zu wollen, nur hin und wieder schlugen plätschernd kleine Wassermengen gegen das alte Holz. Alea seufzte. Sie hatte beinahe vergessen, welche Wohltat solch kleine Momente doch waren. Genüsslich schloss sie die Augen, reckte das Gesicht der Sonne entgegen und ließ sich von dem Frieden um sie herum verwöhnen. Alles war gut geworden.
Ich hab es dir doch gesagt, Schneewittchen, hörte sie bereits Sammys Stimme in ihrem Kopf und stellte sich vor, wie er dazu munter mit dem Kopf nickte. Alea lachte vergnügt und öffnete die Augen wieder.
„Warum lachst du?“, raunte ihr eine Stimme ins Ohr. Alea lachte noch einmal und griff nach Lennox‘ Hand.
„Weil alles gut ist. Das macht mich glücklich“ raunte sie leise zurück und legte ihren Kopf seitlich an seine Schulterbeuge.
„Mich macht es auch glücklich, Yavani“, murmelte Lennox abwesend und streichelte ihr über das dunkle Haar. Aleas Haut kribbelte. Sie könnte ewig so dastehen und die Ruhe genießen, nur mit ihm allein.
„Was meinst du, passiert jetzt mit uns allen?“, fragte Lennox plötzlich. Alea zog die Brauen zusammen.
„Wie meinst du das?“
„Du weißt schon, was wird, naja, was wird aus uns? Was wird aus der Alpha Cru? Wir haben uns nie getraut, uns dieser Frage wirklich zu stellen, wir haben immer gesagt, wir verschieben es auf den Moment, da Orion besiegt ist.“ Lennox seufzte. „Und jetzt ist dieser Moment.“
Alea schluckte. Sie wusste, dass Lennox die Frage genauso sehr hasste wie sie selbst. „Ich werde nicht gehen“, flüsterte sie. „Ich werde Sammy, Ben und Tess nicht verlassen, aber genauso wenig will ich meine Eltern oder Thea gehen lassen. Wir… müssen etwas dazwischen finden.“
Lennox schwieg lange. „Weißt du, wie schnell Wale wandern?“, fragte er plötzlich.
Alea riss die Augen auf. „Nein, wieso auch? Sammy hatte übrigens schon die Idee, die Crucis von einem Tasfaren ziehen zu lassen, aber ich glaube, das sollte man keinem Tasfaren antun. Das ist nicht ihre Bestimmung.“
„Ich habe nicht vor, die Crucis von einem Wal ziehen zu lassen, falls du das meinst.“ Lennox lachte leise. „Viel eher dachte ich, dass wir parallel unterwegs sein könnten oder so.“
Alea ließ ihren Verstand Lennox‘ Idee verarbeiten, allerdings wurde sie nicht schlau daraus. „Was meinst du mit parallel?“
„Damit, Yavani, meine ich, dass wir mit den Walen wandern können, während die Crucis über uns mitfährt. Wir könnten jederzeit rauskommen oder sie mit den Tauchflaschen zu uns runter. Allerdings…“ Lennox machte eine kurze Pause, „Allerdings können wir die Wale nicht in Küstennähe schwimmen lassen, wenn sie ihre Vorräte auffüllen müssen oder wir einen Straßenauftritt haben…“
Alea hatte seine Idee trotzdem aufgeschnappt. „Wir könnten die Wale vor der Küste auf Distanz halten und warten, bis sie wiederkommen. Dann kann die Crucis vielleicht nicht mehrere Tage im Hafen liegen, aber wenn unterwegs die Vorräte knapp werden, können wir ihnen ja auch Speisen aus der Meerwelt mitbringen, oder? Ich meine, irgendetwas mussten die Meermenschen früher ja auch essen.“ Je länger Alea sprach, umso überzeugter war sie von Lennox‘ Idee. „Das einzige Problem wäre der Wind. Es müsste jeden Tag windig sein, und das ist unmöglich.“
Alea war dennoch überzeugt, dass Lennox‘ Einfall genau die Richtung war, die sie einschlagen mussten.
„Wir fragen später Nelani und Keblarr“, überlegte sie. „Sie sind ihr ganzes Leben mit Walen unterwegs gewesen, sie werden uns sicher helfen können.“
Lennox seufzte. „Mir wäre es am liebsten gewesen, wir hätten hier und jetzt gleich eine Lösung gefunden… aber ich denke auch, dass wir so nicht weiterkommen.“ Er seufzte noch einmal und zog Alea mit beiden Armen fest an sich.
„Irgendetwas wird sich finden lassen“, murmelte er.
Alea lächelte und lehnte sich in seinen Armen zurück. „Irgebdetwas wird sich finden lassen, Yavani“  wiederholte sie seine Worte. Auf Lennox‘ Gesicht erschien ein Lächeln.
„Ich liebe es, wenn du dieses Wort sagst.“
Alea lächelte zurück. „Yavani?“
Lennox nickte.
„Ich liebe auch, es zu sagen“, erwiderte Alea leise. „Weil es die Wahrheit ist. Yavani.“
Lennox‘ Lächeln wurde breiter. „Ich liebe dich“, sagte er leise. Und noch bevor Alea etwas erwidern konnte, küsste er sie. Es kam ihr vor, als wäre es eine Ewigkeit her, ihn zu küssen, als lägen Jahre dazwischen. Lennox zog sie noch näher zu sich, umfasste mit einer Hand ihre Taille, die andere legte er sanft an ihr Gesicht und Alea fühlte sich wie im Traum. Doch ihr Traum wurde jäh zerstört, als sich jemand lauthals räusperte.
Erschrocken sprang Alea von Lennox zurück und prallte mit dem Rücken schmerzhaft an die alte Reling.
„Störe ich?“ Sammys sommersprossiges Lausbubengesicht lugte hinter Lennox‘ Rücken hervor, ein freches Grinsen umspielt seinen Mund.
„Nein, Sammy du störst ganz und gar nicht“, log Alea und rieb sich die schmerzende Stelle. „Was gibt’s?“
Sammys Grinsen wurde noch eine Spur breiter. „Wir frühstücken unten schon. Cassaras meinte, dass ihr hier oben seid und ich euch holen soll. Von Knutscherei hat er aber nix gesagt.“
Sammy schüttelte gespielt tadelnd den Kopf, und Alea musste lachen. „Wir kommen schon.“
Der Neunjährige nickte ernst und malte einen Haken in die Luft.
„Mission erfüllt“, sagte er noch, drehte sich zackig um und stürmte unter Deck.
„Kommt es mir nur so vor, oder hat er heute noch bessere Laune als sonst?“ Lennox lachte. „Da ist die Lachrunde später ja ein Kinderspiel.“
Alea lachte mit ihm. „Wenn Sammy da ist, ist alles ein Kinderspiel. Auch wenn er dafür schöne Momente kaputt macht.“
Lennox grinste sie an und nahm ihre Hand, ehe sie sich gemeinsam auf den Weg nach unten machten. Schon auf der Treppe kam ihnen der Geruch von Tess‘ wundervoller Chai-Mischung entgegen, Stimmengewirr erhob sich und Geschirr klappert laut. Als sie jedoch unter Deck ankamen, staunte Alea über das Bild, das sich ihr bot: die Decken, die die Meerkinder zu ihrem Nachtlager gemacht hatten waren Im Salon zusammengeschoben, in der Mitte war ein Teller mit frisch geschnittenem Obst und Gemüse angerichtet, daneben eine geöffnete Müsli-Packung mit Schüsseln und Löffeln. Tess kam aus der Küche geschlurft und verteilte eilig die Becher mit Tee und fluchte dabei hin und wieder auf französisch. Alle hatten sich im Kreis auf die Decken gesetzt und unterhielten sich fröhlich miteinander: Ben redete mit Evelin und Isla angeregt über die Zustände auf deutschen Viehzucht-Höfen, Thea und Cassaras gebärdeten so schnell, dass Alea schon vom zusehen schwindelig wurde und Nexon erzählte Sammy von dem Kampf mit Orion, während der Bandenjüngste ihm penetrant Bens Handy unter dir Nase hielt und sich ab und an etwas Gemüse oder Obst angelte.
Nelani und Keblarr lachten lauthals über Sweeney und McDonnahall, die sich auf dem Teller um ein Stück Tomate stritten, doch als Nelani Lennox und Alea entdeckte, winkte sie sie fröhlich zu sich.
„Guten Morgen“, grüßte sie strahlend.
„Morgen“, brummte Lennox und biss krachend in ein Apfelstück. Alea ließ sich gut gelaunt neben ihre Mutter fallen.
„Ich hätte nie gedacht, dass in diesen Raum so viele Leute passen“, sagte sie laut und Nelani lachte perlig.
„Ja, auf den ersten Blick sieht er wirklich nicht so aus“, bestätigte sie. Aber dann runzelte sie die Stirn. „Alea… ich habe in der vergangenen Nacht viel nachgedacht“, begann sie plötzlich. Alea lehnte sich näher zu ihr, und Nelani fuhr fort. „Du sagtest neulich am Telefon, du wüsstest, wie man das Gegenmittel schnell an alle möglichen Stellen des Wasserkreislaufes verteilt. Wir allein können das nicht, es würde ewig dauern. Was hast du also vor?“
Alea wiegt den Kopf. Mit dieser Frage hatte sie gerechnet. Auch sie hatte viel darüber nachgedacht und ihre Idee verbessert. „Wir brauchen dir Ocean Knights“, sagte sie.
Nelani entfuhr ein überraschter laut. „Die Ocean Knights? Aber sie wissen doch gar nichts von unserer Welt!“
Alea nickte. „Eben deswegen. Die Zeitwende bedeutet nicht nur die Widerauferstehung der Meere, sondern auch die neue Freundschaft von Meer und Land. Mit ihren Schiffen kommen die Ocean Knights über die ganze Welt. Wenn wir das Gegenmittel an diese Schiffe verteilen, könnten sie es schneller zu den Stellen befördern als jeder andere. Und es wäre der erste Kontakt zu den Landgängern. Die Ocean Knights schützen die Meere. Sie wären die Letzten, die diese Bitte ausschlagen würden, allein um der Meere Willen.“
Nelani hatte es die Sprache verschlagen. „ Das ist … weißt du, wie riskant dein Vorhaben ist?“
Wieder nickte Alea. „Ja, das tue ich. Aber dieses Risiko müssen wir eingehen. Für die Zeitwende.“
Nelani schwieg einen Moment lang. Dann lächelte sie. „Da spricht die Elvarion der letzten Generation aus dir. Deine Bestimmung. „ Ihr Lächeln wurde tiefer. „Wenn du ihnen vertraust, werden wir das auch tun.“
Da wuselte Tess erneut in den Raum und drückte Lennox und Alea Becher mit dampfendem Tee in die Hand.
„Mon dieu, ich bin fertig mit den Nerven“, schnaufte sie und ließ sich zwei Plätze weiter neben Kit fallen, die ihr sachte über den Arm streichelte.
Alea lächelte ihre Freundin schuldbewusst an. Sie hatte in all dem Gewusel nicht einmal daran gedacht, ihr mit dem Tee zu helfen oder ihr wenigstens Gesellschaft zu leisten. Tess schien Aleas Gedanken zu lesen und winkte lässig ab. Dann schaute sie suchend in die Runde. „Draco!“, rief sie laut, damit Sammy sie durch das Stimmengewirr überhaupt hören konnte. Sammy, der wohl mit der Aufzeichnung für das Bandentagebuch fertig war, fand Tess‘ Blick und lehnte sich in seinem Schneidersitz ein ganzes Stück vor.
„Was ist?“, schrie er zurück.
„Deine Rede!“, erinnerte Tess ihn. „Du wolltest sie heute halten.“
Schlagartig wurde es still im Raum. Alle Köpfe drehten sich zu Sammy herum, der sich freudestrahlend auf seinem Platz aufrichtete.
„Das stimmt, Tess Taurus“, bestätigte er. „Ich habe lange an dieser Rede gefeilt und gearbeitet, die Betonung und Gestik und Mimik geübt. Aber ich will sie nicht mehr halten.“
Tess klappte der Mund auf. „Was?“
Auch Alea glaubte, sich verhört zu haben. Das war so gar nicht Sammys Art! Er hatte am vergangenen Abend so darauf gebrannt, sie zu halten…
Sammy schüttelte den Kopf. „Einem solchen Abenteuer werden keine Worte gerecht. Darum lässt man es bleiben.“
„Sammy –“, setzte Ben an, aber Sammy Schnitt ihm das Wort ab. „Ach Ben, mein Bestbruder, wir alle werden uns auf ewig an die Tage mit Orion erinnern… An die Tage mit Benjamin Libra, Samuel Draco, Tess Taurus, Lennox Scorpio, Cassaras Capricorn, Nikaela Vela, Kit Fornax, Sista Siska und Alea Aquarius.“

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