Verzweifelt

Alea erwachte von dem lauten Pfeifen des Windes, der eher wie ein Orkan um das Haus peitschte. In den letzten Tagen war es noch kälter und sogar etwas stürmisch geworden und Alea fragte sich, ob sie hier unten nicht eines Tages eher erfieren würde, als Orions Gretzer zu begleiten.

Mit den Zähnen klappernd zog sie sich die muffige Decke bis zur Nasenspitze, und sehnte sich mit einem Mal nach dem urigen Salon der Crucis. Bestimmt hätte sie jetzt gemeinsam mit ihren Freunden am Tisch gesessen, Tee getrunken, Kekse gegessen und mit ihnen über Gott und die Welt erzählt. Vielleicht wären sogar Nelani und Keblarr bei ihnen gewesen...

Der Gedanke an ihre Freunde und ihre Familie trieb Alea Tränen in die Augen.

Seit ihrem Gespräch mit Orion hatte sie praktisch Tag und Nacht durchgeweint, bis sie schließlich so erschöpft war, dass nicht einmal die beißende Kälte des Kellers oder ihre Trauer sie davon abhalten konnten, einzuschlafen.

Sie schniefte traurig.

Was ihre Freunde wohl gerade taten? Saßen sie, genau wie Alea selbst, auf dem Boden und dachten an ihr Zuhause?

Alea würde es nie erfahren. Sie wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis Orion sie zu sich rufen und sie zwingen würde, ihm ihre Entscheidung mitzuteilen. Eine Entscheidung über Leben und Tod.

Alea presste die Augenlider zusammen und wünschte sich wie so oft in diesen Tagen, einfach in ihrer warmen Koje aufzuwachen, und alles besser machen zu können.

Und Lennox.

Was war überhaupt mit Lennox? Würde sie ihn jemals wiedersehen? Würde sie jemals wieder in seine Augen blicken oder seine warme Stimme hören die ihr, wann immer sie es benötigte, Hoffnung und Mut machte?

Leise schluchzte sie auf, und presste sich die Hand vor den Mund.

„Es muss einen Ausweg geben", flüsterte sie zu sich selbst, als wollte sie damit ihren Kampfgeist und Optimismus heraufbeschwören. Aber sowohl das eine als auch das andere blieben aus.

Erschöpft lehnte sie ihren Kopf gegen die kalte Steinwand und zwang sich, an etwas anderes zu denken. Etwas positives. Doch egal, was ihr einfiel, ihre Gedanken schweiften immer wieder zurück in die Realität.

Heiße Tränen kullerten ihr über die kältegeröteten Wangen.

Sie richtete den Blick aus ihrem kleinen Fenster. Normalerweise bildete das einfallende Sonnenlicht eine kleine, warme Stelle auf dem Boden, doch bereits Gestern hatte sich die Sonne wohl dazu entschieden, sich hinter den Wolken zu verstecken, sodass es in Aleas Kellerraum Tag und Nacht dunkel war.

Seufzend schloss Alea die Augen, und versuchte kläglich, eine Verbindung zu ihrer Zwillingsschwester herzustellen. Seit ihrer Gefangennahme hatte sich die telepathische Verbindung der Zwillinge nicht nur als Segen, sondern auch als ein gewisser Trostspender herausgestellt.

Gewiss wäre es für sie um einiges leichter, ihrer Zwillingsschwester direkt gegenüberzustehen oder sie bei sich zu haben.

Aber Alea war froh,dass wenigstens ihre Schwester in erreichbarer Nähe war. Und andersherum schien es genauso zu sein.

„Thea?"

Alea bemerkte sofort, wie ausgelaugt und deprimiert ihre Gedankenstimme klang, aber sie hatte einfach nicht genügend Energie, um daran etwas zu ändern.

Die letzten Tage in Orions neuer „Unterkunft", die von Thea und ihr inzwischen als makellose Bruchbude bezeichnet wurde, hatten ihr einiges abverlangt.

Zu Aleas Enttäuschung musste sie feststellen, dass Thea nicht auf ihre Gedankenbotschaft antwortete.

Vermutlich schlief sie oder war so tief in Gedanken versunken, dass Aleas Botschaft sie gar nicht erst erreichte. Thea hatte Alea während ihrer telepathischen Unterhaltungen erzählt, dass sie sich antrainiert hatte, während ihrer Gefangenschaften zu schlafen, um Zeit totzuschlagen.

Immerhin hatte Orion sie in ihrer Kindheit oft genug eingesperrt, sodass Thea gewisse Methoden entwickelt hatte, um die Zeit schneller zu überbrücken.

Außerdem wusste Alea, dass es Thea nicht wirklich besser erging als ihr selbst.

Zwar musste sie keine Entscheidung über Leben und Tod treffen, aber ihr musste mit ziemlicher Sicherheit klar sein, dass Cassaras inzwischen wahrscheinlich nicht mehr am Leben war.

Zwar hatten weder Alea noch sie eine Bestätigung dessen erhalten, doch war seit Orions Gespräch mit Alea so viel Zeit vergangen, dass der Prinz unmöglich noch am Leben sein konnte.

Der Gedanke an den Nixenprinzen schnürte Alea förmlich die Kehle ab.

Sie würde niemals vergessen, was er alles für sie und die Alpha Cru, insbesondere Thea, getan hatte.

Zitternd wischte Alea sich die Tränen fort.

Eigentlich war das unnötig, denn sie bemerkte, wie sofort erneut Tränen aus ihren Augen quollen.

Eigentlich grenzte es an Wunder, dass sie überhaupt noch Tränen hatte und nicht nur trocken schluchzte, so viel wie sie in letzter Zeit geweint hatte.

Ihre Entscheidung war ihr alles andere als leicht gefallen, aber es stand von Beginn an fest, dass sie sich für das Leben ihrer Freunde entschließen würde.

Ihr war durchaus bewusst, welch katastrophale Folgen das für die Umwelt und auch für das Meer haben würde, aber für Alea stand es außer Frage, zuerst ihre Freunde beschützen zu müssen.

Im Umkehrschluss hätten sie das Gleiche für Alea getan, wäre es nötig gewesen.

Zudem war Alea sich sicher, dass die andere Option wesentlich schlimmer gewesen wäre.

Denn somit hätte sie nicht nur drei ihrer absoluten Leiblingsmenschen dem sicheren Tod ausgeliefert, sondern sie wusste, dass Orion sie dennoch zwingen würde, bei seinen Gretzerverbrechen mitzuwirken.

Zu Aleas Verwunderung gab ihr der Doktor jedoch wesentlich mehr Bedenkzeit, als sie eigentlich erwartet hätte.

Seit Tagen hatte sie nichts von ihm gehört, geschweige denn hatte er seine Darkoner geschickt.

Eigentlich war es mehr als ungewöhnlich, dass Orion ihr so viel Zeit gab, denn es musste ihm von Anfang an klar gewesen sein, wie Alea sich entscheiden würde.

Warum also hatte er sie noch immer nicht zu sich rufen lassen?

Während Alea darüber nachgrübelte, ob der Doktor sie absichtlich hinhielt oder ob womöglich etwas nicht ganz nach Plan verlief, hörte sie, wie der Wind sich außerhalb des Kellers langsam legte und das unangenehme Pfeifen im inneren ihres Raumes leiser wurde. Auch der eisige Windzug, der ihr oftmals direkt in Gesicht wehte, ließ ein wenig nach und schenkte Alea einen Augenblick der Ruhe.

Doch gerade als sie bemerkte, wie ihre Augenlider langsam zufielen, hörte sie plötzlich ein leises Klopfen an der Tür.

„Alea? Bist du da drin?"

Sofort war Alea wieder hellwach. Suchend sah sie sich nach allen Seiten um, als erwartete sie, dass plötzlich jemand im Raum stand.

Hatte sie sich gerade verhört?

„Alea?", ertönte dieselbe Stimme noch einmal. Und diesmal war Alea sich sicher: diese Stimme gehörte niemand anderem als Lennox.

Wie von der Tarantel gestochen sprang sie auf und lief zur Tür.

„Lennox? Bist du das?", fragte sie weinerlich und bemerkte, wie ihr die Beine wegknicken wollten.

„Alea!"

Lennox' Stimme, die etwas gedämpft durch die dicke Tür drang, hörte sich furchtbar erleichtert an.

„Warte kurz, wir holen dich raus."

„Wir?", wiederholte Alea im Flüsterton. Lennox war nicht allein? Wer war bei ihm?

Sie hörte, wie sich etwas mehrmals klappernd im alten Schloss drehte. Dann sprang die Tür auf.

Und da stand er – verwuscheltes, dunkles Haar, azurblaue Augen und ein liebevolles Lächeln im Gesicht.

„Lennox..."

Schlagartig fiel jede mögliche Last von Alea ab, und sie fiel in die starken Arme ihres Kriegers.

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