Rom
Während sie aus dem Auto stiegen, verabschiedete Tess sich schnell noch von ihrer „Traumfrau" und vereinbarte mit ihr, sie später am Abend wieder zu kontaktieren. Siska hatte sie ein paar hundert Meter vom Stadion entfernt aus dem Auto gelassen, damit sie weniger auffielen. Eilig schloss sie den Wagen ab, prüfte noch einmal, ob auch alle Türen verschlossen waren und machte sich dann mit der Alpha Cru auf den Weg zum Stadion. Während sie gingen, sah Alea sich andächtig in der Stadt um. Obwohl es bereits früher Abend war, tummelten sich auf den Straßen noch immer große Menschenmassen. Mit gehetzten Gesichtsausdrücken liefen sie durch die Gassen und schienen keine Sekunde Zeit zu haben, um sich der gewaltigen Kulisse Roms hinzugeben. Alte Häuser ragten auf beiden Straßenseiten in die Höhe und übermittelten Alea ein Gefühl großer Erhabenheit. Alea versuchte, dieses Gefühl tief in ihrem Inneren zu verankern. Hier würde die Welt ein weiteres Mal Geschichte schreiben...
„Wahnsinn, oder?", flüsterte Sammy ihr geheimnisvoll zu. Er lief in gemütlichem Schlenderschritt neben ihr her, sah sich jedoch ebenso beeindruckt um wie sie selbst.
„In jedem Quadratzentimeter steckt Geschichte. Und wir sind mittendrin..."
Alea konnte nur nicken. Rom war faszinierend und einschüchternd zugleich, eine uralte ehemalige Römerstadt. Leider wusste sie jedoch auch nicht mehr über die Geschichte des römischen Reiches. Sie hatte sich nie sonderlich für Geschichte interessiert, denn es war ihr nicht als besonders wichtig erschienen. Aber wahrscheinlich wusste Ben einiges und konnte ihr sein Wissen weitergeben. Aber der bekam gerade von Siska die App zur Überwachung der einzelnen Flure gezeigt und hatte augenscheinlich keine Zeit. Sie würde ihn also später fragen müssen. Alea richtete den Blick nach oben. Vogelschwärme zogen über den Wolkenfreien abendrötlichen Himmel und die Sonne tauchte die Dächer der Stadt in ein geheimnisvolles, geradezu mystisches Licht und Alea fragte sich, wie wohl das Kolosseum auf sie wirken würde. Sie kannte das ehemalige Amphitheater nur von Bildern aus dem Internet, die Ben ihr einmal gezeigt hatte. Bestimmt war das Kolosseum ein Ort, den auch Marianne gern einmal gesehen hätte... Alea schluckte schwer. Der Gedanke an Marianne brachte sie häufig an den Rand der Tränen. Marianne hätte wahrscheinlich nicht gewollt, dass Alea so sehr um sie trauerte. Sie hatte immer gesagt: Genieße dein Leben und hab Spaß, selbst wenn die Sonne einmal nicht lacht. Dieses Motto rief Alea sich nun wieder in den Sinn und augenblicklich ging es ihr wieder besser. Kurz durchatmend richtete Alea den Blick nach vorn. Doch im nächsten Moment wollte sie am liebsten wieder umkehren. Keine fünfzig Meter von ihr entfernt, warf das große Stadion einen Schatten über den gesamten Platz und verdeckte dabei sogar die Sonne. Alea war so tief in Gedanken versunken gewesen, dass sie gar nicht bemerkt hatte, dass sie ihr Ziel bereits erreicht hatten! Unvermittelt blieb sie stehen. Sie musste sich erst einmal sammeln. Doch Sammy packte sie bereits am Arm und schleifte sie wild entschlossen zu einer Gruppe von Ocean Knights, auf die auch Ben zusteuerte. Der Skipper sprach einen der umstehenden Männer auf Englisch an, aber Alea verstand kein Wort. Der Mann gestikulierte wild mit den Händen, deutete mal hierhin, mal dorthin und Alea ahnte, dass er Ben gerade einen bestimmten Weg erklärte. Der nickte nur immer wieder und schien sich genau einzuprägen, was ihm erklärt wurde. Schließlich bedankte er sich bei dem Ocean Knight und winkte seine Freunde zu sich.
„Also, um in den Backstage-Bereich zu kommen, müssen wir uns bei dem heutigen Vertreter der Ocean Knights melden. Der wartet schon an einem der Hintereingänge, die für normale Zuschauer unzugänglich sind. Folgt mir einfach", erklärte er, drehte sich um und lief los. Alle folgten ihm schweigsam. Ben führte sie um das Stadion herum, und sie schlängelten sich durch die Menge der wartenden Zuschauer. Alea mied jeglichen Blickkontakt mit ihnen, und richtete den Blick auf ihre Füße. So musste sie nicht sehen, wie viele Menschen tatsächlich gekommen waren. Zwar hörte sie dem Lärm deutlich an, dass es jetzt schon tausende von Publikanten waren. Gleichzeitig erfreute sie es auch, dass sich scheinbar so viele Menschen für den Klimaschutz interessierten und denen die Umwelt am Herzen lag. Doch als sie um die Ecke bogen, waren plötzlich keine Menschenmassen mehr zu sehen. Die Seiteneingänge waren vollkommen leer. Als sie genauer hinsah, erkannte Alea jedoch, dass diese auch gar nicht für eine Öffnung vorgesehen waren, und sie lief weiter. Tatsächlich wartete an einem der hinteren Eingänge ein großer, etwa dreißigjähriger Mann mit einem blauen Ocean Knight T-shirt auf sie. Er und Ben sprachen kurz miteinander und der Mann drückte Ben etwas in die Hand, das aussah wie ein Ausweis, den man sich umhängen konnte. Sie wechselten noch einige Worte, ehe Ben sich an ihm vorbeischob und die Alpha Cru ihm folgte. Der Gang dahinter war schmal und Dunkel, lediglich die Notbeleuchtung spendete etwas Licht. Lennox ließ sich zu Alea zurückfallen und nahm sie an die Hand, ohne etwas zu sagen. Alea stolperte mehr durch den Gang, als dass sie lief und wäre einige Male sicher hingefallen, hätte Lennox sie nicht aufgefangen. Am Ende des Ganges wartete eine weitere Tür, die in ein Treppenhaus führte, das glücklicherweise normal beleuchtet war. Dennoch ließ Lennox Aleas Hand nicht los. Mit jeder Treppenstufe beschleunigte sich Aleas Herzschlag, und sie drückte unbeabsichtigt immer fester Lennox' Hand, bis dieser ihr sanft signalisierte, dass es eine Spur zu fest war. In diesem Moment hätte Alea alles dafür gegeben, wenn Sammy sie mit seiner fröhlich-optimistischen Art zum lachen gebracht hätte, aber der Bandenjüngste war seit ihrer Ankunft merkwürdig still gewesen. Selbst jetzt stieg er mit nachdenklichem Gesichtsausdruck die Treppe hinauf und schien geistig gar nicht richtig anwesend zu sein. Erst als sie eine weitere Tür öffneten und direkt im Backstage-Bereich standen, kam wieder Leben in Sammys Gesichtsausdruck. Prüfend sah er sich um. „Superstar-Atmosphäre pur.", murmelte er dann. Hinter der Bühne herrschte emsiges Treiben. Sicherheitsangestellte wuselten durcheinander, Ocean Knights-Mitglieder standen in Gruppen zusammen und hielten scheinbar eine spontane Lage-besprechung. „Ich muss noch kurz unseren Auftritt mit den Ocean Knights besprechen. Bin gleich wieder da", gab Ben bekannt, und bevor überhaupt irgendwer etwas sagen konnte war er schon verschwunden. Halb verloren standen die übrigen Crumitglieder nun da, ohne zu wissen, ob sie nach rechts oder links gehen sollten. Irgendwann verkündete Siska, dass sie nun ihr Sicherheitssystem installieren wollte und nach dem Auftritt im Treppenhaus auf sie warten würde. Sollte etwas schieflaufen, würde sie Lennox anrufen, der dafür extra die Vibrationsfunktion seines Handys aktiviert hatte. Kaum dass Siska durch die Tür verschwunden war, ließ Alea sich auf den Boden gleiten. Sie wollte versuchen, ihre umhertosenden Gedanken zu sortieren. Im Schneidersitz saß sie auf dem Boden, schloss die Augen und versuchte, die Geräuschkulisse um sie herum auszublenden. Als sie die Augen wieder öffnete, blickte sie in Sammys kreideweißes Gesicht. Alea erschrak. So kannte sie ihn gar nicht! Fragend legte sie den Kopf schief. „Alles in Ordnung?", fragte sie den Bandenjüngsten. Sammy zuckte die Schultern.
„Ich hab ein komisches Gefühl im Bauch." Seine Antwort bereitete Alea Sorgen. Im Brighton hatte Sammy ebenfalls ein seltsames Gefühl. Damals waren sie nach ihrem Auftritt von Orion geschnappt worden, der ihnen mithilfe von Lennox all ihre Erinnerungen und Alea obendrein noch ihre Meermädchenattribute genommen hatte. Sammy bemerkte Aleas besorgten Gesichtsausdruck und lächelte. „Gut-Komisch."
Erleichtert atmete Alea auf. Da kam Ben zu ihnen zurück. „Wir sind direkt als erstes dran", verkündete er ohne große Umschweife. Doch dann sah er sich suchend um.
„Wo ist Siska?"
„Sie ist schon gegangen, um ihr Sicherheitssystem einzurichten", erklärte Tess ihm gleichauf.
„Bleiben wir jetzt einfach die ganze Zeit hier stehen und warten, bis wir auftreten dürfen?", hängte sie an, und ihr Ton machte unvermittelt klar, dass sie darauf keine große Lust hatte. Ben winkte ab.
„Das Konzert beginnt gleich. Für die paar Minuten lohnt es sich nicht, in eine der Umkleiden abzuhauen, vorallem da wir uns schon zu hause umgezogen haben. Zudem sind die Umkleiden nur für die Stars."
Als er Sammys tadelnden Gesichtsausdruck bemerkte, fügte er zwinkernd hinzu: „Zumindest für die Stars, die schon welche sind."
Seine Antwort schien Sammy zu befriedigen, denn er nickte nur anerkennend und sah sich weiter um. Dabei trommelte er hektisch mit den Fingerspitzen auf dem Boden herum, und Alea begann zu ahnen, dass der Bandenjüngste nun doch etwas nervös wurde. Obwohl ihr selbst sterbensübel war, setzte sie sich neben ihn und trommelte in seinem Rhythmus mit. Bald setzte sich auch Lennox dazu und schlug mit den Handflächen einen leisen Beat, und selbst Tess begann, mit den Fingern zu schnipsen, während Ben Lennox tatkräftig mit den Beats unterstützte. Unwillkürlich lächelte Alea. Diese Cru wahr einfach nur schräg und die beste Familie, die man sich nur vorstellen konnte. Voller Elan trommelte sie mit ihren Fingerspitzen schneller und schneller, und auch ihre Freunde wurden immer lauter, bis sie einfach alle nur noch auf dem Boden herumschlugen. Sammy sprang sogar auf, hüpfte laut auf und ab, trommelte sich auf die Brust und wollte wohl gerade einen lauten Schrei ausstoßen, aber Ben legte ihm grinsend die Hand auf die Schulter.
„Ruhig, Flipper", wies er ihn in seiner üblichen, ruhigen Art an. Aber Sammy hörte nicht auf ihn. Stattdessen zog er Alea am Arm auf die Beine und drehte sich wild mit ihr im Kreis, sodass Alea sogar noch schlechter wurde, als ihr ohnehin schon war. Aber Sammy zuliebe machte sie mit, denn er strahlte wieder genauso fröhlich wie immer. „Scorpio! Libra! Taurus! Mitmachen!", brüllte er und streckte schon einen Arm nach Lennox aus. Der konnte zwar im letzten Moment noch ausweichen, aber Sammy erwischte dafür Ben am Handgelenk und zog ihn mit sich. Der wirkte zuerst völlig überrumpelt, doch dann fügte er sich seinem Schicksal und tanze einfach mit. Dabei machte er mit den Beinen derart seltsame Bewegungen, dass Alea laut zu lachen begann und versuchte, seine Tanzeinlage nachzuahmen. Dabei stolperte sie jedoch über ihre eigenen Füße und landete ungeschickt auf ihrem rechten Arm. Sofort war Lennox bei ihr. „Hast du dir was getan?" Besorgt beugte er sich über sie und inspizierte ihr Handgelenk und den Ellbogen. Alea drehte ihren Arm probehalber, konnte aber nichts feststellen.
„Alles noch dran", scherzte sie und stand auf. So verwunderlich es auch war - dank ihres verrückten kreisens ging es ihr eigentlich wieder ziemlich gut. Dankbar wuschelte sie dem neunjährigen Rotschopf durch die Haare.
„Du hast meine Welt wieder im Regenbogen erstrahlen lassen", versicherte sie ihm. Sammy grinste sie zahnlückenbreit an.
„Das ist mein Job! Ich bin Spaßbeauftragter und Gute-Launemacher, Topster der Landgänger!", rief er und reckte die geschlossene Faust wie zum Sieg in die Höhe. Alea lachte lauthals und auch Lennox zog einen Mundwinkel in die Höhe. Dann hob er seine eigene Faust neben Sammys Kichernd schloss Alea sich ihm an, zeitgleich mit Ben und Tess.
„Alpha Cru!", brüllten sie alle zusammen durch den Backstage-Bereich, sodass einige der vorbeihetzenden Sicherheitsbeauftragten schräge Gesichter machten. Da stand plötzlich eine Ocean Knight neben ihnen. Alea erkannte sie an ihrem tiefblauen T-shirt mit dem entsprechenden Schriftzug. Sie hatte ein Klemmbrett in der Hand und eine große Brille auf der Nase, wodurch sie schon beinahe wie eine Managerin wirkte. Sie zog Ben beiseite und begann mit ihm zu sprechen. Ben nickte nur und lief schließlich wieder zu ihnen zurück.
„Es geht los", war alles, was er sagte. Wie auf Kommando stimmte Lennox noch einmal seine Gitarre, Sammy schulterte seine Cajón und Tess überprüfte in ihrer Jackentasche, ob sie auch an ihre Mundharmonika gedacht hatte. Dann wurden sie von Ben einmal quer durch den Backstage-Bereich geführt. Schließlich öffnete er die einzige Tür auf der rechten Seite und sie liefen erneut durch einen dunklen Gang. Doch dieser hier war viel kürzer, und an seinem Ende wartete keine weitere Tür, sondern er führte auf direktem Wege hinaus auf die Bühne. Alea hörte das laute Schreien des Publikums, welches mit jedem Schritt, den sie tat näher kam. Am Ende des Ganges blieb Ben, anders als Alea gehofft hatte, nicht stehen sondern lief schnurstracks hinaus ins gleißende Rampenlicht. Alea hatte keine andere Wahl - sie musste hinterher. Mit schweren Schritten trat sie aus der wohlbehütenden Dunkelheit zu ihren Freunden in den Lichtkegel der Scheinwerfer. Erst da fiel ihr das gewaltige Publikum vor ihr auf. 70.000 wartende aber auch erstaunte Gesichter blickten zu ihnen auf. Eigentlich sollte Markus, ein Ocean Knight jetzt eine halbstündige Rede halten, allerdings hatten die Ocean Knights diese Zeit der Alpha Cru überlassen, um ihre Hymnen Kämpf weiter und No longer silent zu spielen. Eine halbe Stunde war jedoch viel zu viel Zeit für zwei Songs, weshalb sie am vergangenen Abend einige Zusatz-Songs ausgewählt hatten. Alea ließ den Blick schweifen. Zwischen dem Publikum erkannte sie unzählige Kameras aufblitzen, die wahrscheinlich für die Livestreams zuständig waren. Alle schienen zu warten. Ben trat ans Mikrofon, das vor ihm auf einem Ständer befestigt war und begann, zu sprechen. Wahrscheinlich begrüßte er erst einmal das Publikum und stellte sie kurz vor, aber Alea hörte ihm nicht zu. Sie war vollkommen überwältigt von dem Anblick der Menschenmasse vor ihr. Erst als Ben leise bis drei zählte und mit dem Fuß den Takt vorgab, erwachte sie aus ihrer Starre und stellte sich gezwungenermaßen neben ihn. Sie wollten zuerst Kämpf weiter spielen, und Alea sang neben Ben die Backgroundstimme. Ben sang die erste Strophe recht gut, aber Alea hörte ein Zittern seiner Stimme deutlich heraus. Während Ben sang versuchte Alea sich auf ihren bevorstehenden Einsatz vorzubereiten und mied den Blick zu ihrem Publikum. Gleichzeitig redete sie sich selbst ein, fauchen zu können wie ein Jaguar, so, wie Sammy ihr das einmal gesagt hatte, als sie ohne Erinnerungen nach Marseille geschippert waren. Aber bevor Alea überhaupt das Gefühl hatte, motiviert genug zu sein, kam auch schon ihre Stelle. Mit belegter Stimme unterstrich sie den Gesang des Skippers. Sie klang viel zu leise, das wusste sie, denn sie hörte sich selbst kaum. Betend ersehnte sie sich den Elvarion-Modus herbei, aber auch bei diesem Riesenauftritt ließ er sich nicht aktivieren, genauso wie vor wenigen Tagen in Venedig. Alea musste Ohne ihn auskommen. Verzweifelt probierte sie die letzte Möglichkeit: sie musste ihrer Angst einhalt gebieten. Seit sie ihre Schwester kennengelernt hatte, wusste sie auch, wie man das am besten tat. Also zeigte sie ihren Gefühlen innerlich den Mittelfinger und schob unbewusst den Unterkiefer nach vorn, um ihre Entschlossenheit und Rebellion deutlich zu machen, genauso, wie Thea es getan hätte. Es funktionierte. Ihre Angst verschwand zwar nicht gänzlich, aber sie wurde kleiner und Aleas Stimme wurde lauter und sicherer. Während sie sang trat sie sogar noch einen Schritt vor und nahm eine selbstbewusste Haltung ein. Sie spürte die verwunderten Blicke ihrer Freunde inihrem Rücken und hatte mit einem Mal das Gefühl, endlich einmal vollkommen aus sich herausgehen zu müssen. Also zog sie, nachdem sie Kämpf weiter mit großem Applausbeendet hatten, das Mikrofon aus dem Ständer und ging weiter an den Rand der Bühne. Dieses Mal war ihre Stimme von Anfang an kraftvoll und klar und sie schrie den Songtext ihrem Publikum förmlich entgegen. Dabei lief sie sogar quer über den ihr zu verfügung stehenden Platz, wendete sich nach links und rechts und wollte das gesamte Publikum ansprechen. An einigen Mündern erkannte sie, dass sie mitsangen, andere schwenkten Plakate und Banner ihm Rhythmus der Melodie. Nach No longer silent spielten sie Meeresleuchten. Hierfür musste Alea wieder zu ihren Freunden zurück, denn Lennox hatte hier ebenfalls einige Textpassagen. Zudem war Meeresleuchten eher eine Ballade als ein ausdrucksstarker Rocksong. Dennoch klatschte das Publikum auch am Ende dieses Songs begeistert, und Alea war schon beinahe traurig, dass sie bereits die letzte Nummer ihres Programms begannen. Die Befürchtung, bei ihrem nächsten Straßenbandauftritt wieder ungemeine Versagensangst zu verspüren, hatte sie jedoch nicht mehr. Denn diesen Auftritt würde sie niemals vergessen. Vor 70.000 Personen live zu singen kostete um einiges mehr Überwindung als auf der Straße. Außerdem hatte sie das Gefühl, ihre Angst nun endgültig beseitigt zu haben. Das starke Herzklopfen, welches sie nach wie vor in ihrer Brust spürte, rührte gewiss nicht von Angst, sondern von Fröhlichkeit und purer Euphorie. Sie wusste, dass ihr nie ein Auftritt besser gefallen würde als dieser. Warum hatte sie nur solche Panik davor gehabt?
Mit einem Lächeln auf den Lippen hörte sie Lennox die ersten Akkorde spielen und schickte in Gedanken einen Flugbussi an ihre Schwester. Wenn sie nur wirklich hätte dabei sein können... Bevor Alea jedoch wieder wehmütig werden konnte, begann sie auch schon zu singen. Ruhig und doch gefühlvoll drangen die Töne aus ihrem Mund und Alea wollte sich wieder von der Wirkung des Liedes mitziehen lassen, wie am Abend zuvor. Aus irgendeinem Grund schien es allerdings nicht zu funktionieren, und Aleas Blick blieb ständig an ihrem Publikum hängen. Automatisch suchten ihre Augen die Menge ab, aber jedes Gesicht kam ihr unbekannt vor. Weshalb hatte sie erwartet, dass im Publikum jemand saß, den sie kannte? Ratlos fokussierte sie sich wieder auf den Klang ihrer Stimme und hörte, wie im Hintergrund Sammy, Ben und Tess ihre Instrumente einbrachten. Beinahe fand sie das Zusammenspiel sogar noch schöner als das Original, in dem nur Lennox' Gitarre zu hören war. Und dann spürte Alea es. Es fühlte sich an wie ein feiner Stich in ihrem Herzen. Sofort beschleunigte sich ihr Herzschlag und Alea hatte das Gefühl, keinen klaren Gedanken mehr fassen zu können. Sie wusste augenblicklich, was dieses Gefühl zu bedeuten hatte. Thea war in der Nähe. Sie war hier in Rom, in der Nähe des Stadions. Alea konnte ihre Zwillingsschwester regelrecht spüren, als stünde sie nur wenige Meter von ihr entfernt. Oder tat sie das vielleicht sogar? Aleas Blick schoss erneut über die Menge, aber nach wie vor erkannte sie niemanden. Thea war nicht im Stadion. Während Alea damit beschäftigt war, ihre Gedanken zu sortieren hatte sie gar nicht bemerkt, dass ihr Lied vorrüber war. Sie hatte einfach nur stumm in ihr Publikum gestarrt. Erst als Sammy sie am Ärmel zupfte und leise „Verbeugen!" zischte, kam wieder Leben in Aleas Glieder. Hastig verbeugte sie sich ungelenk in alle Richtungen und stürmte, sobald Ben sie zum gehen aufgefordert hatte, von der Bühne. Ungeduldig wartete sie im Backstage-Bereich auf ihre Freunde, die ihr kurz darauf mit verwirrten Gesichtsausdrücken gegenüberstanden.
„Was war das denn? Warum bist du so plötzlich abgehauen? Und warum hast du davor ewig einfach nur ins Publikum gestarrt?", fragte Ben sofort.
„Thea ist da", keuchte Alea und fühlte sich, als wäre sie gerade einen Marathon gerannt. Sammys Augenbrauen fuhren in die Höhe.
"Du meinst, sie ist echt hier? Im Publikum?", kiekste er. Alea schüttelte den Kopf.
„Nicht im Publikum. Aber sie kann nicht weit entfernt sein, ich spüre sie ganz deutlich", antwortete sie und hielt sich die Hand aufs Herz.
,,Dann dürfen wir keine Zeit verlieren.Wenn Thea hier ist, sollten wir sie um nichts auf der Welt verpassen", lautete Tess' Meinung. Erleichtert blickte Alea sie an. „Worauf warten wir dann noch?", rief Sammy in diesem Augenblick. Als wäre das ihr Startsignal gewesen, stürmten sie augenblicklich los, durch den Backstage- Bereich und ins Treppenhaus, wo Alea beinahe Siska umrannte, die auf der ersten Treppenstufe stand.
„Was ist-", begann diese, aber bevor sie weitersprechen konnte, hatte Sammy sie bereits am Arm gepackt und zog sie hinter sich her.
„Thea", nuschelte er dabei bloß als Antwort. Siska befreite sich aus Sammys Griff und eilte neben ihnen weiter. Nach dem Treppenhaus, das Alea dieses Mal wie eine gefühlte Ewigkeit vorkam, stürzte sie stolpernd durch den dunklen Gang, der ins Freie führte. An dessen Ende wartete glücklicherweise kein Ocean Knight mehr und Alea riss die Tür auf. Aus irgendeinem Grund hatte sie erwartet, dass Thea direkt vor der Tür stand. Aber der Platz war vollkommen leer. Enttäuscht ließ Alea die Schultern sinken. War Thea doch nicht hier? War sie vielleicht einfach nur per Zufall in der Nähe des Stadions gewesen und entfernte sich gerade wieder? Doch da spürte sie wieder den Stich in ihrem Herzen, stärker als auf der Bühne. Thea ist hier, signalisierte ihr der Elvarion-Modus, der sich während des rennens eingeschaltet hatte. Wie von selbst drehte sie sich nach rechts und lief augenblicklich wieder los.
„Kommt!" rief sie über die Schulter, drehte sich aber nicht noch einmal um sondern hetzte über den Menschenleeren Platz. Wie von einem unsichtbaren Faden gezogen steuerte sie unkontrolliert auf die Haupteingänge um die Ecke zu. Hoffnungsvoll machte sie einen ausladenden Bogen um die Ecke, hob den Kopf - und blieb wie angewurzelt stehen.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top