Rettungskommando
„Lennox!", keuchte Alea noch einmal, und klammerte sich an den Oblivion. Sie konnte noch gar nicht glauben, was soeben geschehen war.
Alles fühlte sich so unwirklich an, dass Alea für einen kurzen Moment der Gedanke kam, dass sie womöglich träumte.
„Yavani", raunte Lennox mit belegter Stimme. „Ich...habe dich wieder."
Seine Worte lösten in Alea augenblicklich das vertraute Gefühl der Geborgenheit aus, das knisternd wie Brause durch sie rauschte und sie von Scheitel bis zu den Zehenspitzen elektrisierte.
Sie vergrub ihr Gesicht in seinem Oberteil, und atmete seinen wohligen Duft nach Weite, Wärme und Wasser ein. Er war es wirklich. Ihr Lennox.
Langsam trat sie einen Schritt von ihm zurück, um sein Gesicht zu sehen.
„Ich hatte solche Angst", flüsterte sie dann, und wischte sich über die tränenfeuchten Augen.
Lennox blickte sie traurig an.
„Das hatten wir alle, Yavani", erwiderte er sanft, und zog sie erneut in eine feste Umarmung. „Aber jetzt wird alles gut."
Alea nickte nur. Allein seine Anwesenheit gab ihr neue Hoffnung und Vertrauen ins Gute.
„Dazu müssen wir erst hier raus", vermeldete plötzlich eine Stimme mit französischem Akzent.
Alea schnappte aufgeregt nach Luft und machte sich von Lennox los. Vorsichtig lugte sie an ihm vorbei.
Hinter Lennox standen leicht verdeckt mehrere Personen, und Alea erkannte sofort Ben, Sammy und Tess.
Ungläubig starrte Alea sie an.
„Ihr..."
Sammy lächelte müde. „Uns geht's gut, Schneewittchen."
Aleas Kehle entrang sich ein klägliches Geräusch, das jede Sekunde der Trauer und der Angst zu enthalten schien, die sie hier verbracht hatte.
Mitleidig machte Tess einen Schritt auf sie zu, und umarmte sie ganz fest. Ihr folgten Ben, Sammy und auch Lennox, und plötzlich lagen sie sich alle weinend vor Glück in den Armen.
„Orion hat euch nichts getan", würgte Alea hervor, und war unendlich erleichtert, diese Worte aussprechen zu können.
Ben wiegte den Kopf.
„Nichts wäre etwas zu viel gesagt...", führte er aus, und lächelte Alea tröstend an.
„Leute! Wir müssen hier weg!", zischte plötzlich eine weitere Jungenstimme, bevor Ben erzählen konnte, was Orion getan hatte. Etwas verdutzt blickte Alea sich um, und rückte von ihren Freunden ab.
„Wer-", begann sie, doch dann sah sie, wer gesprochen hatte. Alea traute ihren Augen nicht.
„Nexon!"
Der Oblivionjunge hatte sich lässig an die Kellerwand gelehnt, und seine azurblauen Augen leuchteten regelrecht in der Dunkelheit.
„Hi Alea", begrüßte er sie in freundlichem Flüsterton.
Alea war baff. Wie um alles in der Welt hatte Nexon herausgefunden, wo sie sich befanden? Noch besser, wie war er überhaupt hierher gelangt?
Fragen über Fragen schossen Alea bei seinem Anblick durch den Kopf. Doch dann schüttelte sie sich, als wolle sie somit ihre Gedanken vertreiben.
Gegenüber von Nexon entdeckte Alea Siska, die sie mit ihren hellen Augen voller Tatendrang anstrahlte, als hätten ihr die Tage in Orions Gefangenschaft überhaupt nichts ausgemacht. Und neben ihr...Nelani und Keblarr, wobei Thea zwischen ihnen stand.
Ein drittes Mal wollte Alea nicht glauben, was sie sah.
„Mama...Papa..."
Nelani lächelte liebevoll und öffnete die Arme. „Komm", forderte sie ihre Tochter leise auf. Das ließ Alea sich nicht zweimal sagen, und sie warf sich mit einer unbändigen Bewegung in die Arme ihrer Mutter.
„Wie seid ihr-", setzte sie an, aber Nelani schüttelte den Kopf. „Später."
Alea nickte verständnisvoll. Etwas anderes war jetzt wichtiger.
„Können wir? Die anderen warten bestimmt schon", drängelte Nexon leise.
„Die anderen?", fragte Alea verwundert.
Keblarr lächelte. „Das „Rettungskommando" besteht aus weit mehr Mitgliedern als uns dreien."
Alea riss die Augen auf. Ein Rettungskommando, hatte ihr Vater soeben gesagt. Waren etwa noch andere Meerkinder mit ihnen gekommen?
Nelani sah Alea wohl an, dass sie einige Fragen hatte und hob leicht die Hand, als wolle sie ihr signalisieren, zu warten. Alea entschied, sich ihre Fragen für später aufzuheben und nickte kurz.
Dann drehte sie sich um und lief Nexon hinterher, der inzwischen mit den anderen vorrausgelaufen waren. Im Gehen warf er einen Blick über die Schulter zurück, und legte den Finger auf die Lippen. Alea verstand. Wenn sie von Darkonern gehört wurden, hatten sie schlechte Chancen.
Auf Zehenspitzen schlichen sie weiter, doch kurz vor der nächsten Ecke bedeutete Nexon ihnen, stehenzubleiben. Er wartete, bis alle zu ihm aufgeschlossen hatten, und erklärte dann:
„Hinter jeder Ecke können sich Darkoner befinden. Wann immer wir also am Ende eines Ganges ankommen, prüfen wir drei", er deutete auf Lennox, Siska und sich, „ob die Luft rein ist. Erst dann gehen wir weiter."
Er nickte kurz Lennox und Siska zu. Dann ging er an der Wand entlang in den anderen Gang hinein, und Lennox und Siska folgten ihm geräuschlos.
Wenig später kam Lennox zu ihnen zurück und gab ihnen das Zeichen, weiterzulaufen.
Mit wild klopfendem Herzen huschte Alea ihm nach, einen spärlich beleuchteten Weg entlang, der genauso aussah wie jeder andere dieses modrigen Kellers.
Aber plötzlich blieb Siska aprupt stehen. Ihre Augen weiteten sich erschrocken.
„Ich höre jemanden kommen", hauchte sie fast lautlos, und drehte sich um.
„Von dort", fügte sie hinzu und deutete in die Richtung, aus der sie gerade gekommen waren.
Lennox und Nexon nickten sich zu, und machten sich augenblicklich auf den Weg zurück.
Aleas Herz schlug so heftig, als wolle es aus ihrer Brust springen, und sie drückte die Daumen, dass alles gut ging.
Neben ihr trat Thea unruhig von einem Fuß auf den anderen, und sie tauschten einige beunruhigte Blicke. Wenn sie jetzt erwischt wurden...
Da hörte sie, wie aus dem Gang, den sie vor wenigen Sekunden verlassen hatten, Geräusche mehrerer Schläge drangen. Offensichtlich mussten sie kämpfen. Alea schloss betend die Augen.
Bitte lass alles gut gehen, flehte sie stumm und verschränkte die Hände ineinander, als spräche sie ein stummes Gebet.
Plötzlich ertönte laut der unverkennbare Klang eines Menschen, der heftig auf dem Boden aufschlug. Erschreckt kniff Alea die Augen zusammen, und traute sich nicht, sie wieder zu öffnen. Aber dann tat sie es doch, und sah gerade noch, wie Lennox ihnen den gereckten Daumen zeigte.
Erleichtert atmete Alea auf. Sie warteten noch eine Weile, bis Nexon, Lennox und Siska zurückkamen, und setzten ihren Weg fort. Deutlich schneller eilten sie nun durch den stickigen Keller des alten Hauses, bis sie schließlich vor einer Treppe standen, die steil nach oben führte.
Alea wurde ein wenig bang. Womöglich warteten vor der Tür Darkoner...
Aber Nexon stieg bereits unerschrocken die Treppe hinauf, und drückte ganz vorsichtig die Klinke herunter.
Mit einem leisen Klapp öffnete sie sich, und Lennox drückte sie langsam auf, als befürchtete er, dass sie einen lauten Quietschton von sich geben könnte. In anbetracht des Alters dieses Hauses war das gar nicht mal abwegig, wie Alea fand.
Doch zu ihrem Erstaunen gab die alte Tür kein einziges Geräusch von sich, sondern ließ sich problemlos öffnen.
Eilig drängten sie sich aus dem viel zu engen Treppengang, bis sie alle in genau dem Flur standen, den Alea bereits vor einigen Tagen entlanggegangen war. Noch immer hatte sich hier nichts verändert. Alles war genauso heruntergekommen und muffig, wie Alea es in Erinnerung hatte, mit Ausnahme davon, dass es draußen inzwischen dunkel war.
Doch anders als im Keller war hier nirgendwo auch nur eine einzige Lichtquelle angebracht.
Aber Nexon schien das gar nicht zu stören, denn er ging ohne zu zögern den stockfinsteren Flur entlang und Alea folgte ihm, in dem Vertrauen, dass Nexon wusste, was er tat.
Zielstrebig führte er sie an unzähligen Türen vorbei um einige Kurven herum.
Alea hatte inzwischen jegliche Orientierung verloren, aber Nexon schien nach wie vor zu wissen, wo genau in dem riesigen Gebäude sie sich befanden.
Schließlich öffnete er eine sanft knarrende Tür am Ende des Weges, und die Alpha Cru fand sich in einem Raum wieder, der aussah, als hätte er einmal als Küche gedient. Wände und Böden waren weißlich gefließt, und vereinzelt hing sogar noch etwas, das aussah als wären es einmal Töpfe gewesen, an verrosteten Aufhängern. Ein wenig angeekelt wandte Alea den Blick ab, und sah sich eilig nach Nexon um.
Dieser durchquerte mit schnellen Schritten den Raum und marschierte geradewegs auf eine schwere Eisentür zu, die, wie Alea vermutete, wahrscheinlich einmal einen Notausgang gebildet hatte.
Gemeinsam mit Lennox stemmte er sie auf, und winkte sie, nachdem er kurz kontrolliert hatte ob die Luft rein war, zu sich ins Freie.
Gierig atmete Alea die frische Bergluft ein. Erst jetzt bemerkt sie, wie schlecht die Luft im inneren des Hauses gewesen war. Mit der Zeit hatte sie sich wohl an den modrigen Geruch gewöhnt.
Alea konnte noch gar nicht glauben, dass sie tatsächlich wieder frei war. Ungläubig blickte sie noch einmal hinter sich. Dort ragte das düster gestrichene Haus nahezu bedrohlich in den stürmischen Abendhimmel, als wäre es die Kulisse eines alten Horrorfilms. Unwillkürlich zuckt Alea zusammen. Das, was sie in diesem Gebäude erlebt hatte, war für sie weitaus schlimmer als ein Horrorfilm.
„Alles in Ordnung?", raunte Lennox leise in ihr Ohr.
Alea nickte, und wandte sich von der ehemaligen Pension ab.
„Ja, alles bestens."
Lennox griff zärtlich nach ihrer Hand, und verschränkte seine Finger mit ihren. Sofort erschien ein glückliches Lächeln in Aleas Gesicht. Das hatte ihr wohl mit am meisten gefehlt. Er hatte ihr gefehlt.
Da bemerkte sie, wie Nelani sie liebevoll betrachtete. Alea erwiderte ihren Blick kurz, und ihre Hand schloss sich fester um die von Lennox. Sie waren wieder vereint. Und das war alles, was in diesem Moment für Alea zählte.
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