Nachmittag

Bereits wenige Stunden nach ihrem verfrühten Tagesbeginn, schien Sammy seine Weckaktion zu bereuen. Der Bandenjüngste wirkte vollkommen erschlagen und müde, und Alea musste ihm doppelt so viele Kekse backen, damit er, wie er es nannte, wieder zu Samuel-Draco-Superstar-Hochtouren auflaufen konnte. Dennoch schlief er nach dem Mittagessen, das nur aus belegten Broten und etwas Gemüse bestand, auf einem der Sofas ein. Keiner der übrigen Bandenmitglieder schien ihn wecken zu wollen, denn alle hatten noch reichlich zu tun. Während Lennox und Siska weiter an ihrem „Plan B" arbeiteten, brachten Alea und Tess die Küche auf Vordermann und Ben flickte wieder einmal eines der uralten Segel. Normalerweise waren Haushaltsdinge nicht gerade Aleas Stärke. Aber sie wollte sich von ihrer zunehmenden Nervosität ablenken, da sie sonst verrückt würde. Also schrubbte sie den Küchenboden, machte den Abwasch und überlegte sogar, wie man den Inhalt der Schränke neu einordnen könnte, als es eigentlich nichts mehr zu tun gab. Tess hingegen wirkte vollkommen gefasst. Sie hatte wie üblich ihr Pokerface aufgesetzt und machte den Anschein, als wäre es für sie einfach ein normaler Tag an Bord. Alea bewunderte die Gelassenheit ihrer Freundin. Sie wusste, dass Tess für das Bühnenleben gemacht war, aber dass nicht einmal der Gedanke an den heutigen Abend sie zu berühren schien, fand Alea ziemlich beeindruckend. Sie selbst hatte seit dem Mittagessen an nichts anderes mehr denken können und wurde mit jeder Stunde, die verging, flattriger. Schließlich bat sie Tess, mit ihr einige Meditationsübungen zu machen, damit sie etwas ruhiger wurde. Tess willigte sofort ein und sie setzten sich gemeinsam auf ihre Koje in der Mädchenkajüte. Sobald Alea die Augen geschlossen hatte, begann Tess ihr mit ruhiger Stimme Anweisungen zu geben. Alea versuchte mit aller Kraft, ihren Auftritt einmal zu vergessen und sich nur auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren, so, wie Tess es ihr immer wieder eintrichterte. Aber es klappte nicht. Nach einer Stunde gab sie auf und öffnete verzweifelt die Augen.

„Es funktioniert nicht. Ich hin genauso nervös und hibbelig wie zuvor", jammerte sie und spielte an den Raffnarben zwischen ihren Fingern.

Da packte Tess sie an den Schultern und drehte sie ruckartig zu sich herum.

„Du bist einfach zu verkrampft und zu fokussiert auf all das, was passieren könnte", teilte sie ihr mit.

Alea verzog das Gesicht. Das war ihr ja durchaus auch klar, aber...

„Wir versuchen es anders", sprach Tess in diesem Moment weiter und zog ihr Handy hervor.

„Was hast du vor?", fragte Alea, kritisch und hoffnungsvoll zugleich.

„Siehst du gleich."

Mit hochkonzentriertem Blick starrte Tess auf ihr Smartphone, das sie eigentlich nicht mehr benutzte, seit sie das alte Telefon bekommen hatte. In diesem Moment erklang ein sanftes Rauschen, unterlegt von einer ruhigen, fast unhörbaren Melodie. Alea zog die Brauen zusammen. „Was ist das?"

Tess lächelte. „Das ist Entspannungsmusik. Flussrauschen, gepaart mit dem Klang der Violine", erläuterte sie und stellte ihr Handy lauter. Dann sah sie Alea auffordernd an. „Augen zu."

Alea tat wie geheißen, schloss die Augen und versuchte, in den Klang der Musik einzutauchen. Anfangs schweiften ihre Gedanken immer wieder zu dem bevorstehenden Auftritt zurück, doch Alea drehte ihnen innerlich den Rücken zu. Tatsächlich beruhigte sie der Klang des Wassers aus Tess' Smartphone und zog sie fort, hin in eine andere, friedliche Welt. Manchmal glaubte sie sogar, in der Melodie ganz leise den Gesang der Wale zu hören, den sie mit Thea verband. Zu gern hätte sie ihre Schwester jetzt hier bei sich gehabt, damit sie ihr Beistand leisten konnte. Vermutlich wäre sie eine große Hilfe gewesen...

Während Alea sich immer mehr entspannte, spürte sie, wie Tess aufstand und leise aus der Kajüte schlich. Aufseufzend ließ Alea sich auf ihr Kissen fallen und stellte die Musik sogar noch etwas lauter. Es fühlte sich an, als hätte die Zeit einmal eine kurze Pause eingelegt, um sie zur Ruhe kommen zu lassen. Alea spürte, dass sie kurz davor war, einzuschlafen, aber sie tat nichts dagegen. Ihre Freunde würden sie schon rechtzeitig aufwecken. Doch nur wenige Minuten nachdem sie sich erlaubt hatte, zu schlafen, wurde sie unsanft wieder in die Realität zurückbefördert, denn Sammy schlug mit einem lauten Knall die Tür auf. Wie von der Tarantel gestochen schreckte Alea hoch. Sammy stand, strahlend wie ein Honigkuchenpferd im Türrahmen. Alea hatte keine Ahnung, wie lange er bereits wieder wach war, allerdings sah sein Haar vollkommen verstrubbelt und zerzaust aus, was auf seine eigene Art cool wirkte. In der Hand hielt er eine neue Lidschattenpalette, die er entweder irgendwo neu gekauft oder gefunden haben musste. Da erschien Tess hinter ihm.

„Ich hab dir doch gesagt, ich mach dir das in der Jungenkajüte drauf! Nicht hier!", meckerte sie und verdrehte die Augen.

Alea fuhr sich durch die Haare. „Schon gut", murmelte sie und schälte sich aus dem Bett. Dann deutete sie auf die Lidschattenpalette.

„Wo hast du die her? In der anderen war doch die Muschel von der Talassiopa", erkundigte sie sich neugierig. Sammys Strahlen wurde noch größer.

„Unsere Rockprinzessin war eben mit mir einkaufen! Und da hab ich goldenen Lidschatten gefunden! Ganz ohne Plastik!", rief er und hielt die Palette stolz in die Höhe.

Tess hinter ihm verdrehte die Augen.

„Und dann hat er so lange gequengelt, bis ich die Lidschattenpalette mitgenommen habe", stöhnte sie und verpasste Sammy eine Kopfnuss. Aber der grinste nur verschwörerisch und zwinkerte Alea zu.

„In Wirklichkeit kann sie mir einfach keinen Wunsch abschlagen", flüsterte er, was ihm eine zweite Kopfnuss einbrachte. Ebenfalls grinsend wandte Alea sich an Tess. „Wie spät ist es? Ich war so entspannt, dass ich völlig die Zeit vergessen habe."

Lächelnd sah Tess auf die Uhrzeit ihres alten Handys.

„Es ist –", begann sie, aber Sammy krähte jäh dazwischen: „Fünf Uhr! Also höchste Eisenbahn, Schneewittchen!" Mahnend fuchtelte er mit seiner Lidschattenpalette vor ihrem Gesicht herum. Alea lachte. „Dann zieh' ich mich besser um", kommentierte sie nur und öffnete ihren Kleiderschrank.

„Wenn du wieder im Schlafanzug kommst, erkläre ich dich offiziell für krank! Und dann bleibst du da, und die Welt wird dich vergessen! Und das will ich nicht!", erklärte Sammy. Alea grinste. Die Vorstellung, krank zu sein und nicht auftreten zu müssen, wäre wirklich verlockend... Aber sie wollte ihren Freunden nicht in den Rücken fallen. Zudem ging es ihr ausgesprochen gut, wenn man von der Nervosität absah, die in diesem Moment triumphierend zurückkehrte. Während Sammy Tess an der Hand ins Bad zog, damit sie ihm den Lidschatten auftrug, suchte Alea in ihrem Kleiderschrank ein Outfit, das den Samuel-Draco-Vorstellungen entsprach. Schlussendlich entschied sie sich für ihren lila Pullover, den sie ohnehin schon trug, eine ärmellose, kurze Felljacke, eine enge, schwarze Rockerjeans mit den Beingürteln ihrer Schwester, ihre schweren Boots und die meerblaue Schirmmütze. Stolz blickte sie an sich hinunter. Sammy würde zufrieden sein, das wusste sie ganz sicher. Der trat in diesem Moment aus dem Bad. Tess hatte ihm nicht nur goldenen Lidschatten aufgetragen, sondern ihm zudem einen kleinen Pferdeschwanz verpasst, der an Sammy sogar ziemlich gut aussah. Er musterte Alea prüfend, doch dann pfiff er beeindruckt durch die Zähne.

„Große Klasse, Schneewittchen! Nein, absolute Hammer-Großklasse!"

Während des Sprechens wurde er immer lauter, bis er sogar fast schon schrie.

„Das ist ein Alea-Aquarius-Outfit! Unser Superstar ist zurück!", rief er, öffnete die Tür und schrie den selben Satz noch einmal den Flur entlang. Dann drehte er sich breit lächelnd zu Alea um.

„Jetzt ist mein Superstar-Look dran! Mach deinen Schrank auf, jetzt kommt Samuel Draco, Hüter des Schatzes und Spaßbeauftragter der Alpha Cru!"

Aber er wartete gar nicht erst ab, bis Alea die Schranktür öffnete, sondern riss sie selbst auf und Alea sprang ein Stück zurück, um nicht getroffen zu werden. Die Arme in die Seiten gestemmt stand Sammy nun vor ihrem Kleiderchaos und schien nach etwas bestimmtem Ausschau zu halten.

„Ah!", rief er dann triumphierend, griff in den Kleiderstapel und zog Aleas Petticoat heraus. Alea erinnerte sich, dass es Sammys Plan gewesen war, den Petticoat zusammen mit seinem Königsumhang zu tragen. „Das wird Skandalös Pompös auf einem ganz neuen Level", murmelte Sammy gedankenverloren in sich hinein. Doch im nächsten Moment stürmte er ohne ein weiteres Wort aus der Kajüte und schlug die Tür hinter sich zu. Nervös lächelnd verließ Alea ebenfalls die Kajüte und lief in Richtung Salon. Dort warteten bereits Lennox, Ben und Siska. Lennox und Siska sahen genauso aus wie am Morgen, aber Ben trug seine Sergeant-Pepper-Jacke, eine alte, abgewetzte Jeanshose, Turnschuhe und eine Baseballkappe, die Alea noch nie zuvor gesehen hatte.

Interessiert musterte Lennox sie von oben bis unten. „Klasse", war dann alles, was er zu Aleas Erscheinen zu sagen hatte.

Alea wurde dennoch knallrot und sah schnell in die andere Richtung, als warte sie noch auf Sammy oder Tess. Wie aufs Stichwort öffnete sich die Tür zur Mädchenkajüte, und Tess stolzierte heraus, die Haare zu einem Dutt zusammengesteckt und mit hohen Stiefeln an den Füßen. Als sie ihre Freunde entdeckte, kam sie schnell herübergeeilt und betrachtete einen nach dem anderen.

„Wo ist Draco?", stellte sie sofort eine Frage.

Ben sah sich suchend um.

„Wahrscheinlich arbeitet er noch an seinem skandalösen Look für heute Abend", mutmaßte er und zuckte beinahe entschuldigend mit den Schultern.

Tess seufzte nur und warf der Tür zur Jungenkajüte einen ungeduldigen Blick zu. Alea hingegen hatte es alles andere als Eilig. Ihr war es nur recht, noch etwas länger hierbleiben zu können, denn ihre Hände zitterten inzwischen vor Aufregung. Aber in diesem Moment flog die Tür der Jungenkajüte auf und knallte laut an die Wand, so laut, dass Alea zusammenzuckte und Siska sich die Ohren zuhielt. Tess riss entgeistert die Augen auf und starrte den Flur entlang. Sammy trat langsam aus dem kleinen Zimmer und drehte sich elegant und mit hochnäsigem Gesichtsaudruck in ihre Richtung. Zu Aleas Petticoat und seinem Königsumhang trug er den knatschdottergelben Pullover aus Island und seinen großen Zylinder, den er sich leicht schief aufgesetzt hatte. Nun schritt er langsam und theatralisch auf sie zu, das Kinn stolz vorgereckt, damit sie alle seinen Auftritt bewundern konnten. Sprachlos stierte Tess ihn an, aber wohl nicht wegen seines Aussehens, sondern der Art seines Auftretens. Sammy tat, als würde er sie gar nicht bemerken und stolzierte an ihnen vorüber. „Wir können gehen", verkündete er mit gekünstelter Stimme, ohne seine Haltung zu ändern oder auf sie zu warten. Stattdessen schritt er einfach weiter voran die Treppe hinauf.

„Der Typ ist sowas von durchgeknallt", flüsterte Tess fassungslos. Alea hingegen hatte Sammys Auftritt auf ironische Art und Weise gefallen, und sie grinste in sich hinein. Ben straffte die Schultern.

„Gehen wir", meinte er nur und lief ebenfalls los. Lennox gesellte sich neben Alea, nahm ihre Hand und drückte sie fest.

„Wir gehen erst, wenn du bereit bist", raunte er leise in ihr Ohr.

Alea schüttelte sich, als wolle sie somit ihre Angst und Aufregung ein für alle Mal vertreiben. Entschlossen hob sie den Kopf, drückte noch einmal Lennox' Hand und sagte mit fester Stimme: „Ich bin bereit."

Dann warf sie Lennox einen selbstsicheren und dankbaren Blick zu. Der lächelte kurz, zog sie an sich und küsste sie sanft. Leider währte der Kuss nicht besonders lange, denn Ben rief sie. Also löste sich Lennox von Alea und ging Hand in Hand mit ihr an Deck. Sammy stand bereits auf dem Steg, der zu ihrem Schiff führte und blickte sich suchend um.

„Wo bleibt unsere Limousine?", fragte er.

Alea brach in Gelächter aus, denn sie dachte, es wäre ein Scherz. Aber Sammy schien es bitterernst zu meinen. Ben grinste ebenfalls.

„Es gibt keine Limousine. Wir laufen bis zu unserem Kombi und fahren dann weiter nach Rom. Die letzten paar Meter werden wir allerdings laufen", erklärte er seinem kleinen Bruder. Sammy bröckelte die stolze Miene aus dem Gesicht. Entsetzt sah er den Skipper an. „Aber Superstars kommen nicht mit einem geliehenen Kombi! Und laufen tun sie erst recht nicht!", protestierte er heftig.

„Mag sein, aber ein geliehener Kombi ist allemal umweltschonender als eine Limousine. Und laufen sowieso", konterte Ben, während Sammy ein beleidigtes Gesicht zog. Ben seufzte, legte einen Arm um die Schulter seines Bruders und bedeutete allen, loszugehen. Siska führte sie indessen an, da sie wusste, wo sich ihr geliehenes Alpha-Mobil befand. Gerade jetzt, wo sie sich auf dem Weg zu einem großen Umweltkonzert machten, fragte Alea sich wieder einmal, ob es denn richtig war, in dieses Auto zu steigen. Aber sie hatte diesen inneren Monolog schon oft geführt, und jedes Mal drehten ihre Gedanken sich im Kreis. Einerseits war es nicht richtig, den Kombi zu nutzen, denn sein Verbrennungsmotor schadete der Umwelt ungemein. Andererseits war dies die einzige Möglichkeit nach Rom zu kommen, um ihre Botschaft in die Welt zu tragen... Ratlos straffte Alea die Schultern und stapfte gedankenverloren hinter Siska her. Hinter ihr unterhielten sich Tess, Ben und Sammy eifrig über das bevorstehende Konzert und die Möglichkeit, Tess' Mutter endlich in den Umweltschutz mit einzubeziehen, aber Alea hörte nur mit halbem Ohr zu. Erst als sie das Auto erreichten, machte sich wieder unerwünschte Nervosität in ihr breit, denn sie wusste: wenn sie in dieses Auto stieg, gab es kein Zurück mehr.

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