Katastrophe

So schnell sie nur konnten preschten sie über den Kiesweg der kleinen Anlage, vorbei an Büschen, Bäumen und verdutzt dreinblickenden Parkbesuchern. In Aleas Seite stach es bereits beachtlich und sie japste immer wieder verzweifelt nach Luft. Aber sie hielt nicht an, sondern setzte alles daran, Orions Klauen zu entkommen. Zudem wirkte Lennox nicht, als hätte er vor eine Pause einzulegen. 

Ihre Flucht war zu wichtig, auch wenn Alea keinen blassen Schimmer hatte, wo genau sie sich überhaupt befanden. Aber Lennox führte sie immer weiter, schlug mal diesen und mal jenen Weg ein, und Alea vertraute ihm instinktiv. Sie wusste, dass der Oblivion nichts unversucht lassen würde, um sie sicher hier herauszuführen. 

Dennoch stiegen in Alea Tränen der Wut hoch. Heute Morgen noch hatte sie geglaubt, Orion endlich stoppen und ihn zu einem besseren Menschen machen zu können! So oft wurde ihr gezeigt, wie sie Orion am Kolosseum abfangen würden, und Alea war sich sicher gewesen, ihn so gefahrlos überfallen zu können! Oder hatte sie die Vision falsch gedeutet? War ihre Vision in Wirklichkeit ein Warnhinweis gwesen, um genau das nicht zu tun? Alea wusste es nicht. Sicher war nur eines: ihr Plan war gescheitert.

 Stattdessen flohen sie wieder einmal vor dem Doktor und seinen genetisch optimierten Darkonern, und Alea wagte nicht zu hoffen, dass sie ihn doch noch überwältigen konnten. Viel wichtiger war es nun, dass sie alle wohlbehalten nach Hause kamen. Frustriert und voller Angst wischte Alea sich eine Träne aus dem Augenwinkel.

„Wie weit ist es noch?", fragte sie in weinerlichem Tonfall.

Sie wollte nur noch in ihre Koje fallen und für den Rest des Tages in ihr Kissen heulen. Mitleidig drehte Lennox seinen Kopf zu ihr herum

„Nicht mehr weit", antwortete er schnaufend und drückte ihre Hand fester. „Alles wird gut, Yavani." Alea nickte. Daran musste sie glauben. Lennox lächelte noch einmal tröstend, drehte sich wieder um und führte sie im Sprintmodus an den Ruinen einer ehemaligen Terme vorbei, auf einen schmaleren Kiesweg.

„Da vorne ist der Ausgang!", rief Ben von hinten, und in seiner Stimme schwang deutlicher Optimismus mit.Alea richtete den Blick nach vorn, und tatsächlich: Nur wenige Meter entfernt führte der Weg sie hinaus aus dem Park, auf den üblichen Brügersteig einer ruhigen Straße. Aleas Herz raste. Gleich hatten sie es geschafft, gleich..

Doch gerade als Alea erleichtert aufatmen wollte, bemerkte sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung auf der Straße. Alarmiert schnellte ihr Blick in die entsprechende Richtung. Ein schwarzes Auto fuhr in rasender Geschwindigkeit an ihnen vorrüber. 

Aleas Herz hörte beinahe auf, zu schlagen. Er war noch immer hier. Sie hatten ihn nicht abgehängt. Im Gegenteil. Sie waren ihm nahezu schutzlos ausgeliefert.

„Scheiße! Sie sind uns gefolgt!", schrie Tess, die den Wagen wohl auch bemerkt hatte.

„In die Seitenstraße!", brüllte Siska im selben Moment. Sofort änderte Lennox seine Laufrichtung. Statt über öffentliche Wege hetzten sie nun über frisch gemähtes Gras und durch Blumenbeete, bis sie die besagte Seitenstraße erreichten und Alea hoffte inständig, dass Orion ihren Richtungswechsel noch nicht bemerkt hatte. Aber das laute Motorgeheul verriet ihr, dass das genaue Gegenteil eingetreten war. Orion war direkt hinter ihnen. Von Sekunde zu Sekunde kam er näher, bis der bedrohlich schwarze Wagen direkt neben ihnen fuhr. 

Alea wagte gar nicht erst, hineinzusehen. Sie musste weiterlaufen und versuchen, einen Weg zu finden und -

Plötzlich schubste sie jemand hart beiseite, so hart, dass Alea unsanft auf den Boden fiel und sich schmerzhaft den Fuß verrenkte. Sofort war Lennox bei ihr und half ihr auf die Beine, aber Alea wollte wissen, was geschehen war. 

Und dann sah sie es. Orion hatte eine Wagentür geöffnet, und einer der Darkoner hatte offenbar versuchen wollen, Alea ins Wageninnere zu ziehen. Doch stattdessen sah Alea, wie Thea sich verzweifelt versuchte, aus dem Griff des Darkoners zu befreien, der nun sie statt Alea selbst ins Auto zog.

„Thea!"

Sofort vergaß Alea all ihre Schmerzen und auch ihre Angst. Sie würde nicht zulassen, dass Orion ihrer Schwester etwas zufügte. Mit einem heftigen Ruck entriss sie sich Lennox Hand, stürzte sich auf die noch immer geöffnete Wagentür und griff nach dem Arm ihrer Schwester.

„Alea! Bist du noch ganz bei Trost?!", hörte sie Lennox hinter sich brüllen, aber das war Alea egal. Stolpernd rannte sie neben dem fahrenden Auto her und versuchte, Thea aus dem Wagen zu ziehen. Mit der einen Hand zog sie an ihrem Arm, mit der anderen schlug sie heftig auf die Schulter des Darkoners ein, der ihre Schwester noch immer fest im Griff hatte. Thea trat indessen mit beiden Füßen nach ihm und versuchte mit aller Macht, aus dem Wagen zu fliehen, aber sie konnte nicht.

„Alea! Lass Thea los! Du bist wichtiger!", schrie Lennox hinter ihr und versuchte wohl, sie zu erreichen. Zum ersten Mal jedoch glaubte Alea ihm nicht.

„Nein!", schrillte sie zu ihm zurück, und riss in panischer Verzweiflung an dem Muskelbepackten Arm des Darkoners. Da war Lennox bei ihr, packte sie an der Hüfte und drückte sie mit seinen starken Armen weg von der Tür des Wagens. 

Aber Alea ließ ihn nicht. Sie ballte all ihre Kraft zusammen, klammerte sich am Äußeren des Autos fest und gab sich selbst einen kräftigen Ruck. Lennox' Arme gaben nach. Alea wurde nach vorn geschleudert und knallte hart gegen die geöffnete Autotür. Sie spürte, wie sie heftig auf dem Boden aufschlug. Der Wagen hielt an. Dann wurde alles schwarz.



Langsam öffnete Alea die Augen wieder. Alles war verschwommen,und an ihrer linken Schläfe pochte schmerzhaft eine eigroße Beule. Doch sie erkannt Lennox, der sich mit besorgter Miene über sie beugte.

„Alea? Alea, bist du Okay?", hörte sie ihn dumpf fragen. Beinahe klang es, als weinte er sogar. Alea nickte leicht, denn in ihrem Kopf drehte sich alles.

„Was ist passiert?", nuschelte sie. Der weiche Untergrund, auf dem sie lag, verriet ihr, dass sie sich nicht mehr in den Straßen Roms befanden.

Hatten sie es geschafft? Waren sie Orions Fängen ein weiteres Mal entkommen? Und...wo war sie überhaupt? Alea kniff die Augen zusammen, um ihren Blick zu schärfen und wollte sich aufsetzen, aber sie konnte ihre Hände nicht bewegen. Sie waren zusammengebunden.

Panischer Schrecken durchfuhr Alea, und sie riss die Augen auf. Ihr Blick schärfte sich.

Doch was sie sah, zerriss ihr das Herz.

Lennox saß an Händen und Füßen gefesselt neben ihr, mit tränenüberströmten Gesicht. Thea kauerte, den Kopf auf die Knie gelegt, an einer Wand, die aus Blech oder Aluminium zu sein schien. Sammy, Tess und Ben saßen auf einer gepolsterten Bank, und Sammy schluchzte leise in das T-shirt seines älteren Bruders. Siska lehnte neben ihnen, und starrte auf etwas, das sich offenbar hinter Alea befand. Alea drehte den Kopf.

Zeirus stand, die Arme vor der Brust verschränkt, bei ihnen und bewachte sie wohl, aber seine hell strahlenden Augen waren unentwegt auf Siska gerichtet.

Alea schluckte stark. Sie hatten es nicht geschafft. Orion hatte sie gefangen.

Mit aufsteigenden Tränen sah sie sich weiter um. Nur wenige Schritte von Zeirus entfernt, entdeckte sie den Nixenprinzen. Er lag mit geschlossenen Augen auf dem Boden. Aleas Herz setzte einen Schlag aus. Er war doch nicht etwa –

„Er lebt noch", schniefte Lennox leise in ihr Ohr, der ihren Blick wohl mitbekommen hatte. Alea nickte ein wenig erleichtert, auch wenn das ihren Schmerz keinesfalls minderte.

„Wo sind wir?", flüsterte sie leise. Eine Träne rollte über ihr Gesicht. Das alles war ein schrecklicher Alptraum für sie.

„In einem von Orions Hubschraubern. Er ist vorne im Cockpit", flüsterte Lennox ebenso leise zurück.

Alea schloss die Augen.

Das alles musste ein Alptraum sein. Wie hatte das nur passieren können? Wie waren sie hier in Orions Hubschrauber gelandet?

„Wieso sind wir hier? Wie –" Alea konnte nicht weitersprechen.

Tränen flossen in Sturzbächen über ihr Gesicht und tropften auf den Boden, der mit einer Art Filzteppich überzogen war.

„Nachdem du ohnmächtig wurdest, haben sie dich in den Wagen gebracht. Ich wollte das nicht zulassen, und während ich mit einem Darkoner nach dem anderen gekämpft habe, wollten Siska und Cassaras euch beide aus dem Auto holen und in Sicherheit bringen. Aber Orion hat Cassaras mit Anti-Magikum besprüht, Siska wurde von ihrem eigenen Vater überwältigt und gefesselt. Ich allein konnte nicht gegen alle auf einmal ankommen. Ich – habe versagt."

Lennox schluchzte leise auf, und Alea konnte förmlich spüren, wie das Geräusch ihr Herz in tausend Teile zerriss. Heftig schüttelte Alea den Kopf.

„Du hast nicht versagt, Yavani", weinte sie leise und lehnte ihren Kopf gegen ihn.

„Wir können es immer noch schaffen. Am Ende ist alles gut."

Alea schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter. Nichts wünschte sie sich sehnlicher, als dass ihre eigenen Worte wahr wären.

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