Crucis
Nur wenige Sekunden später, so kam es Alea zumindest vor, wurde sie auch schon wieder wachgerüttelt. Verschlafen öffnete sie die Augen. Lennox hatte sich über sie gebeugt, die Autotür weit geöffnet.
„Wir sind zu Hause, Yavani", flüsterte er und zog sie am Arm sanft in die Höhe. Aber Alea fühlte sich plötzlich gar nicht mehr müde. Schnell sprang sie auf die Füße und stieß dabei unangenehm mit dem Kopf gegen die Autodecke. „Vorsicht!", lachte Lennox und half ihr bei Aussteigen. Thea stand bereits auf der verlassenen Straße und sah sich suchend um.
„Wo ist denn jetzt euer Schiff?", fragte sie schließlich. Verwundert deutete Alea vor sie.
„Da ist es doch!"
Verwirrt folgte Thea ihrer Hand und sah dann noch verwirrter wieder zu Alea zurück.
„Nein, da ist nichts!", beharrte sie. Verständnislos blickte Alea sie an. Doch dann begriff sie.
„Die Skorpionfische! Lennox, sie können die Crucis noch nicht sehen! Du musst erst darum bitten!", rief sie ihrem Freund zu, aber der war schon auf dem Weg zu ihrem Schiff. Am Vorabend hatte er extra Skorpionfische an die Außenseite ihres Schiffes geklebt, damit Orion sie nicht aufspüren konnte. Als Lennox und Alea nämlich auf dem Weg nach Sankt Goarshausen waren, hörten die Magischen auf, die Crucis zu tarnen, da niemand mehr sie darum bat. Da hörte sie Thea neben sich laut fiepen. Offensichtlich wurde das Schiff für sie sichtbar.
„Das ist die Crucis? Die ist ja....total...." Thea gebärdete so schnell, dass Alea die Hälfte nicht verstand. Der Prinz legte Thea beruhigend die Hand auf die Schulter.
„Mach langsamer", wies er sie an, da er Aleas überforderten Gesichtsausdruck wohl bemerkt hatte. Dann hängte er noch eine Gebärde an, von der Alea wusste, dass sie Buch bedeutete. Allerdings passte das ganz und gar nicht zum Kontext.
„Wieso Buch?", fragte sie deshalb. Thea schien ihr erst nicht ganz folgen zu können, doch dann verstand sie und begann, grinsend zu erklären:
„In der Gebärdensprache hat jede Person einen eigenen Namen. So muss man nicht jedes Mal den Namen gebärden, sondern es reicht eine einzige Gebärde für eine Person. Der Gebärdenname wird meistens nach charakteristischen Eigenschaften gewählt. Meiner ist Buch, weil ich so viel lese."
Neugierig sah Alea ihre Schwester an. Die fuhr fort: „Ich hatte Anfangs einen anderen Gebärdennamen, nämlich Wasserfall. Als ich klein war, habe ich ohne Punkt und Komma erzählt."
Sie lachte lautlos und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Mit dem Kinn deutete Alea auf den Nixenprinzen, der nach wie vor neben Thea stand.
„Hat er auch einen Gebärdennamen?", fragte sie. Thea nickte.
„Ja, ich habe ihm irgendwann die Gebärde Freund verpasst. Davor habe ich ihn heimlich Griesgram genannt", gebärdete sie grinsend. Alea lachte lauthals auf. Thea legte den Finger auf die Lippen.
„Das weiß er aber nicht!"
Alea lachte noch lauter. „Jetzt schon."
Ein kurzer Blick auf Cassaras verriet ihr jedoch, dass er scheinbar kein Problem mit seinem früheren Gebärdennamen hatte. Thea tippte Alea vorsichtig an. „Willst du auch einen Namen?", wollte sie wissen.
Alea nickte heftig. „Ja, unbedingt!"
Thea legte den Kopf schief, als müsste sie überlegen. „Vielleicht finden wir ja im Internet die Gebärde für Schneewittchen. Der passt nämlich gut."
Sie zwinkerte. „Aber du kannst dir auch einen anderen aussuchen."
Alea lächelte. „Ich werde mir etwas einfallen lassen", versprach sie und legte erneut ihren Arm um Theas Schulter.
„Jetzt bekommst du erst einmal eine große Schiffsführung von Samuel Draco persönlich!"
Mit diesen Worten setzten sich die Schwestern in Bewegung und liefen mit taktgleichen Schritten den Steg zu ihrem Schiff entlang. Am Rand des Weges angekommen, gingen sie in die Knie und sprangen gleichzeitig über die Reling auf die alten Planken, ohne einander loszulassen. In der Tür zum Deckshäuschen wartete bereits Sammy. Betont lässig lehnte er am Türrahmen und es schien, als hätte er alle Zeit der Welt. Als er die beiden Mädchen erblickte, grinste er breit und lief langsam auf sie zu. Als er schließlich vor den Schwestern zum Stehen kam, holte er mit beiden Armen weit aus und machte einen so schwungvollen Knicks, dass er fast das Gleichgewicht verlor. Er ging jedoch gar nicht erst darauf ein, sondern gebärdete, den Kopf noch immer auf den Boden gerichtet: "Nach euch."
Thea sah ihn belustigt an und sie schien sich zu fragen, ob sie Sammy ernst nehmen sollte.
„Tu einfach, was er sagt", wies Alea sie deshalb an und zog sie langsam am Arm durch die Tür. Das Deckshäuschen war leer, nur einige alte Kissen, die niemand mehr nutzte, lagen unordentlich in der Ecke. Thea schien trotzdem fasziniert zu sein, denn ihre Lippen formten ein leises „wow". Sie ließ Aleas Hand los und ging betont langsam durch den Raum. „Ich bin noch nie auf einem Schiff gewesen. Erst recht nicht auf einem alten Segelschiff", erklärte sie dann und schien alles staunend zu untersuchen. Sammy war inzwischen zu ihnen gekommen und gebärdete nun weniger gehoben: „Ja, unsere Crucis ist ein ganz besonderer Ort. Aber das Deckshäuschen ist langweilig, wenn keiner drinsteht."
„Wer steht denn nornalerweise hier drin?", erkundigte Thea sich neugierig.
„Ben! Der große Junge mit den braunen Haaren, mein absoluter Bestbruder! Er ist unser Kapitän und steuert die Crucis. Manchmal dürfen das auch Alea, Lennox oder Tess, aber meistens ist Ben für das Steuer zuständig", plapperte Sammy sofort los. Thea nickte immer wieder, als würde sie sich alles genau einprägen. Da schnappte Sammy sich ihre Hand und zog sie durch eine weitere Tür, die nach unten führte.
„Jetzt wird es interessant", gebärdete er nach hinten, denn Thea stolperte ein wenig hinter ihm her. Unter Deck zeigte er Thea zuerst die Bordküche, die bis auf Lennox ausnahmsweise vollkommen leer war und erklärte ihr, wieso er mindestens zweimal am Tag Aleas Kekse benötigte und warum er unbedingt eine Wampe bekommen wollte. Alea hatte den Grund auch nie wirklich verstanden, aber das war einfach Sammys Welt, deshalb ergab es Sinn. Aber als sie gerade im Salon angekommen waren, wo Siska und Tess Karten spielten, hörten sie plötzlich eine laute Stimme. Es war Ben.
„Sammy, komm sofort her und räum' das auf!", polterte er und Alea erkannte, dass er sich in der Jungenkajüte befinden musste. Schnell zog sie Thea dort hin und erklärte ihr, was los war. Sobald sie die Tür zur Jungenkajüte öffnete, sah sie, warum Ben so ungehalten war. Die Tür des Kleiderschrankes war sperrangelweit aufgerissen, und der gesamte Inhalt des Schrankes lag auf dem Boden verteilt. Sammy hatte wohl bei seiner Outfitzusammenstellung etwas zu großzügig die Klamotten heraus gezogen.
„Ich räum' das später auf", tat der Bandenjüngste die Anweisung seines großen Bruders mit einem Handwink ab.
„Nein, das machst du jetzt", erwiderte dieser. Sammy machte einen Schmollmund, wollte aber nichts mehr entgegensetzten. Alea ging indessen wieder mit Thea auf den Gang hinaus und schloss leise die Tür hinter sich. „Komm, ich zeige dir noch die Mädchenkajüte."
Die Mädchenkajüte sah eigentlich genauso aus wie die Jungenkajüte: zwei Stockbetten und ein Kleiderschrank. In einer Ecke standen einsam die beiden Rucksäcke der Zwillinge, denn Alea hatte einfach keine Lust gehabt, ihren eigenen Auszuräumen und ihn schlicht neben Theas gestellt. Die schien sich zu freuen, dass ihr Rucksack mit den Loreleybüchern nicht in Sankt Goarshausen zurückgeblieben war und kontrollierte schnell, ob auch wirklich alle Bücher vorhanden waren.
„Deine Kleidung kannst du in meinen Teil des Schrankes legen", schlug Alea vor und Thea nickte.
„Später. Zuerst will ich noch etwas anderes machen." Fragend neigte Alea den Kopf. „Was denn?"
In Theas Augen glitzerte es freudig.
„Ich will schwimmen gehen! Mit dir!"
Alea riss die Augen auf. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht! Nun, da sie wieder ein Meermädchen war, konnte sie gemeinsam mit Thea die Unterwasserwelt erkunden! Sogar Lennox könnte mitkommen, denn er brauchte keine Tauchausrüstung mehr.
„Davon träume ich schon, seit ich das erste mal im Rhein schwimmen war. Und davon, dass wir irgendwann wieder als Familie im Meer leben können", fuhr Thea fort und in ihre Gesichtszüge trat ein verträumter Ausdruck. Lächelnd sah Alea ihre Schwester an. Diese Vorstellung war auch ihr eigener Traum.
„Wir können schwimmen gehen. Lennox und Cassaras könnten ja als Begleitung mitkommen", stimmte Alea dem Vorschlag ihres Zwillings zu. „Aber du hast keinen Flex..."
Thea hob die Brauen. „Keinen was?"
„Keinen Flex", wiederholte Alea. „Das sind Anzüge, welche die Temperatur so regeln, dass die Wassertemperatur für den Träger angenehm ist."
„Dann ist der schwarze Ganzkörperanzug von Cassaras also ein Flex?", hakte Thea wissbegierig nach. Alea wiegte den Kopf. „Wahrscheinlich."
Thea zuckte mit den Schultern. „Macht doch nichts. Wir könnten ja eine Finde-Finja beauftragen, einen für uns zu finden."
Alea nickte. „Die Idee ist gut."
Dann ging sie an ihren Rucksack, öffnete den Reißverschluss und zog ihren neuen Flex hervor, den sie aus Dor Tenarr, einer Stadt im Rhein, mitgenommen hatte. Ihren ersten fand sie zwar um einiges schöner, aber dieser war seit ihrer Gedächtnislöschung spurlos verschwunden. Interessiert betrachtete Thea das Kleidungsstück in Aleas Händen. „Das ist also ein Flex?"
Alea nickte. „Ich ziehe mich nur schnell um, in Ordnung?", meinte sie nur und deutete auf die Tür zum Bad. Thea machte eine zustimmende Geste und trat einen Schritt zur Seite. Schnell schlüpfte Alea an ihr vorbei ins Bad und zog sich um. Achtlos warf sie ihre Kleidung auf den Boden, denn für Ordnung hatte sie in diesem Moment überhaupt keinen Sinn. Als sie wieder in die Kajüte trat, saß Thea auf dem Boden und betrachtete einen Stein in ihren Händen. Alea ahnte, dass es sich bei diesem Stein um den Fotostein mit ihrem Abbild als Babys handelte. Erst als Alea sich neben sie stellte, bemerkte Thea sie und legte den Stein neben ihren Rucksack.
„Ich will nicht, dass er verloren geht", erklärte sie kurz und stand auf.
„Können wir?"
Gut gelaunt hakte Alea sich bei ihrer Schwester unter und sie gingen gemeinsam in die Küche. Wie erwartet saßen dort Lennox und Cassaras. Der Nixenprinz war wohl während Theas Führung nach unten gekommen und hatte sich zu Lennox in die Küche gesellt. Als die Zwillinge eintraten, sahen beide gleichzeitig auf. Sie hatten zuvor nicht miteinander gesprochen, und das Schweigen war regelrecht unangenehm. Lennox schien Aleas Outfit sofort zu entnehmen, was sie nun vorhatten, denn er nickte kurz und stand auf.
„Ich zieh' mich schnell um", nuschelte er und schob sich an den beiden vorbei aus der Tür. Für den Nixenprinzen war es wohl weniger deutlich, denn er sah Alea mit hochgezogenen Augenbrauen an.
„Wir wollen schwimmen gehen", erläuterte Alea. Cassaras verschränkte die Arme vor der Brust.
„Hier sind Wale", entgegnete er und es hatte den Eindruck, als wäre er von der Idee nicht sehr begeistert.
„Dann komm doch mit", schlug Thea vor, aber der Prinz schüttelte den Kopf.
„Es ist viel zu spät. Draußen ist es stockdunkel." Thea verdrehte die Augen.
„Wir können unter Wasser genauso gut sehen wie am Tag", konterte sie sofort. Cassaras sah sie lange an, als suchte er nach Argumenten. Doch schließlich schüttelte er nur den Kopf. Das machte Thea wohl wütend, denn sie stampfte trotzig mit dem Fuß auf.
„Ich werde schwimmen gehen, und zwar hier und jetzt!", gebärdete sie harsch. Dann drehte sie sich auf dem Absatz um und stürmte aus der Küche die Treppe hinauf.
„Thea!", rief Cassaras ihr in ärgerlichem Ton hinterher, aber natürlich konnte sein Ruf nichts ausrichten, denn Thea konnte ihn nicht hören. Also sprang der Nixenprinz auf und rannte der jungen Walwanderin fluchend hinterher. Alea folgte ihm ebenfalls, denn es interessierte sie, ob ihre Schwester tatsächlich schwimmen gehen würde oder nicht. An Deck hatte Thea gerade ihre Schuhe, Handschuhe und Jacke ausgezogen und sie stand barfuß an der Reling, die Raffnarben gut sichtbar. Cassaras hechtete auf Thea zu und wollte sie wohl wegschleifen, aber Thea wich ihm flink aus, kletterte auf die Reling und sprang mit einem Satz ins Wasser. Zornig knurrend streifte der Prinz den Mantel ab und verschwand mit einem eleganten Kopfsprung in den wogenden Wellen.
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