Atlantis
Ungläubig starrte Alea auf die Stelle, wo vor wenigen Sekunden noch ihre Schwester gestanden hatte. Alles war so schnell passiert, dass ihr Kopf gar nicht richtig mitgekommen war. Reglos stand sie an Deck, ein Handtuch in der Hand und sah mit leerem Blick durch die Gegend. Da tippte ihr plötzlich jemand auf die Schulter. Erschrocken fuhr Alea herum. Lennox stand vor ihr, in dem gleichen schwarzen Flex wie sie, und lächelte sie mit seinem typischen Lennox-Lächeln an. Automatisch bogen sich Aleas Mundwinkel ebenfalls in die Höhe.
"Wo sind Cassaras und Thea?", wollte Lennox wissen. Alea zog die Stirn kraus.
"Thea ist gegen Cassaras' Willen ins Meer gesprungen. Er ist ihr gefolgt." Lennox brach in schallendes Gelächter aus. "Wieso habe ich das genau so erwartet?", lachte er und schüttelte gleichzeitig den Kopf.
"Deine Schwester lässt sich wirklich nichts sagen."
Alea grinste ihn wissend an. Lennox sah nur eisern aus azurblauen Augen zurück und Alea merkte, wie ihre Wangen sich rot färbten und sah beschämt zur Seite. Aber Lennox nahm ihr Gesicht in seine Hände und richtete ihren Blick wieder auf sich.
"Gehen wir schwimmen", flüsterte er leise, ließ Alea aber nicht los. Stattdessen lehnte er sich vor, küsste sie sanft und zugleich mit einer solchen Intensität, dass Alea ein Schauer über den Rücken jagte. Glücklich legte sie die eine Hand in seinen Nacken, mit der anderen verstrubbelte sie sein dunkles Haar und versank vollkommen in ihrer Liebe zu ihm. Erst als Lennox langsam von ihr zurückwich, und Alea das Gefühl hatte, dass dieser Kuss hätte länger anhalten müssen, wurde sie wieder in die Realität zurückgeholt. Leise lächelnd lehnte sie ihre Stirn gegen seine und sah ihm einfach nur tief in die Augen. In seinem Blick hätte sie versinken können, aber dann erinnerte sie sich an den Grund, weswegen sie beide im Flex an Deck standen. Mit einer schnellen Bewegung drehte sie sich aus seinen starken Armen und stürmte auf die Reling zu.
"Wer zuerst im Wasser ist!", schrie sie lachend und jauchzend über die Schulter zu ihm zurück. Aber bevor Lennox auch nur ansatzweise reagieren konnte, hatte sie sich bereits über die Reling geschwungen und landete mit einem lauten Platsch! in dem kunterbunten Farbenspiel des Wassers. Übermütig betrachtete sie ihre Hände, die innerhalb weniger Sekunden starke Schwimmhäute ausbildeten. Sobald sie sich verwandelt hatte, sah sie sich suchen im Wasser um. Lennox schwamm inzwischen neben ihr und seine blauen Augen leuchteten mit ihren eigenen um die Wette. Alea sah sich weiter um. Da entdeckte sie, was sie gesucht hatte: in einigen Metern entfernung schwammen Cassaras und Thea. Der Prinz wirkte ehrlich wütend, denn er gebärdete wild auf Thea ein und hielt ihr wohl gerade eine Standpauke. Aber Thea sah nur eiskalt zurück und Alea sah in ihrem Stimmungsspiel, dass sie nicht vorhatte, ihre Aktion zu bereuen. Stur hatte sie die Arme vor der Brust verschränkt, das Kinn rebellisch nach vorn geneigt. Neugierig schwamm Alea näher. Aber sobald Alea bei ihnen angekommen war, beendete Cassaras seine Schimpftirade und blitzte Thea einfach nur mit seinen hartblauen Augen wütend an. Die hielt seinem Blick allerdings problemlos stand. Unbewusst hielt Alea den Atem an. Die Spannung um sie herum war beinahe schon greifbar und Thea schien sich mit den Augen mit dem Nixenprinzen zu messen. Amüsiert sahen Lennox und Alea dem stummen Match zu, gespannt darauf, wer zuerst nachgeben würde. Nach einer Weile schien der Prinz jedoch die Lust zu verlieren, denn er seufzte nur und schüttelte resigniert den Kopf.
"Halte dich von Walen fern", gebärdete er schlecht gelaunt. Thea lächelte triumphierend und stieß einen selbstbewussten Siegeslaut aus. Dann schnappte sie sich Aleas Hand. Trotz ihres Wettbewerbs hatte sie wohl mitbekommen, dass sie ihr gefolgt war, denn sie fragte: „Wie kommen wir jetzt zu einer Finde-Finja?"
Erstaunt sah Alea sie an. Orion hatte wahrscheinlich nie ein gutes Haar an Magischen gelassen, aber trotzdem wunderte es sie, dass er Thea wohl nie erklärt hatte, wie man zumindest nach einer Finde-Finja rief. Alea bemerkte, dass Thea sie schräg ansah, wohl deshalb, weil Alea ihr nicht antwortete. Schnell schob sie den Gedanken an Orion beiseite und konzentrierte sich auf die benötigten Gebärden.
„Wir rufen sie. Wenn gerade eine in der Nähe ist, dauert es nicht lange, bis sie kommt.", erklärte Alea schlicht. Thea nickte verständnislos, denn sie schien nach wie vor keine Ahnung zu haben, wie man Finde-Finjas nun genau rief. Alea formte die Hände zu einem Trichter und schrie auf den Ozean hinaus.
„Finde-Finja! Ich brauche dich!"
Thea beobachtete sie gespannt und folgte dann Aleas Blick, als warte sie auf etwas. Nur kurze Zeit später sah Alea etwas in der Ferne heranzischen, aber sie wusste auch ohne das Wesen zu erkennen, dass es sich um eine Finja handelte. Je näher die Finja kam, desto mehr erkannte Alea von ihr: sie hatte dieselbe Form wie ihre Schwestern, eine Art vermischung aus Koralle und Baum. Aber im gegensatz zu anderen ihrer Art war diese Finja nicht fröhlich bunt, sondern Rabenschwarz mit weißen Punkten. Entgeistert riss Thea die Augen auf und sah aus, als fragte sie sich, was sie von dem Wesen halten sollte.
„Wer hat mich gerufen?", piepste die Finja da auch schon in erstaunlich hohem Ton, und Alea übersetzte nebenher für Thea.
„Ich habe dich gerufen, damit du für uns einen Flex findest", wandte sie sich dann an das Korallenbäumchen. Die Finja wedelte sanft mit ihren zweigenartigen Ärmchen im Wasser, die unzähligen Augen unentwegt auf Alea gerichtet. Doch dann klingelte sie: „Folgt mir!"
Im nächsten Moment sauste sie auch schon in bahnbrechender Geschwindigkeit davon. Schnell erklärte Alea ihrer Schwester, was sie nun tun mussten und schwamm auch los. Hand in Hand preschten die Schwestern der Finde-Finja hinterher und hatten sie bereits nach kurzer Zeit eingeholt. Lennox folgte ihnen in einigen Metern Abstand und selbst Cassaras, von dem Alea eigentlich gedacht hatte, er würde auf die Crucis zurückkehren, schwamm mit kräftigen Schwimmzügen in unmittelbarer Nähe. Sein Blick war dabei konzentriert auf Thea gerichtet um sie, wenn nötig, beschützen zu können. Sie schwammen eine ganze Weile, ohne dass ihre Umgebung unter Wasser interessanter wurde. Hin und wieder zogen Fischschwärme vorbei und hinterließen lustige kleine Kreisel im Wasser, doch ansonsten war nicht viel los. Alea vermutete jedoch, dass dies möglicherweise daran lag, dass Skorpionfische die Städte oder auch nur Anzeigesäulen tarnten. Aber von einem Moment auf den Anderen kam die Finde-Finja zu ihnen zurückgeschwommen: „Ich habe gefunden, was du gesucht hast.", säuselte sie. Alea nickte.
„Vielen Dank." Die Magische ließ ihre Ärmchen durch das dunkle Wasser gleiten.
„Ich bin eine Finde-Finja. Ich finde.", leierte sie nun den üblichen Spruch herunter. Bevor Alea aber auch nur ein weiteres Wort sagen konnte, zischte die Finja auch schon wieder davon. Suchend sah Alea sich um. Der Ort, an den die Finja sie geführt hatte sah genauso aus wie üblicher Meeresgrund. Nirgendwo war auch nur ein Hinweis auf eine Unterwasserstadt. Die Skorpionfische nahmen ihre Aufgabe wohl sehr ernst. Da begann der Meeresboden zu zittern, und nur wenige Augenblicke später erhob sich ein Schwarm von Skorpionfischen aus dem Nichts. Ihr Stimmungsspiel war weißlich, hatte aber keine erkennbare Form. Offenbarenschoss Alea durch den Kopf und sie reckte den Hals. Was sie im nächsten Moment jedoch zu sehen bekam, verschlug ihr komplett die Sprache. Riesige Türme, die aussahen wie gedrehte Muscheln, erhoben sich majestätisch vor ihr. Diese Stadt war keine gewöhnliche Unterwasserstadt, das wurde Alea sofort klar. Das war eine Großstadt.
„Atlantis",flüsterte der Nixenprinz plötzlich und er hörte sich mehr als nur verblüfft an. Alea fuhr herum.
„Das gibt es wirklich?" Sprachlos starrte sie den Prinzen an. Atlantis kannte sie nur von Filmen oder Kindergeschichten! Aber dass es wirklich existierte, wäre ihr niemals in den Sinn gekommen! Cassaras nickte allerdings bestätigend. „,Atlantis ist eine versunkene Landgängerstadt, genau wie Vendorra. Atlantis ist die ältere Stadt und es gibt unzählige Legenden über sie. Aber dass sie noch steht, selbst nach all den Jahren..." Cassaras zog die Stirn kraus. Fassungslos drehte Alea sich wieder zu der mystischen Stadt. Thea hatte sich wohl nicht von dem Anblick abwenden können, denn sie starrte mit offenem Mund durch das riesige Stadttor die uralten verlassenen Gassen entlang. Alea tippte ihr auf die Schulter. Offensichtlich bemüht wandte Thea sich zu ihr um.
„Das ist Atlantis" erläuterte Alea nun langsam gebärdend, denn sie konnte es selbst noch gar nicht richtig glauben. Theas Staunen wurde noch größer. Allem Anschein nach hatte sie bereits von Atlantis gehört. Verblüfft sah sie wieder nach vorn.
„Wirklich?!"
Alea nickte nur. Gefesselt von der Ausstrahlung und erbietenden Gewaltheit der ehemaligen Landgängerstadt, schwammen sie eine ganze Weile nur regungslos auf der Stelle. Schließlich war es der Nixenprinz, der sich rührte und langsam durch das Stadttor schwamm. Als dann auch Thea sich langsam in Bewegung setzte, erwachte Alea aus ihrer Starre und folgte ihnen. Andächtig sah sie sich um. Atlantis umgab, wie die meisten Unterwasserstädte, eine geheimnisvolle und harmonische Aura, aber irgendetwas schien diese Stadt doch von den Anderen zu unterscheiden. Etwas großes. An einzelnen Häusern erkannte Alea sofort, dass sie niemals von Meermenschen oder Gilfen errichtet worden waren, denn sie wiesen eine typische Landgängerstruktur auf: anders als die Muschelartigen Türme, die sonst überall durch die Stadt verteilt waren, waren sie klein und hatten spitz zulaufende Dächer. Außerdem erkannte Alea bei manchen von ihnen sogar noch die Reste von Fensterscheiben. Fasziniert sah sie sich nach etwas um, das sie als Andenken mitnehmen konnte. In eine solch legendäre Stadt kam man gewiss nicht alle Tage, außerdem würde Sammy sich furchtbar aufregen, wenn er erfuhr, dass er Atlantis verpasst hatte. „Wir sollten uns aufteilen. Sonst dauert die Suche nach einem Flex ewig", riss Lennox sie plötzlich aus ihren Gedanken. Er war ein wenig vorraus geschwommen, doch nun drehte er sich zu ihnen um, damit auch Thea verstand, was gesagt wurde. Cassaras nickte, als wäre das auch sein Plan gewesen.
„Ich bleibe bei Thea", entschied er sofort und warf dieser einen Blick zu der klarmachte, dass er sich nicht auf eine Diskussion einlassen würde. Thea schien jedoch gar nichts dagegen zu haben, denn sie zuckte nur mit den Schultern und lächelte ihn versöhnlich an. Cassaras war nicht mehr wütend, das wusste Alea anhand seiner Farben sehr genau. Dennoch machte er ein finsteres Gesicht.
„Also gut, dann sind es nur noch wir beide", stellte Lennox fest und lächelte Alea liebevoll an. Sie lächelte zurück und freute sich insgeheim sogar darauf, wieder etwas Zeit allein mit Lennox verbringen zu können.
Sie vereinbarten noch schnell, wo und wann sie einander wieder treffen wollten, dann machten Alea und Lennox sich auf den Weg zum westlichen Teil der Stadt. Gebannt ließ Alea den Blick durch die einzelnen Gassen schweifen und konnte es kaum erwarten, die Stadt etwas näher zu erkunden. Eines der alten Gebäude wirkte derart auffällig, dass Alea nicht anders konnte, als einen Blick hineinzuwerfen. Es war größer als alle anderen und ragte beinahe genauso hoch empor wie die Türme daneben. Zudem stach es wegen seiner Bauart hervor: zwischen einem Dachvorsprung waren Säulen gebaut und die Tür war doppelflügig. Sie ließ sich nur schwer aufdrücken, aber als Lennox Alea zuhilfe eilte, öffnete sie sich laut krachend. Offensichtlich war sie ewig nicht benutzt worden. Im inneren des Gebäudes war es düster, aber Aleas Augen stellten sich in Sekundenschnelle auf die Lichtänderung ein. Schon bald erkannte sie meterhohe Regale aus massivem Stein, mit kunstvoll verzierten Seitenrändern. Sie bildeten eine Art Gang der auf eine große Fläche hinführte, in deren Mitte mehrere Tische aus weißem Stein standen. Dahinter führten die Ruinen von Landgängertreppen hinauf in die zweite Etage. Staunend legte Alea den Kopf in den Nacken. Die Regale reichten bis unter die ungefähr sieben Meter hohe Decke. Wissbegierig schwamm Alea in einen der Gänge zwischen den Regalen hinein. In den Regalen lagen Muscheln, und vor sie waren Hajara-Schriftzeichen in den Stein geritzt. Dieses Gebäude war die Bibliothek von Atlantis.
Wenn Thea das wüsste!, sprach sie in Gedanken mit sich selbst, während sie mit den Fingern über die einzelnen Muscheln strich. Kurzerhand entschied sie, ihrer Schwester einige Bücher mitzunehmen und nahm einige der Muscheln an sich.
„Alea?", ertönte plötzlich die Stimme von Lennox.
„Hier!", rief Alea sofort und inspizierte weitere Bücherregale. Da erschien auch schon Lennox neben ihr. „Thea würde es hier garantiert gefallen", kommentierte er mit Blick auf die Muscheln. Alea nickte.
„Ich will ihr ein paar Bücher mitnehmen. Hilfst du mir?" Bittend sah sie ihren Freund an. Lennox lächelte bloß und nahm ihr einige Büchermuscheln ab.
„Natürlich."
Gemeinsam schwammen sie von Regal zu Regal und Alea suchte aus jeder Kategorie zwei Muscheln für ihre Schwester aus. Doch gerade als sie die Bibliothek verlassen wollten, hörte Alea plötzlich Gesang.
Doch es war nicht irgendein Gesang.
Es war Walgesang.
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