Landstraße III
Unmerklich wanderte Viviens Hand zu ihrem Mund. Trotz der aufwendig gemachten Nägel, knabberte sie an der Nagelhaut. Früher hatte sie sich schnell blutig gebissen, doch jetzt schaffte sie es das Verhalten zu beenden, bevor Sascha es sah.
Sie beobachtete, wie ihr Bruder den Kofferraum öffnete. Dann rief er Kai Harten, ihm zu helfen. Vivien hielt es nicht länger auf dem Beifahrersitz.
"Seien Sie vorsichtig! Ich nehme jetzt seine Beine", sagte Sascha zu dem anderen Mann.
"Was macht ihr denn?", fragte Vivien und trat dabei von einem Bein auf das Andere.
"Wir sperren ihn ein, solange er noch ohnmächtig ist."
Auf ein Kopfnicken seinerseits hievten Sascha und Harten den Mann in den Kofferraum.
"Ist das überhaupt sicher?"
"Nein", antwortete Harten. "Aber es verschafft uns Zeit."
"Zeit wozu?", Vivien konnte nicht ruhig stehen. Am liebsten hätte sie auf dem Absatz kehrt gemacht, um davon zu laufen.
"Wir gehen jetzt zu meinem Wagen und sehen zu, dass wir den wieder fit kriegen. Wer weiß, wann der Notdienst in diese gottverlassene Gegend kommt."
Vivien erinnerte sich. Sie griff nach ihrem Handy am Boden und wählte erneut 112. Während sie telefonierte, bewegte sich die Gruppe die Straße hinab. Ständig sahen sich die beiden Geschwister um. Jedes, noch so winzige, Geräusch ließ Vivien zusammenzucken. Sie drängte sich immer näher an ihren großen Bruder, was ihr erst bewusst wurde, als sie unsanft gegen seine Schulter stieß.
"Keine Angst, Viv. Alles wird gut", Saschas Stimme klang rau, als sei seine Kehle völlig ausgetrocknet.
Schnell löste sie sich von ihm, blieb aber in seiner Nähe. Die Dunkelheit war ihr unheimlich und nur ihr Smartphone spendete etwas Licht. Das ihres Bruders hatte sich mit leerem Akku verabschiedet. Ihr Atem ging unruhig und sie erwartete hinter jedem Busch am Straßenrand einen neuen Angreifer. Was hatte dieser Mann von ihr gewollt? Vielleicht war er nicht allein. Vielleicht lauerte sein Komplize auf seine Gelegenheit. Der Ruf eines Kauzes schreckte Vivien auf. Sie warf den Kopf nach links. Etwas huschte durch das Unterholz. Scharf rang sie nach Luft. Vivien meinte eine menschliche Silouette erkannt zu haben, aber als sie die Stelle beleuchtete, entdeckte sie nichts.
Sie wollte sich an Sascha wenden, der aber so souverän schien, dass sie sich albern vorkam. Deshalb schwieg sie. Dass er den Baseballschläger völlig verkrampft umklammert hielt, fiel ihr dabei nicht auf.
"Was ist?", fragte Sascha.
Er musterte aufmerksam das Waldstück.
"Nichts. Da ist nichts", sagte sie leise.
"Gut", er betonte das Wort besonders, ließ seine Augen aber nicht von der Richtung des Kauzschreis. Hatte er etwa auch etwas gesehen? Sascha beschleunigte seine Schritte bis er gleichauf mit Harten lief.
"Wie geht es Ihrer Kopfverletzung?"
"Den Umständen entsprechend, würde ich sagen", antwortete Harten. "Was treibt Sie eigentlich in diese gottverdammte Gegend?"
"Wir fahren nach Hause. Und Sie?"
"Eine Verabredung. Es ist gewissermaßen ein Klassentreffen, wo mich viele alte Freunde erwarten", trotz der Dunkelheit sah Vivien, die ebenfalls aufgeholt hatte, wie ein seliges Lächeln Hartens Lippen umspielte.
Im Straßengraben lag eine alte Rostlaube. Zumindest in Viviens Augen. Es wunderte sie, dass es das Ding in den Graben gestürzt war, ohne auseinander zu fallen. Sie näherten sich dem Wagen. Vivien beleuchtete das Gefährt. Kai Harten öffnete die Tür zur Rückbank.
"Ich bin euch beiden sehr dankbar für eure Hilfe, wisst ihr?", Harten sprach weiter, während er sich in das Auto beugte.
Plötzlich fühlte Vivien die Hand ihres Bruders an ihrem Arm.
"Wenn ich es dir sage, läufst du so schnell du kannst weiter die Straße entlang! Verstanden?", wisperte ihr Sascha ins Ohr.
"Was redest du da?"
Doch ihr Bruder antwortete nicht. Gespannt näherte er sich Harten, wobei er den Baseballschlager im Anschlag hielt.
"...glücklicher Zufall, dass ihr hier liegen geblieben seid", hörte Vivien ihn sagen, die sich weiter von den beiden Männern entfernte, wie ihr Sascha mit einem Handzeichen bedeutete.
"Jetzt!", befahl Sascha und schlug noch im gleichen Atemzug nach Harten. Der jedoch war schneller, duckte sich unter dem Schlag hindurch und rammte ihm seine Faust in den Bauch. Sascha krümmte sich. Wieder versuchte er auszuholen, doch Harten drehte ihm den Schläger aus den Händen. Und prügelte damit auf ihn ein. Bei jedem Schlag auf den Kopf spritzte das Blut die Tür des Autos hinauf, zusätzlich verteilte es sich im Gras des Straßengrabens.
Vivien lief nicht. Sie schrie wie am Spieß.
In einem letzten Versuch, Viv zu beschützen, trat Sascha mit aller Kraft gegen das Schienbein Hartens. Als der andere Mann tatsächlich auf die Knie fiel, trat Sascha erneut zu. Zwischen die Beine. Harten jaulte auf wie ein geprügelter Hund, stürzte sich aber gleichzeitig wieder auf Sascha. Vivien löste sich aus ihrer Starre. Sie sprintete zu ihrem Bruder zurück. Im Lauf sprang sie Harten an, der sie aber mit einer kräftigen Ohrfeige hinter sich fegte. Unglücklich schlug sie auf einem Stein auf und ihr wurde schwarz vor Augen.
Harten würgte Sascha bis dieser aufhörte zu zappeln. Als ihm das Leben entwich, erhob sich Harten ächzend. Er stieg über die Leiche, um Kabelbinder aus dem Kofferraum zu holen. Er hoffte, dass Vivien noch nicht tot war. Er liebte es seinen Opfern in die Augen zu sehen, bevor sie diese Welt verließen. Das ungeplant vorzeitige Ableben ihres dämlichen Bruders ärgerte ihn. Doch genau genommen war es seine eigene Unachtsamkeit. Der 'Unfallwagen' befand sich etwa sieben Meter vom nächsten Baum entfernt.
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