Im Archiv I

Es raschelte etwas, als Ulrich Reupke die Seite des Buchs behutsam umlegte. Er trug weiße Handschuhe und einen Mundschutz. Das Werk war zwar bei weitem nicht das älteste Stück im Archiv, aber das Interessanteste, das Reupke seit langem unter gekommen war. So interessant, dass er dem Buch mit dem simplen Titel 'Gotha Manifest' seinen Feierabend widmete. Der Einband bestand aus dunkelbraunen Leder und die goldene Schrift stand etwas hoch, sodass man die Wörter, fuhr man darüber, ertasten konnte.

Die magische Anziehungskraft, die das Werk verströmte, ließ sich aber nicht auf sein Äußeres beschränken. Sein ganzer Inhalt war rätselhaft. Es gab keine Hinweise auf Verlag oder Veröffentlichungsdatum und auf den Autor wies nur das handgeschriebene Kürzel "GvE" hin. Trotzdem verrieten Schrift sowie Ereignisse, auf die sich das Buch bezog, dass es wahrscheinlich um 1820 in Thüringen gedruckt worden war. Soweit er bisher gelesen hatte, richtete sich der Autor an eine bestimmte Gruppe. Dabei musste es sich nicht nur um ein radikal konservatives, sondern auch gewaltbereites Publikum handeln. Stellen, bei denen es vermutlich konkreter wurde, waren kodiert. Die Geheimschrift enthielt einige Buchstaben mit zusätzlichen Strichen und Punkten, die völlig willkürlich schienen. Allerdings war Reupke auch alles andere als ein Fachmann für Kryptologie. Er drückte seinen schmerzenden Rücken durch, bevor er aufstand. Noch in der Bewegung streifte er Handschuhe und Mundschutz ab. Die Uhr an der Wand zu seiner Rechten zeigte zehn Minuten vor Mitternacht. Er sollte endlich nach Hause zu seiner Katze fahren, weshalb er sich vornahm, nur noch ein weiteres Kapitel zu lesen. Aber zuerst brauchte er eine kurze Zigarettenpause, wofür er den Leseraum mit den dicken roten Vorhängen und dem riesigen Mahagoni Tisch verließ. Sein Weg führte ihn über einen endlos langen Flur, der in einer Treppe mit auffallend schönen Schnitzereien im Geländer mündete, ins Erdgeschoss.

Das Stadtarchiv war teilweise automatisch beleuchtet. Allerdings haben verlassene Gebäude dieser Größe zu dieser Uhrzeit von Natur aus etwas Unheilvolles an sich. Tagsüber stecken sie voller Leben. In den Büros wird gearbeitet, Ausstellungen werden geplant, Bücher gesichtet und Interessierten bereit gestellt. Doch dann verlassen erst die Besucher, die etwas über ihre Familiengeschichte erfahren wollen, dann die Angestellten das Archiv. Dann ist es still. In einigen Gängen schaltet sich das Licht aus, sodass die Dunkelheit das Gebäude vereinnahmt, nur bekämpft von einigen Lampen, die die ganze Nacht brennen. Ein übermüdetes oder fantasievolles Gehirn mag glauben, vorüberhuschende Schatten zu sehen oder Schritte hinter sich zu vernehmen, die immer schneller werden. Es sind die Eigenen. Ganz sicher.

Das Gefühl des Unwohlseins küsste seinen Nacken, dass sich die Härchen aufrichteten. Reupke aber rechtfertigte das Gefühl mit der entgegen wehenden Kälte der Nachtluft, als er die Tür des Hintereingangs aufstieß. Sie war so schwer, dass sie ihm sofort wieder entgegen kam und er den linken Fuß als Keil benutzen musste. Er schob sich die Zigarette zwischen die Lippen, dann leuchtete das warme Licht des Feuerzeugs auf. Gedanklich befand er sich schon wieder bei dem Buch, als er den ersten Zug inhalierte. Handelte es sich bei GvE um ein Pseudonym? Jemand, der Wert auf Geheimschrift legte, würde sich wohl kaum mit seinen echten Initialen verewigen. Andererseits sprach sich der Autor mehr als deutlich gegen Burschenschaften und den aufkommenden Nationalismus aus, was ihm unter der herrschenden Klasse nur Freunde einbringen konnte. Oder er war selbst Teil davon.

So starrte er in die Dunkelheit. Etwa 150 Meter von ihm entfernt, endete der Schotterweg der sonst grün gestalteten Außenanlage, die das ganze Archivgebäude umschloss, abrupt. Am hellichten Tag hätte man gesehen, wie sie in schroffes Gestein überging und beinahe senkrecht abfiel. Dieser Abgrund war nur vom Hintereingang einsehbar und lediglich durch einen hüfthohen Zaun gesichert. Die nächsten Wohnhäuser andererseits befanden sich in einiger Entfernung Richtung Tal. Und besonders um diese Uhrzeit wirkte die ganze Umgebung gespenstisch verlassen. Reupke zog zwei Mal kurz hinter einander, dann drückte er die Zigarette am metallenen Standaschenbecher aus. Er wollte gerade den Fuß aus der Tür nehmen, um ins Gebäude zurückzukehren, als er etwas hörte. Es war das Geräusch von Schritten, die hastig auf ihn zu liefen. Nein, es war eher wie ein schnelles Humpeln. Aus einer Richtung, die nicht sein konnte, denn er war doch allein. Jemand kam von hinten. Aus dem Gebäude.

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