Die Tätowierung V
Vanessa und Faiyaz erreichten das Tattoostudio um halb zwei Uhr nachts. Das Stadtviertel sprühte vor Lebensfreude, die Vanessa sicher angesteckt hätte, schöbe sie sich nicht so zielsicher an den Feiernden vorbei. Das Studio war unbeleuchtet.
"Was willst du denn überhaupt hier?", fragte ihr Mitbewohner, während er sehnsüchtig zu den Pubs und Bars der Straße blickte.
Vanessa schloss die Tür auf, obwohl sie annehmen musste, dass Pen bereits nach Hause gefahren war. Sie ließ das Licht aus.
"Weshalb sind wir hier?", wiederholte Faiyaz.
"Ich habe einfach ein ungutes Gefühl, kapiert?"
"Schon gut", er hob abwehrend die Hände.
Schweigend betraten sie das Studio. Der Ledersessel, der Tresen, die restliche Einrichtung, die Fotos und Skizzen an der Wand. Alles wirkte seltsam verlassen. Angespannt näherte sie sich dem hinteren Bereich, auf den durch eine vorstehende Wand der Blick verwehrt wurde.
"Was zum...?", als sich Vanessa herum drehte, sah sie, dass Faiyaz das rechte Bein in der Luft hielt. "Sag mal, wischt ihr immer so?"
Jetzt schaltete sie den Lichtschalter doch ein, obwohl sie das Gefühl hatte, sich zu verraten. Ihr Mitbewohner stand in einer Pfütze durchsichtiger Flüssigkeit, die ihm beim Hineintreten das Hosenbein hoch gespritzt war. Vanessas Miene verfinsterte sich, denn sie wischte meist morgens vor Öffnungsbeginn und Pen hätte eine einzelne Pfütze nicht einfach so übersehen.
"Ich...", begann sie, aber Faiyaz unterbrach sie.
"Das riecht auch so seltsam. Was benutzt ihr denn für Zeug?"
Angewidert schritt er zurück. Vanessa beugte sich über die Lache und sog die Luft ein. Mit einem Laut des Ekels richtete sie sich auf und rieb ihre Nase.
"Das riecht penetrant salzig", stellte sie fest. "Als würde es einem gleich ins Gehirn ziehen."
Jetzt musste sie ihr Gewissen befriedigen und stand nach ein paar schnellen Schritten im Tattowier-Bereich. Dort schlug sie die Hand vor den Mund. Pen lag auf dem Boden. Das Griffstück der Tätowiermaschine hielt er immer noch mit der Hand umkrallt. Doch diese Hand war bleich und ausgemergelt wie alles an dem leblosen Körper. Am Hals traten die Adern blau hervor. Vanessa wandt sich ab und fiel Faiyaz, der gerade den Bereich betrat, in die Arme. Sie schluchzte und ihre Tränen durchnässten sein Hemd. Als ihr eine Träne über die Lippen lief, löste sie sich ungläubig von Faiyaz, der ohnehin ein wenig verunsichert gewirkt hatte.
"Ich glaube, ich weiß, was das für eine Lache ist", sagte sie und wischte mit beiden Zeigefingern unter ihren Augen entlang. "Es sind Tränen"
"Was? Das ist doch Unsinn du hast doch gesehen, wie viel das ist!", sagte Faiyaz und wählte 112 auf seinem Handy, um die Polizei zu alarmieren. Vanessa schniefte, war aber überzeugt die richtige Spur zu haben. Es war Tränenflüssigkeit. Da war sie sich sicher. Wo die herkam, war zeitgleich aber unerklärlich. Die blonde Psychobraut musste ihre Finger im Spiel haben. Was war das für ein Tattoo gewesen, dass Pen ihr unbedingt hatte stechen sollen? Angestrengt suchte sie mit den Augen den Raum ab, wobei sie sich zwang, nicht immer wieder auf die Leiche zu starren. Sie ging ein Stück an der Wand entlang, als sie schließlich entdeckte, was sie suchte. Einen Zettel, auf den Pen ein paar Handübungen gezeichnet hatte. Sie streckte die Hand aus.
"Fass' das nicht an!", donnerte Faiyaz. "Das ist ein Beweismittel!"
"Jaja, Mr. Jura-Experte", murmelte sie, nahm aber ihren Ärmel, um das Papierstück aufzuheben.
"Was du da tust, ist..."
"Was zur Hölle?", murmelte Vanessa, die ihren Mitbewohner geflissentlich überhörte. In schnörkelloser Schrift stand da: Tugann mé bás do theaghlach Buckley. Das war keine Skizze, das war eine Botschaft. Vielleicht hatte Pen versucht, ihr etwas mitzuteilen.
"Wie gut ist dein Gälisch?", fragte sie halbernst, denn ihr Schulwissen war äußerst eingerostet.
"Du verar...", Faiyaz Blick fiel auf die Leiche. "Ich meine, ich habe keine Ahnung."
"Ich brachte, nein, bringe", versuchte Vanessa die Worte zu entziffern. Entschied sich aber doch für eine schnelle Internetsuche. Ihre Augen weiteten sich ungläubig, während sie las, was eine Übersetzungsfunktion ihr ausgespuckt hatte.
"Ich bringe den Tod in die Familie Buckley."
Jetzt verstand sie, was das für eine Blondine gewesen war. Weshalb Pen so ein nervliches Wrack gewesen war. Weshalb bei dem Tresen eine Lache voller Tränen war. Ihre Mutter hatte ihr zum Einschlafen immer mythologische, alte Geschichten erzählt. Obwohl Vanessa eigentlich aus dem Alter für Märchen heraus gewachsen sein musste, beschäftigte sie die Thematik bis heute. Die Bleistiftzeichnung, die Zuhause auf dem Schreibtisch lag, zeigte eine Banshee. Eine Geisterfigur, die den bevorstehenden Tod ankündigt. Und sich oft an eine bestimmte Familie hängt. Die Banshee hatte sich gewissermaßen von den Buckleys ernährt.
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