Die Höhle VI

Sofort horchte ich ebenfalls. Von irgendwo her tropfte es regelmäßig, doch dazwischen hörte ich dumpfe Rufe. Genau erkannte ich die Stimmen nicht. Sie schienen menschlich und die Laute erinnerten an unsere Namen. Das genügte mir. Ich brüllte, so laut wie ich konnte, zurück. Amar stimmte ein. Abrupt verstummten wir, um eine Antwort abzuwarten.

Nie zuvor war ich so erleichtert Felis heisere Tonlage zu hören.

"Wo bist du? Du hörst dich an, als wärst du nicht so weit weg!", rief ich, während ich mein Ohr an eine der eben verschobenen Wände legte. Das konnte nicht sein. Wir waren dieser Kammer doch gerade erst entkommen.

Amar drängte sich neben mich.

"Seid ihr da? Elena, du auch?"

"Sie ist bewusstlos", antwortete Feli stellvertretend. "Ich muss sie stützen."

"Was ist passiert?", fragte ich und meine Finger krallten sich so fest um einen Felsvorsprung, dass die Knöchel weiß hervortreten.

"Die Decke kommt runter...?", Felis Stimme klang irritiert.

"Und da hat sie sich verletzt, ja?", fragte ich.

"Nein, verdammte Scheiße! Hier kommt uns die Decke entgegen!"

Amar und ich sahen uns schockiert an. Dann blickten wir ebenfalls nach oben. Kurz bildete ich mir ein, Bewegung auszumachen, tatsächlich geschah nichts.

"Verdammt, was soll ich machen? Leute, scheiße, was soll ich tun?"

Feli verlor langsam aber sicher die Nerven. So hatte ich sie nie erlebt. Ihr Selbstvertrauen und ihre unerschütterliche Zuversicht waren gewöhnlich verlässlich. Sie hatte uns durch Hamburg gelotst, als wir vor einem Jahr hin gefahren waren- und uns prompt verfranzten.

'Bewegt dich', beschwor ich das Gestein. Welche Mechanik bewegte die Wände? Wie wurde sie ausgelöst? Nicht zu vergessen, welche kranken Menschen eine solche Höhle erbauten.

In einem verzweifelten Ausbruch schlug ich gegen die Wand. Energisch genug, um mich dabei zu verletzen, denn davon laufen durfte ich nicht. So sehr ich wollte. Die Hilflosigkeit machte mich wahnsinnig.

Plötzlich riss mich Amar zurück.

"Die Wände bewegen sich wieder. Die, die vorhin zu gegangen sind."

Sie öffneten sich wirklich, sodass Hoffnung aufkeimte.

"Lass' es nicht zu spät sein!", rief ich gen Himmel.

Als sich das V wieder herum klappte, lagen Elena und Feli flach auf dem Boden. Felicitas keuchte und starrte uns, trotz des Lichtkegels, mit weit aufgerissenen Augen entgegen. Elena daneben rührte sich nicht. Die Decke rückte unregelmäßig näher, als Stimme ein Uhrwerk nicht. Wie Amar es bei mir getan hatte, packten wir nach den Armen unserer Freunde und zerrten sie zu uns. Elenas Hand fühlte sich seltsam kalt an.

Vorsichtig richtete ich meine beste Freundin auf.

"Bienchen", nuschelte sie, als sie erneut nach vorn fiel.

Diesen Spitznamen verdankte ich meinem Nachnamen. Normalerweise ärgerte er mich, weshalb ihn Elena nicht mehr verwendete, aber jetzt zeigte er mir, dass Elena noch einigermaßen klar denken konnte.

"Bin da", murmelte ich beruhigend.

"Mein Fuß. Bienchen, siehst du den irgendwo?"

Automatisch wand sich mein Blick der Stelle zu, die bisher nicht beleuchtet gewesen war. Der linke Fuß fehlte. Das Ende ihrer Jeans war Blut durchtränkt. Den abgequetschten Stumpf sehen, wollte ich und ertrug ich gar nicht erst. Vorher übergab ich mich. Elena selbst blieb kurz ohne Hilfe stehen, bevor Feli und Amar ihr unter die Arme griffen und dem Gang folgten.

Mit Tränen in den Augen wischte ich mir den Mund ab und folgte.

"Ich muss hier raus! Scheiße, ich dreh' durch!", zischte Feli leise. Dabei starrte sie unablässig zur Decke.

Ein kleines Steinchen traf mich im Nacken. Dann ein weiteres. Das machte mich nervös. Auch Feli schien es so zu gehen, denn sie beschleunigte Schritte immer weiter.

"Da!", rief Amar unerwartet aus. "Da ist Licht. Ich glaube das ist der Ausgang!"

Nie war mir Tageslicht schöner erschienen, als in diesem Moment. Gleichzeitig wurde ein Glücksgefühl niemals so schnell zerstört. Die Steinchen wurden größer. Hinter uns grollte es bedrohlich. Ich überholte meine Freunde, denn der Gang war breit genug dazu, allerdings war die Decke nicht sonderlich hoch. Ob sie sich bewegte, konnte ich nicht sagen, denn ich hatte sprichwörtlich einen Tunnelblick.

Ich hörte Amar hinter mir husten, dann wurden auch mwine Atemwege gereizt.Aus dem hinteren Gang rollte eine Geröllwolke heran, die uns einhüllte. Jetzt verstand auch ich, was geschah. Die Höhle stürzte ein.

Wir liefen so schnell, wie es uns möglich war. Neben mir stürzten Felsbrocken herab, die ich um springen musste. Etwas hartes prallte auf meinen Rücken, aber ich sah mich nicht um. Einen Sinn hätte es ohnehin nicht gehabt, denn mein Handy glitt mir, bei dem Versuch meinen Kopf zu schützen, aus der Hand. Das einzige Licht, das ich erkennen konnte, drang durch den schemenhaften Ausgang.
Gebückt bewegte ich mich vor, fast versucht auf allen Vieren zu laufen, weil ich glaubte, so schneller zu sein. Als ich auf die Kante eines Steins trat, verlor ich das Gleichgewicht, prallte gegen die Wand, lief aber weiter meinem Ziel zu.

Dann spürte ich Moos unter meinen Füßen. Das Licht umflutete mich. Und ich tauchte ganz ein, als ich in Freiheit lief. Gute zwanzig Meter stürmte ich noch in den Wald, der davor lag. Schließlich wand ich mich um.

Den letzten Anblick meiner Freunde werde ich nie vergessen. Er wird mich auf ewig quälen. Ich bin keine Heldin. Und wenn es einen Gott gibt, werde ich sicherlich in die Hölle kommen. Daran erinnert mich dieser Moment.

Ich sehe zurück zu dem Höhlenausgang. Elena schleift zwischen Feli und Amar, die nicht loslassen. Sie nicht zurücklassen. Ihr beistehen. Sie sehen nicht mich an. Sie starren ins Licht. Ein Ziel vor Augen, dass sie, koste es, was es wolle, gemeinsam, erreichen wollen.

Sie starben in dieser Höhle. Gemeinsam. Ich habe sie im Stich gelassen und werde es mir niemals verzeihen. Die Angst war schuld. Und der Tunnelblick. Das erzählte ich auch den Rettungskräften, als sie mich fanden, aber sollte ich jemals Rechenschaft ablegen müssen, weiß ich nicht, ob meine Todesangst dazu ausreichend ist.

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