Die Höhle V

Amar hatte recht. Hier gab es unter keinen Umständen ein Fortkommen. Es sei denn, man könnte sich in Luft auflösen und ich hätte gewusst, wenn die beiden eine solche Fähigkeit gehabt hätten. Wir kannten uns seit der fünften Klasse und vertrauten uns so gut wie alles an. Vielleicht waren wir "die Außenseiter", aber dieses Label schweißte uns lediglich enger zusammen. Wir gegen den Rest der Welt.

"Felicitas? Elena?", rief ich, ohne eine Antwort zu erhalten.

"Was machen wir jetzt?", fragte Amar unsicher.

"Ich weiß es nicht", gestand ich und wollte mich an ihm vorbeizwängen, doch als ich den Blick wieder zurück wand, irritierte mich der Anblick nur noch mehr.

"Amar, sag' mal ehrlich, bin ich verrückt? Mach ich irgendwie einen durchgeknallten Eindruck auf dich?"

"Nicht mehr als sonst", witzelte er, allerdings war keinem von uns zum Lachen zumute.

Der schmale Gang, dem wir bis zu der Felswand gefolgt waren, erschien mir plötzlich verändert. Ich konnte mir nicht erklären, wieso der Abzweig, der uns in die Sackgasse geführt hatte, verschwunden war. Jetzt verlief der Gang schurgerade tiefer in die Eingeweide der Höhle. Wie konnte das sein? Vielleicht hatten die Schatten unserer Handytaschenlampen meinem Orientierungssinn ein Schnippchen geschlagen.

"Ich hätte auch schwören können, dass es jetzt nach rechts gehen müsste, weil wir ja von links gekommen sind", damit versicherte mir mein Freund, dass ich nicht durchdrehte. Zugegeben, es wäre mir lieber gewesen, ich hätte unrecht gehabt, denn nun gab es keinen Ausweg aus der Höhle, um Hilfe zu holen. Fragend sah ich Amar an, der erst mit den Schultern zuckte, dann aber voran ging. Ganz nach dem Motto: "Es gibt eh keinen Plan B".                                                                  Während wir liefen, drängelte ich mich so nah wie möglich an ihn und obwohl er das unter normalen Umständen wohl zurück gewiesen hätte, war er vermutlich ganz froh darum. So konnte keiner von uns verloren gehen.

Ich hörte Amars unruhigen Atem, spürte meinen schnellen Herzschlag. Irgendetwas stimmte mit dieser Höhle nicht. Niemand konnte uns entdecken, wenn sich die Gänge verschoben. Wir konnten Feli und Elena nicht finden. Wir konnten nicht hinaus. Wir würden in diesem Labyrinth sterben. Stoisch aber tropfte Wasser von der Decke, als lachte die Höhle Tränen, weil wir so dumm gewesen waren, sie zu betreten. Plopp. Plopp. Das Geräusch machte mich aggressiv. Ich verlor jegliches Zeitgefühl, stattdessen zählte ich mit geballten Fäusten Tropfen.

"Da vorn geht's nach rechts. Oder wollen wir weiter geradeaus laufen?", fragte Amar.

"Ich will hier raus!", fauchte ich, statt eine Antwort zu geben. "Warum hab' ich mich bloß zu dieser Scheiße überreden lassen?" Misstrauisch beobachtete ich die Felswände.                                  "Scheiße, glaubst du die quetschen uns ein?"

"Wer?"

"Die Wände, du Idiot. Wenn die sich verschieben, dann kann es doch sein, dass...", ich verstummte, weil mein Gedanke zu grausam war, ihn auszusprechen. Es konnte doch sein, dass so eine Wand Elena und Feli eingeklemmt und getötet hatte. Als könne ich dieses Schreckgespenst vertreiben, schüttelte ich den Kopf.

"Wohin jetzt?", wiederholte Amar ängstlicher. Bevor ich antworten, erklang ein leises Knirschen. Vor sechs Jahren hatten Elena und ich Parfüm herstellen wollen, wofür wir Rosenblätter mörserten. Verbotenerweise bedienten wir uns an den Pflanzen meiner Mutter, die uns dafür mit einer Strafpredigt bedacht hatte. Das Geräusch begleitete völlig widersprüchliche Situationen. Seltsam.

Die Wände zu meinen Seiten verschoben sich. Je länger Amar und ich überrascht schlicht nur da standen, desto deutlich wurde die V-Formation, die sie bildeten. Wenn sie sich vor uns schlossen, waren wir eingesperrt. Ich versetzte meinem Freund einen Stoß, sodass er auf die andere Seite kam, wo sich die Spitze nun langsam schloss.

"Komm' rüber!", seine Stimme klang seltsam schrill.

Ich bewegte mich vorwärts, aber der Spalt war kaum mehr anderthalb Fuß breit. Schnell warf ich meinen Rucksack hinüber und folgte fast augenblicklich.

"Ich stecke fest!"

"Weiter!", war die einzige Antwort von Amar, der mich zusätzlich noch am Handgelenk packte, um mir zu helfen.

Ich spürte wie die Felsen noch einen Zentimeter näher rückten. So wollte ich nicht sterben. Klingt komisch, aber so einen Abtritt hatte ich mir nicht vorgestellt. So heftig, wie es mir möglich war, warf ich mich Richtung Amar. Deshalb verlor ich das Gleichgewicht und stürzte. Mein linkes Bein befand sich noch zwischen den beiden Felswänden, aber Amar packte mich unter den Armen und zerrte ich mit aller Kraft nach hinten. Dabei riss die Haut auf, allerdings war mein Bein sonst in Sicherheit. Ohne weiter darüber nachzudenken, fiel ich ihm um den Hals. Er blieb ruhig stehen. Dann schob er mich sanft von ihm weg.

"Was ist?", fragte ich, denn er sah zur Decke.

"Hast du das nicht gehört?"

"Was denn?"

"Ich hätte schwören können, dass jemand unsere Namen gerufen hat!"



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