Chupacabra II
Das Land der Sullivans war nicht sonderlich groß. Bei einem Abendessen hatten sie erzählt, dass die Farm durch Verkauf schon 70% ihrer ursprünglichen Weitläufigkeit eingebüßt hatte. Dies bedeutete jedoch keineswegs, dass der verbleibende Besitz schnell zu durchqueren war. Der Besuch beim nächsten Nachbarn kostete mit dem Pick-up über eine Stunde, eine Fahrt in die Stadt mindestens doppelt so viel.
Da Aada nur bedingt sattelfest war, begnügten sich die Mädchen mit einem lockeren Arbeitstrab. Hurley folgte ihnen mit heraus hängender Zunge.
Sie ritten die Zäune ab, um nach Löchern zu suchen, durch die einzelne Tiere hätten ausreißen können. Zugegeben, viele Tiere besaßen die Sullivans nicht mehr. Verkauft. Hin und wieder sahen sie von weitem ein Grüppchen Schafe unter einem Baum stehend. Ursprünglich war der Anbau von Baumwolle das Hauptertragsmittel der Farm, doch die Äcker waren teils verkauft, teils nicht bepflanzt worden.
"Daran könnte ich mich gewöhnen!", schwärmte Aada.
Sie hing weit nach hinten gebeugt im Sattel und beobachtete die Wolken am Himmel.
"Besser nicht. In vier Tagen geht es über den Interstate 35 nach San Antonio."
Aada verdreht die Augen über ihre Freundin.
"Halt!", unterbrach Helena. "Hörst du das?"
Aada hielt inne und lauschte. Es war ungewöhnlich still. Sie wollte gerade fragen, was Helena mit der Frage bezwecken wollte, als sie tatsächlich etwas vernahm. Schreie. Eines Säuglings?
"Ist das... ein Baby?", fragte Helena irritiert.
Aada schüttelte den Kopf: "Wie soll das bitte hier her kommen?"
Ohne Vorwarnung sprang Hurley zwischen ihnen hervor, sodass Helenas Pferd einen schnellen Satz zur Seite tat, aber nicht durch ging.
Aada pfiff ihm hinter her, doch der Hund jagte geradewegs der Quelle des Schreis entgegen.
Ein kurzer Blickwechsel reichte für die Freundinnen zur Verständigung aus und Helena galoppierte Hurley nach. Aada folgte ihr langsam.
Helenas Hand zitterte vor Aufregung, weshalb sie wirklich froh war, dass ihr das Reittier gehorchte. Hurley kläffte inbrünstig, während er um etwas im Gras liegendes herum sprang. Sie atmete doch erleichtert aus, denn es handelte sich um ein Lamm. Das Tierchen hatte sich in Resten eines Maschendrahtzauns verworren und schrie um Hilfe wie ein menschliches Kind.
"Du Armes!"
Helena sprang von ihrem Pferd herab. Schnell musste sie das zappelnde Tier festhalten, damit der Draht nicht tiefer in die zarte Haut schnitt. Beruhigend sprach sie auf das Lamm ein, während sie es vorsichtig vor dem Aufspringen hinderte.
"Verdammt, das sieht nicht gut aus!", meinte Aada, die gerade ankam. "Wir müssen den Draht aufschneiden!"
So griff sie nach den Satteltaschen und fischte eine kleine Drahtschere heraus. Sie kniete sich neben das Lamm, das mittlerweile zu schwach war sich zu wehren. Knackend trennte sie den Draht auf.
"Es ist ganz kalt!", sagte Helena.
"Nimm deine Jacke. Es muss warm bleiben!"
Aada war auf einem Ökobauernhof etwa eine halbe Stunde von Turku aufgewachsen, was ihnen jetzt besonders zugute kam. Mit den begrenzten, ihr zur Verfügung stehenden, Mitteln verband sie die Verletzungen. Nebenbei tastete sie den kleinen Körper ab. Das Lamm rührte sich kaum. Hurley beschnupperte es vorsichtig.
"Wir müssten es zu einem Tierarzt bringen", meinte sie. "Hast du Netz?"
Helena zog ihr Smartphone aus dem Stiefelschaft. Doch wie vermutet zeigte es nichts Brauchbares an.
"Perkele!", kommentierte Aada, denn Helenas enttäuschter Gesichtsausdruck war unübersehbar gewesen.
"Eine von uns könnte mit dem Lamm zur Straße laufen und in die Stadt trampen."
"Glaubst du ernsthaft, dass ein normaler Mensch anhalten würde, wenn da ein Mädchen mit einem blutigen Lamm am Straßenrand steht?"
"Was dann?", fragte Helena aufgeregt.
Aada überlegte. Die einzige realistische Möglichkeit erschien ihr die Rückkehr zum Farmhaus zu sein. Dort gab es ein sauberes Erste Hilfe Set, zusätzlich zu einer warmen Umgebung. Sie teilte Helena ihre Einschätzung mit. Daraufhin nahm Helena das hilflose Lamm auf den Arm. Es atmete leise. Kaum hörbar.
Aada fing die Pferde, die sich ein paar Meter entfernt hatten wieder ein und half Helena beim Aufsteigen. Als wären die gegebenen Umstände nicht schon fürchterlich genug, begann es auch noch zu regnen. Der Wallach schüttelte unwillig den Kopf, als die größer werdenden Tropfen sich in seiner Mähne sammelten und auf den Boden sickerten.
Aada blickte zu Helena herüber, die sich schützend über das Lamm beugte. Dann zog sie ihrerseits die Jacke aus, drängte den Wallach näher an Helena heran und hängte ihr das Kleidungsstück über die Schultern.
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