Kapitel 14

Wir brachen in den frühen Morgenstunden eines Spätsommertages auf. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, über den Ebenen lagen dünne Nebelschleier und vermengten sich mit dem Qualm der letzten glimmenden Feuer.

Nur Muala, Thiema und Zira wollten zurück zum See. Die jüngste Schwester Hilla zog es vor, sich in den wüsten Landen umzusehen. Ich bat sie, für mich zur Friedensallee zu gehen, um dort meine Grüße zu bestellen. Hilla war clever genug. Sie würde sich zurecht finden.

Ich begleitete Walmö und die drei Schwestern zum Platz an der Alster. Wollte ich doch meinen Lohn kassieren, den Walmö mir zugesagt hatte. Ich wollte dieses Bötchen. Nur war der Weg dorthin für mich deutlich länger, als es der Weg von dort zum Bahnhof gewesen war. Als wir damals aufgebrochen waren, hatten wir eines der wendigen Kleinboote genommen. Schnell, leise, gut zu verstecken. Leider bot es nur Platz für maximal drei Personen. Wir waren aber zu fünft.

Zira, die zweitjüngste, bot sich an, den Weg über Land mit mir zu gehen. Zuerst dachte ich, das sei die schlechteste Wahl für mich, denn ich hielt Zira für die Dümmste der Schwestern. Sie nuschelte, war ungeschickt, geradezu tollpatschig, und schwer von Begriff war sie auch. So stand ich noch eine Weile mit der jungen Frau am Ufer und sah dem entschwindenden Boot nach. Seufzend wandte ich mich nach Norden und ging einen ausgetretenen Pfad entlang, der nah dem Ufer lag. Zira folgte mir schweigend. Der Pfad endete irgendwann im dichten Gestrüpp und ich nahm mein Schwert, um uns einen Weg zu bahnen. Mehrmals hatte ich während des Marsches versucht mit dem Mädchen ein Gespräch zu beginnen, aber sie antwortete nicht.

Erst als wir uns für einen Augenblick zusammen in die Sonne einer sandigen Lichtung setzten, um frisch gebrochene Lavendelpflanzen zu bündeln und zusammenzubinden, wurde mir klar, dass Zira mich nicht hören konnte. Als ich sprach starrte sie intensiv auf meine Lippen und antwortete mir dann mit einiger Verzögerung. Um wenigstens irgendetwas mit ihr zu reden, hatte ich sie gefragt, ob sie froh sei, wieder nach Hause zu kommen. Da hatte sie gelächelt und mit „Ja, froh!" geantwortet.

Um mich zu vergewissern, fasste ich an mein Ohr und zeigte auf sie. Zira fasste an ihre Ohren, hob bedauernd die Handflächen zum Himmel und schüttelte den Kopf. Nachdem ich sie um Erlaubnis gebeten und ihre Ohren untersucht hatte, war mir klar, dass sie stocktaub sein musste. Ihre Trommelfelle waren zerstört. Mühsam entlockte ich ihr, dass es ihr Vater gewesen war, der sie derart gestraft hatte. Welcher? Jyto! Auf meine Frage nach dem Warum zuckte sie nur die Schultern. Sie hatte mich verstanden, kannte die Antwort aber nicht. Warum? Warum durchsticht ein Mann seiner Tochter die Trommelfelle? War sie zu wild gewesen? Wollte er sie für immer an den Platz und somit an sich binden? Nur Jyto selbst würde diese Frage beantworten können. Und ich war fest entschlossen, sie ihm auch zu stellen. Ob ich das auch tun würde, wenn ich ihm gegenüber stand, ob es dann noch wichtig war nach dem Grund zu fragen, wer konnte das schon sagen?

Der Rest unseres Weges verlief mühsam aber ereignislos. Unterwegs pflückten wir gemeinsam viele Heidelbeeren. Einiges davon aßen wir gleich, einen guten Teil nahm ich mit, um die Beeren zu trocknen. Sie wirken prima gegen Spulwürmer. Ich genoss die Ruhe des Umherwanderns. Zu lange war ich in diesem belebten, von Menschen übersiedelten Bahnhof gewesen. Zu laut. Zu stinkig. Zu eng. Hier konnte man wieder tief durchatmen. Zira ging es genauso. Auch sie breitete manchmal die Arme aus, atmete die frische Luft, die vom Wasser her wehte, tief ein und lachte dann leise.

Als wir am Nachmittag den Platz fast erreicht hatten, hielt Zira mich zurück. Irgendetwas beunruhigte sie. Etwas, das ich nicht wahrnehmen konnte. Anscheinend hatte sie etwas bemerkt, das mir entgangen war. Sie stand und starrte in die letzten Büsche, die uns vom Platz, immerhin ihrem Zuhause, trennten. Oder hatte sie es sich anders überlegt und wollte doch nicht zurück?

„Die Hunde!" nuschelte sie mir zu.

„Ich höre keine Hunde" antwortete ich ihr langsam und achtete darauf, meine Worte deutlich auszusprechen, damit Zira sie ablesen konnte.

„Eben" nickte sie. „Die Hunde müssten uns längst gehört haben und zu uns gekommen sein. Aber sie sind nicht da."

Am Platz fanden wir eine grundlegend veränderte Situation vor. Ansgrö war während unserer Abwesenheit an CDS gestorben. Walmö war mit seinem zweiten Vater in Streit geraten und hatte ihn dabei schwer verletzt. Jyto lag im Sterben. Walmö war ebenfalls nicht ohne Verletzungen davongekommen. Muala und Thiema versorgten seine Wunden, die Jungen Jofrö und Cyto saßen mit den Hunden an kurzer Leine am Ufer und beratschlagten sich.

Wir erfuhren, dass Jyto komplett außer sich geraten war, als Walmö mit den ältesten Schwestern zurückgekehrt war. Er hatte sich nach dem Tod seines Bruders zu einem Familientyrannen entwickelt und seine verbleibenden Söhne entsprechend behandelt. Die Jungen hatten angesichts seiner körperlichen Überlegenheit, die er auch ohne Erbarmen gegen sie einsetzte, keine Chance gehabt.

Als Walmö dann darauf bestanden hatte, dass er und die heimgekehrten Schwestern wieder dort leben wollten, und er dafür das kleine Boot gegeben hatte, da war Jyto auf ihn losgegangen. Und es war ohne Zweifel seine Absicht gewesen, den heimgekehrten Sohn zu töten. Er wollte seine Macht nicht wieder abgeben. Nur war Walmö in seiner Abwesenheit vom schwächlichen Häschen zu einem echten Mann mit ansehnlicher Kampfkraft mutiert und es war ihm mühelos gelungen, den gegen ihn gerichteten Fischerspeer abzuwehren und ihn gegen den Angreifer zu nutzen.

Walmö hatte meinen Lohn mit dem Leben seines Vaters bezahlt. Er war jemand, der Wort hielt. Um jeden Preis. Ich nahm mir vor, ab jetzt öfter bei den Fischern zu Besuch zu kommen.

Jyto lag allein und stöhnend vor dem Haus. Er rührte sich kaum noch. Niemand wollte in seiner Nähe sein. Ich beobachtete, wie Thiema in einiger Entfernung zum See hin ging, dabei den Kopf gegen das Haus und den sterbenden Vater hin wandte und verächtlich auf den Boden spuckte. Bitter, dachte ich und ging zu dem Verletzten. Bei dem sterbenden Mann kniete ich nieder und untersuchte seine Verwundung. Eine Stichverletzung im Bauch, mehrere Abwehrverletzungen an den Unterarmen. Offenbar war Walmö komplett außer sich gewesen und hatte auf seinen Vater eingedroschen, als der schon seine eigene, hoffnungslose Unterlegenheit eingesehen hatte. Da war nichts mehr zu machen.

Ich sprach Jyto an, wollte von ihm wissen, warum er Zira das Hören genommen hatte. Zur Antwort rotzte er mir blutigen Schleim ins Gesicht.

Wortlos ging ich zum Wasser und wusch mich. Beim Niederknien am Ufer entwich eine warm-miefige Wolke meinem Mantel. Eine gute Zeit für ein Vollbad.

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