Kapitel 94
SHY Martin - Good Together
Mittwoch, 25. März
Am Samstag konnte ich nur spät schlafen gehen, weil ich an die Auseinandersetzung und an Can denken musste. Ich habe auch mit Ramazan geredet, er kümmert sich um Can, sodass er nicht auf falsche Gedanken kommt. Can hat mich bis jetzt in Ruhe gelassen. Es war aber bis jetzt jeden Morgen eine Rose vor der Tür. Ich weiß nicht, wie Außenstehende dies empfinden würden, aber trotz dieses Hasses auf ihn, schreit ein kleiner Teil von mir nach ihm. Niemand kann einfach diese Verbindung durchtrennen. Aber jetzt... jetzt ist diese Verbindung verletzt worden. Ich habe immer noch Angst, dass er sich wehgetan hat. Ich bin in diesem Zwiespalt gefangen, wo ich mich nicht wehren kann. Ich kann mich nicht wehren, ohne Can mental zu beschädigen. Ich habe ihn als Missgeburt beleidigt, wie muss sich das für ihn angefühlt haben? Ich will ihn gar nicht in Schutz nehmen, aber ich kann nicht anders! Ich muss daran denken, diese Liebe wahrhaftig ist eine Droge. Was soll ich jetzt machen? Ich hasse Can immer noch für seinen Fehler. Ich hasse ihn so sehr deswegen. Wie soll das jetzt weitergehen? Was soll ich jetzt tun? Irgendwann muss ich ja zurück in die Wohnung. Wann sollte ich gehen? Es wird langsam Zeit. Was Can wohl die Tage getan hat? Ich hoffe, er hat weder getrunken, noch geraucht oder sich geritzt. Hat er sich einsam gefühlt oder konnte er die Tage gut alleine verbringen? Unsere Liebe ist so verdammt hürdenreich. Nichts läuft gerade, immer kommt eine Kurve. Bei Saliha und Malik könnte ich mir so etwas nicht vorstellen. Malik ist zu ruhig für solche impulsiven Reaktionen. Er schlägt sich nur mit Salihas Stimmungsschwankungen herum. Armer Malik. "Pscht", gluckst Saliha. Ich werde sofort aus meinen Gedanken gezogen. "Warte", kichert sie. Moment mal. "Nicht so laut", flüstert Malik nun. Ich halte die Luft an, es ist komplett still. Wie viel Uhr ist es überhaupt? Ich kann mich gerade gar nicht bewegen, weil ich sonst denke, dass sie mich hören, wie ich sie höre. "Oh ja." Das war Saliha! Ich drücke mich so fest wie noch nie die Hände auf den Mund. Du liebes bisschen, die bumsen! Saliha stöhnt wieder. Ich kreische lautlos. Oh Gott, oh Gott, die treiben es! Wow, das habe ich noch nie erlebt! "Nicht so laut", flüstert Malik wieder. Ich nicke stumm lachend. "Sie schläft sie ein Stein", stöhnt Saliha. Ich komme mir so komisch vor, weil sie mich während des Aktes erwähnt hat. Ich halte mir wieder schnell die Hände an den Mund, weil ich diesmal Malik gehört habe! Diese Geräusche kriege ich niemals mehr aus meinem Kopf raus. "Malik." Hilfe! Ich presse prustend das Kissen ins Gesicht. Ich kann es nicht glauben!
Als ich aufgestanden bin, waren Malik und Saliha schon längst auf der Arbeit. Ich glaube, ich sollte heute nach Hause, ich war lang genug hier. Außerdem will ich Saliha und Malik nur ungern bei ihrem Techtelmechtel hören, wie gestern Nacht. Da hat es nichts gebracht, sich gegenseitig zu sagen, dass sie still sein sollen. Es wäre für mich womöglich angenehmer gewesen, wenn ich nur Saliha gehört hätte. Na ja, es ist aber auch etwas Natürliches, und wenigstens hatte ich etwas zum Lachen. Ich lege mich auf dem Sofa hin, ich fühle mich zu einsam. Ich will Can wirklich nicht sehen, aber ich fühle mich in meinen eigenen vier Wänden viel wohler. Ich hasse diese Hure Aleyna! Aber irgendwie... ohne sie wüsste ich auch nicht, dass Can kein Vertrauen in mir hat. Ich bin einfach so verzweifelt und wütend. Alles ist eine Prüfung, das ist alles eine Prüfung, aber wie lange geht diese Prüfung noch? Ich kann wieder nicht stillsitzen. Ich schreibe Saliha, dass ich nach Hause gehe. Seufzend packe ich meine Tasche. Ob ich hierbleibe oder ob ich in unserer Wohnung bin, ich werde nicht weich werden. Das hat mich zu sehr verletzt. Ich lege die Schlüssel unter den Fußabtreter, nachdem ich die Tür abgeschlossen habe. Ich weiß gar nicht, was ich gleich tun soll. Erst einmal alles auspacken, Can sein Geld wieder hinschmeißen und mich mit dem Laptop ins Bett legen. Wo ist hier die nächste Bushaltestelle? Ich laufe einfach los bis ich Busse höre und dann an einer Station ankomme, die zum Glück zu mir fährt. Die Sonne scheint heute schön, ist das ein Zeichen? Ich komme meines Erachtens zu früh an, laufe deswegen extra langsam. Je näher ich unserer Wohnung komme, umso kälter wird meine Persönlichkeit. Seufzend schließe ich die Tür auf, steige die Treppen hinauf. Es geht so schnell, zu schnell. Vor unserer Haustür bleibe ich stehen, soll ich jetzt rein oder doch noch woanders hin? Den Schlüssel stecke ich einfach in das Schloss, tief atme ich durch und trete hinein. Der typische Holzgeruch unserer Wohnung steigt mir in die Nase. Ich streife mir die Schuhe von den Füßen, der Boden sieht gewischt aus.
"Shana", haucht er. Ich schaue hoch. Can steht mit dem Wischmopp in der Hand dort, schaut mich überrascht an. Seine Augen leuchten freudig, er lächelt. Ich schaue ihn nicht weiter an, laufe einfach durch den Flur. Can lässt den Mob fallen und kommt auf mich zu. Er will mich umarmen, aber ich weiche aus. Ich weiß ganz genau, dass ich geweint hätte, wenn Can das bei mir gemacht hätte. Ich kann seine Enttäuschung spüren. Ich atme tief durch, packe meine ganzen Sachen zurück und lege Cans Geld auf seinen Nachttisch. Wie viel hat mir dieser Mann gegeben? Das sind sicherlich mehr als hundert Euro. "Hast du Hunger?", fragt er mich. Ich verziehe den Mundwinkel. So sanft er auch spricht, das heilt mich nicht. "Ich... ich habe gewischt", murmelt er. Ich verziehe leicht das Gesicht. Seine Versuche scheitern, das lässt ihn verunsichern. "Ich habe ein wenig für dich recherchiert. Also, wenn du willst, kann ich es dir vorlesen." Ich schüttele den Kopf. Ich spüre dieses Vibrieren, dieses Ziehen im Brustkorb, denn ich weiß, wie ich mich an Cans Stelle fühlen würde. Trotzdem verzeihe ich ihm nicht. Ich will an ihm vorbeilaufen, da hält Can mich fest. Ich will meine Arme befreien, aber er lässt nicht los. "Fass mich nicht an!", rufe ich. Sofort lässt er los. Er kratzt sich hinter seinem Ohr. Ich gehe schnell in die Küche, er hat gekocht. "Du magst Lasagne doch so gerne. Nimm bitte deine Tabletten." Seine zarte Stimme schallt in meinem Inneren wieder, aber sie macht seine Tat nicht wieder gut. "Warte, ich mache das." Can will mir den Teller aus der Hand nehmen, weswegen ich mich wegdrehe. "Lass mich einfach in Ruhe, Can." Ich will ihn nicht ansehen, sonst werde ich Mitleid kriegen. "Ouh, okay", nuschelt er. Leicht verzweifelt schließe ich die Augen. Ich muss Ruhe bewahren.
Mit der Lasagne setze ich mich hin. Vor wenigen Wochen habe ich hier gelegen und Can hat mit mir herumgealbert. Da war Aleynas erster Attentat. Er hätte nicht so reagieren dürfen. So voller Wut. Can setzt sich vor mich, schiebt mir Wasser und die Tablette zu. Ich weiß, dass er Zuneigung sucht. Ich will ihm keine geben, er hat mich angegriffen - wieder. "Shana, ich weiß, ich wiederhole mich nur, aber es tut mir wirklich leid. Sag mir nur was ich tun könnte. Ich habe es wirklich verschissen, ich weiß." Kopfschüttelnd fährt er sich über seinen Kopf. Er holt mir Cola, nachdem ich die Tablette genommen habe. "Du... du wirst mir irgendwann verzeihen... oder?" Ich schüttele den Kopf. Ich weiß nicht einmal, ob ich ihm verzeihen werde, aber jetzt möchte ich nicht. Er hat es nicht verdient. "Das... ouh, okay, aber-, also du bleibst doch bei mir, nicht wahr?" Ich esse mein Essen. Ich will meine Ruhe. "O-oder?", hakt er nach. "Lässt du mich endlich in Ruhe?", herrsche ich ihn leicht an. Er versteht nicht, dass ich immer noch sauer auf ihn bin. "Ich will doch nur eine Antwort." In seiner Stimme ist unterdrückte Gereiztheit. Ich verdrehe meine Augen. "Shana", ermahnt er mich. Er regt mich so auf! Ich konzentriere mich einfach auf meine Lasagne. "Shana!" "Halt die Schnauze, Can! Lass mich in Ruhe!" Ich habe jedes Recht dieser Welt, um sauer auf Can zu sein. Er schweigt mit angespannter Haltung. "Ist dir eigentlich wirklich klar, was du da gemacht hast? Weißt du, was für einen Scheiß du mir angetan hast?" Ich kann mich nicht zügeln, meine Hände zittern wieder. "Du hast mich verraten, Can. Du vertraust mir nicht. Statt mich zu fragen und mich aufzuklären, greifst und schreist du mich lieber an. Was ein grandioser Ehemann du doch bist, Can! Die Kinder sind bei dir sicher aufgehoben!" Er schluckt. Das hat ihn getroffen. "Nichts wird diesen Vertrauensbruch wiedergutmachen, Can. Sei einfach froh, dass du mich an deiner Seite hast und nicht wen anders. Niemand wäre bei dir geblieben, niemand." Ich stehe auf, ich will nicht mehr. Hätte ich doch lieber bei Saliha bleiben sollen? Nein, es tat gut, es ihm zu sagen.
Ich lasse mich auf dem Bett nieder, lerne weiter durch das Programm. Heute lese ich mir das Kapitel zum Hydrozephalus durch. Ich höre, wie Can das Geschirr wegräumt und dann wie er ins Zimmer tritt. "Shana." Ich bin gerade beschäftigt. Ist dein Sehnerv beschädigt? "Meintest du nicht, dass man reden sollte?" Will er mich komplett verarschen? Ich schaue konzentriert auf den Bildschirm. "Wieso willst du dich nicht vertragen?" Ich haue mir oder ihm gleich diesen Bildschirm vor den Kopf. Das hat er doch nicht ernsthaft gesagt? "Shana, sag mir einfach, wie ich es wiedergutmachen kann. Ich habe wirklich keine Ahnung und ich will unbedingt, dass es wieder wie vorher wird." "Wird es nicht! Du vertraust mir nicht!", schreie ich. Gott, das sitzt mir alles so sehr auf der Seele. "Wie soll alles wieder gut werden? Wie? Can, du vertraust mir nicht, denkst nicht nach, handelst falsch." Ich weiß nicht einmal was ich sagen könnte. Er schaut mich etwas besorgt an, ich schaue resigniert. "Du hast einfach komplett verschissen, Can. Du kannst da nichts gegen machen, außer zu warten und meine Entscheidungen zu akzeptieren." Ich bin es langsam leid. Ich will mich nicht immer streiten müssen. Ich will doch nur einmal etwas durchstehen, ohne bekriegen zu müssen. "Ich bin es leid, Can. Ich werde müde von den Streitereien. Ich will Frieden, aber das geht nicht, wenn du mir misstraust." Can schüttelt schnaubend den Kopf. Er geht zum Schrank, kommt aber doch wieder zurück und zieht sein T-Shirt aus. Seine Patronenkette sticht mir direkt ins Auge. Ich verstehe nicht, was er will. "Ich vertraue dir." Seine Brust bewegt sich schnell. Ich verstehe immer noch nicht ganz.
"Fass meine Narbe an."
Ich öffne überrascht den Mund. Das... wow, das kam sehr, sehr, wirklich sehr unerwartet. "Das... wow." Cans Narbe ist etwas sehr Intimes und Emotionales. Can kommt zu mir, dreht mir dann den Rücken zu. "Fass sie an, ich vertraue dir." Ich ziehe skeptisch die Augenbrauen zusammen. "Was hat das mit Vertrauen zu tun?", will ich wissen. Will er mich nur weich kriegen? "Ich weiß, dass mir nichts passiert, wenn du es tust. Ich vertraue dir und deiner Macht über mich." Er ballt seine Hände zu Fäusten. "Du kannst auch zudrücken, ich habe ja auch Einkerbungen", presst er hervor. Can ist ganz rot im Gesicht. Ich setze mich langsam auf, mein Herz schlägt wild. Das ist ein wirklich besonderer Moment. Cans Augen fokussieren das Fenster, er ist total nervös. Wo soll ich anfangen? Links oder rechts? Ich lege meinen Zeigefinger einfach vorsichtig auf den Ansatz links. Cans Arm zittert. Ich beobachte seine Körpersprache, ich höre sein gedämpftes Ächzten. Ich fahre langsam weiter über die glatte Haut, spüre eine kleine Einbuchtung. Can hält sich die Hände vor sein Becken, atmet tief durch. "Ich vertraue dir", flüstert er. Wieso ist es auch für mich so anstrengend? Mir ist echt warm. Ich fahre weiter über die Narbe, berühre die Einbuchtungen. Can verkneift sich ein Ächzten, taumelt kurz. Ich höre sofort auf. "Mach weiter", flüstert er. "Ich vertraue dir, du tust mir nichts." Mir ist nicht ganz wohl dabei. "Can, das reicht." "Mach weiter", presst er hervor. Er legt meine Hand wieder an die Stelle an, wo ich aufgehört habe. "Keiner hat es vor dir gemacht. Ich vertraue nur dir. Es tut mir so leid", flüstert er. Meine Augen tränen leicht. Ich lasse meinen Finger ganz schnell über die Narbe gleiten, weil ich ihn nicht leiden lassen will. Meinen Finger ziehe ich ruckartig zurück. Can keucht und taumelt.
"Can?", frage ich leicht panisch. Keuchend beugt er sich vor, will sich festhalten, kippt aber um. "Can!" Ich springe zu ihm auf den Boden. Was habe ich getan? "Can? Can, steh auf!" Mit Tränen in den Augen hole ich schnell Wasser, spritze ihm etwas davon ins Gesicht, damit er wieder zu sich kommt. "Shana", keucht er erschrocken. Zitternd hebe ich seinen Oberkörper an. Mein Herz rast wie wild. "Es tut mir leid", murmelt er benebelt. Aus irgendeinem Instinkt drücke ich seinen Kopf gegen meine Brust. Schutzinstinkt, Mutterinstinkt, Liebesinstinkt, was auch immer. Cans Haare sind nass, wie anstrengend war das für ihn? "Verzeih mir bitte", flüstert er flehend. Ich schließe gequält die Augen. Ich will ihm nicht verzeihen, ich kann ihm trotzdem nicht verzeihen. "Willst du duschen?", flüstere ich. Ich glaube, ich werde gleich selber zusammenbrechen. Ich lege meine Hand auf seine Brust, sein Herz rattert. Ich kann nichts tun. Ich kann nichts machen, was mich und ihn gleichzeitig glücklich macht. Das ist mir alles zu viel. Ich schließe ganz fest die Augen, mich überkommen meine Gefühle, mich überkommen die neusten Probleme. Ich gebe mir die größte Mühe, nicht zu schluchzen, was mir auch gelingt. "Es tut mir leid", murmelt er. Ich halte seinen Kopf gegen meine Brust gedrückt, damit er mich nicht weinen sieht. Wann ist es endlich vorbei? "Nicht weinen, ich tue nie wieder. Ich schwöre es bei Allah." Verzweifelt ziehe ich an seinen Haaren. "Wieso tust du das?", will ich brüchig wissen. Irgendwann wird meine Kraft verschwinden. "Ich tue alles für dich, ich habe so viel Geduld mit dir und du bist mir ein so ein schlechter Ehemann und vertraust mir nicht?" Ich schniefe. "Ich vertraue dir, Shana. Ich wusste, dass mir das passiert und ich habe es trotzdem zugelassen." Ungläubig sehe ich ihn an. Das ist doch nicht sein Ernst. "Bist du blöd, Can?" Schwach lächelt und nickt er. Ich kann mir ein minimales Auflachen nicht verkneifen. Diese Situation ist so paradox.
Ich lehne mich gegen die Wand. Ich weiß nicht mehr weiter. Ich durfte seine Narbe anfassen, wegen mir ist Can umgekippt. Can wusste sogar, dass ihm das passiert und er hat es trotzdem zugelassen. "Verzeihst du mir?" Ich atme tief durch. Ich will nicht antworten. Can seufzt, er versteht anscheinend. "Okay, das akzeptiere ich und ich werde warten." Er küsst meine Hand. Ist jetzt alles wieder in Ordnung? Ich weiß nicht so recht. Ich fühle mich trotzdem zurückgeschlagen. Can spielt an meiner Kette herum. "Es tut gut, wieder in deinen Armen zu liegen." "Es ist auch nur dieses eine Mal." Überrascht schaut er zu mir hoch. "Ich will diese Restwoche einfach nur wieder klar im Kopf werden. Ich... du weißt nicht, wie verletzend das war", wispere ich zum Schluss. Hätte Can mir von Anfang an geglaubt, dann hätten wir gemeinsam eine Lösung für dieses Nacktbild-Problem finden können. "Ich habe mich um das Gerücht gekümmert. Ihr Körper ist vielen bekannt." Ich verdrehe meine Augen. "Mein Körper ist dir bekannt und du dachtest-," "Bei Gott, ich habe nicht richtig sehen können. Ich weiß nicht, was los mit mir war. Ich war außer mir", erzählt er. Hätte Aleyna sich doch bloß zurückgehalten. "Wie war es bei Malik und Saliha?" Mir wird leicht warm, weil ich an ihr Gestöhne denken muss. "Sehr... nun ja, es war... nett", kommt es etwas stumpf von mir. Abwartend schaut er mich an. Ich bin immer noch sauer auf ihn, aber natürlich muss meine Natur ihren riesigen Widerspruch zurückholen. "Was?", will ich wissen. "Du hörst dich nicht begeistert an", stellt er fest. Ich spitze meine Lippen. Na ja, ich habe meine Freunde beim Sex gehört. Ich glaube nicht, dass ich mich darüber freuen sollte. Wenn ich wieder daran denke, oh Gott.
"Sag schon", fordert er. Ich will es irgendwie nicht sagen. Das ist so komisch und verrückt. Can grinst schief. "Hast du die beiden erwischt?" Ich verneine es. Wenn Saliha das weiß, dann wird sie vor Scham sterben und Malik verprügeln. Armer Malik. "Ich habe sie gehört", flüstere ich. Can lacht auf. "Die ganze Zeit?" Ich nicke. Langsam stehe ich auf, ich will im Bett liegen. Can scheint das zu enttäuschen. Er lächelt trotzdem. "Das ist okay, ich lerne im Arbeitszimmer." "Ruh dich erst einmal ein wenig aus und trink das Wasser." Er nickt, steht auf und kommt mit der Wasserflasche aufs Bett. "Du hast nichts vom Geld ausgegeben?", fragt Can überrascht. Ich schüttele den Kopf. "Ich habe einfach nur gelesen und mir Gedanken gemacht." Mir kommt eine Frage in den Sinn. "Du hast dich die Tage nicht geritzt?" Can verneint es und zeigt mir seine Arme. "Wirklich nirgends. Ich halte mich an das Malen. Hier sind sogar noch leichte Spuren." Ich sehe sie. Es sind mehrere schwarze Linien. Das erleichtert mich ungemein. Can hält inne. "Wie lange wirst du noch ungefähr sauer auf mich sein?" Can und seine Ungeduld. "Ich weiß es nicht", antworte ich wahrheitsgemäß. Verstehend nickt er. "Redest du dann nicht mehr mit mir?" Unsicher beißt er sich auf die Unterlippe. "Ich werde schon mit dir reden, Can. Ich werde dir jetzt aber nicht verzeihen." Er atmet tief durch, nickt dabei. "Okay, das wird sicherlich klappen." Seufzend schließt er seine Augen. Ich bin noch leicht besorgt. Das mit der Narbe wird ein ganzes Stück Arbeit. "Nun ruh dich aus." Das, was Can erlebt, erlebe ich zum ersten Mal. Ich kannte niemanden, der schwach wird, falls man ihn an einer Stelle anfasst, die unschöne Erinnerungen weckt. Wenn Can nicht mit solchen Missgestalten in der Grundschule wäre, dann wäre sein Leben sicherlich rosiger gewesen.
Can hat sich ein wenig ausgeruht und ist dann ins Arbeitszimmer gegangen. Die Atmosphäre ist nicht wirklich prickelnd, aber so etwas passiert nun mal. Can hängt schon seit mehreren Stunden im Zimmer. Rausgekommen aus dem Zimmer ist er nicht. Ich entscheide mich dazu, ihm einen Kaffee zu bringen. Etwas versteift laufe ich in die Küche und strecke mich. Den Kaffee bereite ich so zu wie Can ihn am liebsten trinkt und laufe dann langsam zum Zimmer, dessen Tür zu ist. Ich höre, wie Can wütend knurrt. Vorsichtig mache ich die Tür auf. "Was ist?", blafft er mich an. Ich halte inne. Nein, nein, nicht dieses komische, elektrisierende Gefühl im Brustkorb. Ich spüre dieses Gefühl bis in meine Hände. Sein wütender Blick fällt sofort. Ich wollte ihm doch nur einen Kaffee bringen, ein kleines Geschenk. "Ouh, Shana." Langsam laufe ich zurück. Das tut meiner sensiblen Seele echt nicht gut. "Nein, Shana, bitte!" Ich will nicht schmollen! "Shana, bitte nicht weinen." Den Kaffee lege ich auf den Tresen. Ich wollte ihm doch nur einen Kaffee bringen! "Scheiße", flüstert er. Er schlingt seine Arme fest um mich, murrend winde ich mich. "Danke für den Kaffee, aber bitte sei nicht verletzt. Dieser Scheiß hat mich so aufgeregt." "Ist mir doch egal", murre ich. Can lässt nicht los. Ich will in Ruhe schmollen können! "Komm her." Ich schüttele den Kopf, aber Can dreht mich einfach um und drückt mich gegen seine Brust. Das macht mich noch sensibler! "Ich wollte dir doch nur einen Kaffee bringen!", murmele ich wütend und traurig. Can seufzt. "Der Kaffee macht mich glücklich. Ich war nicht wegen dir sauer. Ich musste an Aleyna und Soufian denken und das gepaart mit diesem Thema, das ich gerade habe, tat mir nicht gut." Er küsst meine Schläfe. "Ich werde noch länger sauer auf dich sein", maule ich. Dann soll er das nächste Mal seine Wut zügeln. Was denkt er überhaupt an die beiden? Er seufzt resigniert. "Wir haben genug gelernt für heute. Eis mit Schokosoße und dann ruhen wir uns aus."
Er will mit mir zum Kühlschrank laufen, aber ich bleibe stur an Ort und Stelle stehen. "Okay", seufzt er. Ich werde auf seine Schulter geschmissen, trotzdem bleibe ich bockig und verschränke die Arme vor der Brust. "Möchtest du noch etwas?" Ich antworte nicht, er seufzt wieder. Ich will nicht, dass er mir einen Kuss auf den Po gibt! "So, das klappt sicherlich", murmelt Can, als er zwei Löffel nimmt. Danach nimmt er sich den Kaffee und läuft ins Schlafzimmer. Langsam beugt er sich vor, legt alles und legt mich dann ins Bett. "Krieg deine Stimmungsschwankungen in den Griff", gebe ich grimmig von mir. "Es tut mir leid, Shana." "Willst du immer alles mit Entschuldigungen gerade biegen?" Er hält inne. "Was soll ich denn bitte tun?", flüstert er. "Den Scheiß sein lassen und nachdenken, bevor du handelst. Deine Impulsivität ist nicht gut." Er nickt. "Hasst du mich noch?" Seine Angst ist deutlich zu spüren. "Ich hasse dich für deine Taten." Er nickt und nimmt dann einen großen Schluck vom Kaffee. "Für den Spruch müsste man eigentlich Alkohol trinken." "Nein!" Mein Ton duldet keinen Widerspruch. Abwehrend hebt er seine Hände. "Ich wollte nicht trinken, ich wollte es nur gesagt haben." Can setzt sich aufs Bett, öffnet die Eispackung und lässt die Schokosoße über das Vanilleeis laufen. Alte Erinnerungen kommen hoch. Oje, wie unpassend. "Wir könnten, nur wenn du willst, nach dieser Woche etwas machen. Etwas, was dich wieder an mich schweißt." "Wenn ich angeschrien werde, dann nein, danke." Er seufzt kaum vernehmbar. Wie viel seufzt Can? "Shana, wenn du die ganze Zeit nachtragend bist, dann kommen wir nicht weiter." "Ich war oft genug nicht nachtragend. Hör auf, deine Taten gut zu reden." Er hebt überrascht die Augenbrauen. "Das tue ich nicht", sagt er mit leichtem Druck in der Stimme. Ich hebe spöttisch die Augenbraue. Das Eis schmeckt echt gut. "Was tust du dann?", frage ich leicht mokant. "Ich versuche dir weiterzuhelfen, damit es dir leichter fällt, mich wieder voll und ganz zu lieben." Das kann ich nicht einsehen. Ich esse mit zusammengezogenen Augenbrauen mein Eis weiter.
"Shana, werde nicht stur." "Bin. Ich. Nicht." Er soll mich einfach in Ruhe lassen, damit ich mit allem klarkomme. "Wenn du nicht stur wärst, dann würdest du vielleicht etwas zur Genesung beitragen." Ich sehe ihn mit zusammengekniffenen Augenlidern an. "Ich? Ich soll etwas zur Genesung beitragen? Soll? Ich soll?", rufe ich. Das macht Can wütend, sein Kiefer zuckt. "Soll alles nur auf mir lasten?", blafft er nun. Ich lache übertrieben sarkastisch auf. Das hat er jetzt nicht gesagt! "Nur auf dir? Hast du vielleicht die Rollen getauscht? Denkst du, du heißt Shana?" Gegen Ende wird meine Stimme trocken und hart. Hätte ich mich einfach nicht darauf eingelassen, die Narbe anzufassen. Hätte ich die Narbe einfach nicht angerührt, dann müsste ich jetzt nicht so viel mit ihm reden. "Shana, es reicht." "Was reicht? Meine Barmherzigkeit? Meine Geduld? Mein dir ständiges Verzeihen? Oder doch deine leeren Versprechen? Ich tue es nie wieder, Shana. Ich mache alles wieder gut, Shana. Wo? Wann? Wann machst du alles wieder gut?!" Gott, es fühlt sich so gut an, all diese Last freizulassen. Cans Augen haben sich verändert. Seine Pupillen sind ganz klein, die schwarze Umrandung seiner Iris ist stark zu sehen. Ich habe ihn verletzt. Das ist der Moment, wo der Löwe schweigt. Er schaut zur Seite, will sich den Schmerz nicht ansehen lassen. "Ich gebe wirklich mein bestes und es tut mir leid, wenn es nicht für mehr reicht." Er steht auf. Seine Haltung ist gefallen, die Schultern sind sonst schön positioniert. Er nimmt sich die Autoschlüssel, zieht sich eine Jacke über. Stumm sehe ich ihm hinterher. Er läuft aus dem Schlafzimmer, ich gehe ihm hinterher.
Er dreht mir den Rücken zu, als er sich auf den Boden setzt. Er mag es nicht, wenn ich ihm beim Schuhe Anziehen zusehe. Aus Respekt schaue ich weg. "Kommst... kommst du heute nach Hause?", flüstere ich. Jetzt gerade fühle ich mich unwohl, verschränke die Arme vor der Brust. Er antwortet nicht. Diese Spannung ist scheußlich! "Du möchtest mich doch sowieso nicht sehen." Ich halte inne. "Ich-, Can, wohin willst du?" Ich bin gerade heiser geworden. Was will er machen? Wohin will er? "Ich kriege schon eine Bleibe. Denk die Tage gut nach." Er steht auf, schaut mich mit einem undefinierbaren Blick an und verlässt die Wohnung. "Can!" Ich öffne die Tür, aber er ist schon die Treppen hinuntergerast. Resigniert schließe ich die Tür, lasse mich an dieser hinuntergleiten. "Scheiße", flüstere ich brüchig. Ich palmiere mir meine Hände vor mein Gesicht. Ich war so wütend, dass ich meine Wirkung auf ihn vergessen habe. Ich wische mir frustriert die Tränen weg. Es ist nur eine Prüfung, eine Prüfung. Ich kann es mir selber nicht übel nehmen. Ich habe nur die Wahrheit gesagt. Ich atme tief durch. Es wird alles wieder gut. Wir brauchen nur ein wenig Zeit. Ich hätte ihn lieber aufhalten sollen. Ich wäre glücklicher, wenn er doch hiergeblieben wäre - auch, wenn er mich wütend gemacht hat.
Wie faszinierend die Liebe doch ist; Nichts macht mich glücklicher als er und nichts macht mich trauriger als er.
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Findet ihr, dass durch das Anfassen der Narbe, Shana ihm verzeihen oder wenigstens etwas nachgeben sollte? Was haltet ihr von Cans Handeln diesmal? Wie beurteilt ihr Shanas Handeln? War es zu hart, die Wahrheit zu sagen?
- Helo
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