Kapitel 90

Elle Hollis - Let It All Go

Freitag, 31. Oktober

Ich glaube, diese Woche hätte ich lieber zuhause bleiben sollen. Ich war wegen des Stäbchens bei der Gynäkologin und als ich wieder wegen der Totgeburt gefragt habe, meinte sie, dass es eine Fehlgeburt sei und keine Totgeburt. Aber ich habe doch ganz deutlich gehört, wie sie Totgeburt gesagt hat. Spinne ich? Wieso habe ich Totgeburt verstanden? Bin ich komplett verrückt? Hat das etwas zu bedeuten? Das frage ich mich seit Dienstag, aber ich finde keine Antwort. Ich bin danach auch zum Dermatologen gegangen, weil ich nicht bis Samstag warten wollte. Es ist ein normales Muttermal, somit habe ich eine von Cans Sorgen eliminiert. Ich kann mir trotz neurologischen Kenntnissen nicht erklären, warum ich statt Fehl- die Totgeburt verstanden habe. Ich habe Angst vor einer Geburt. Was, wenn mein erstes Kind dann stirbt und das eine Totgeburt ist? Was, wenn das eine Nachricht Gottes ist? Ich werde verrückt. Ich will nicht aus dem Bett kommen. Um 09:45 Uhr ist die Ausschabung. Ich will nicht, ich kann nicht. Niemand kann mir meine Frage beantworten. Kann es der Therapeut? Aber es ist Cans Sitzung und nicht meine. Aus irgendeinem Grund habe ich Totgeburt verstanden. Sterbe ich also bald? Gott bewahre mich bitte davor. Was bedeutet das? Stirbt jemand und wird danach jemand geboren? Ob Tot-oder Fehlgeburt, mein Kind ist tot. Heute ist einer der Tage, wo Can schläft und ich wach bin. Ich könnte heute eigentlich länger schlafen, aber ausgerechnet mir passiert eine tot-, eine Fehlgeburt. Seufzend schmiege ich mich an Cans warme Haut. Die Tage hat er mich unterstützt, er hat mir Geschenke gemacht und mir meine liebsten Speisen gekocht. Er will wieder arbeiten gehen, aber ich will nicht, dass er sich überlastet. Ich fahre über das Tattoo auf seiner Brust. Nach der Ausschabung und der pathologischen Untersuchung wird unser Kind begraben. Wir sind nicht verpflichtet, es bei einer Beerdigungsstätte zu melden, ich wollte es sowieso persönlich machen. Es wird in einem kleinen Kreis gehalten. Nur die Eltern und wir beide. Wieder fahre ich über das Tattoo. Heute werden wir gemeinsam zu Cans Therapeuten fahren, Can wird über den Unfall reden. Meine Hand fährt über sein rasiertes Gesicht. Die Tage hat er wieder seinen Arm bemalt, das hat mich glücklich gemacht. Ich hoffe, dass es ihm hilft.

"Schlaf doch noch etwas", murmelt er, als er mich an sich drückt. "Ich kann nicht." Mache ich das Richtige? Das Kind auszuschaben hört sich so eiskalt an. Aber es würde meiner Gesundheit schaden. "Kannst du mir erklären, wieso ich Totgeburt verstanden habe?" Er schüttelt den Kopf. "Zerbrich dir darüber nicht den Kopf, Shana. Es ist nicht deine Schuld." Ich muss die ganze Zeit daran denken. Es muss doch einen Grund geben, wieso ich tot verstanden hat. "Ich flehe dich an, Can, mach bitte nichts Falsches", flüstere ich. Ich werde wirklich verrückt, vor allem, da Soufian wieder hier ist. Can versucht sich zwar zurückzuhalten, aber ich weiß, dass er nicht will, dass ich rausgehe. Ich kann seit Tagen an nichts außer an das Kind, an Fehl- und Totgeburt denken. Die Vorlesungen habe ich geschwänzt und war nur bei den Blockpraktika wirklich aufmerksam. Jessica weiß von meinem Schicksal Bescheid und hilft mir, hat mir auch angeboten mit Celine zu reden, was ich auch nicht abschlagen werde. Sollte ich es den Mädchen erzählen? Ich weiß nicht so recht. Ich schlinge meine Arme um Cans Nacken. Ich will so viele Liebkosungen wie es nur geht, bevor das Kind ausgeschabt wird. Trotz dessen, dass mein Kind nicht mehr lebt, will ich, dass es trotzdem Liebe bekommt. Liebe, die ich dem Kind nicht geben konnte. Sollte ich mich jetzt schon fertig machen? Ich werde sowieso nicht weiterschlafen. Langsam befreie ich mich aus Cans Armen, nehme mir frische Sachen und laufe ins Bad. Ich will die Ausschabung irgendwie nicht, aber ich will es auch schnell hinter mir haben. Lustlos befreie ich mich aus meiner Kleidung, setze mich in die Wanne und lasse einfach das warme Wasser auf mich prasseln, rasiere mich schnell, putze mir die Zähne und bleibe dann einfach in der Wanne liegen.

Die Zeit soll so langsam wie möglich vergehen. Die ganze Zeit fahre ich mir über meinen Bauch, rede innerlich mit meinem verstorbenen Kind. Was wäre das Lieblingsessen meines Kindes? Hätte es Kartoffeln auch so sehr gemocht, wie ich? Ich bin verdammt desperat. "Hey", höre ich seine sanfte Stimme. Er hebt meinen Kopf an, legt seine Hand auf meine Schläfe. "Lehn dich nicht gegen dagegen, das wird deinem Hals wehtun." Can setzt mich auf, küsst meine Schulter. "Sei nicht traurig, es ist schwer, ich weiß, aber es gibt immer ein zweites Mal. Ich bin für dich da." Sanft massiert er meine Schultern. Tief atme ich durch. "Es ist einfach nur so schockierend. Denkst du, das Kind hat gelitten?" Can seufzt. "Ich weiß es nicht." Tröstend fährt er mir über meine Arme. "Du hast doch selber gesagt, dass unser Kind jetzt an einem besseren Ort ist." Ich nicke zerknirscht. Ich kann es immer noch nicht realisieren. "Hast du dir schon die Haare gewaschen?" Ich verneine es. Can greift nach dem Shampoo und massiert es in meine Kopfhaut ein. Nebenbei redet er beruhigend auf mich ein. "Nach der OP bleiben wir einige Stunden dort und dann ruhst du dich aus, okay?" Ich nicke. Er schamponiert mein Haar wieder, ehe er es kämmt und Spülung in die Längen gibt. Ich will nicht aufstehen, ich will im warmen Wasser bleiben. Ich habe keine Lust mich zu bewegen, ich habe keine Lust aus dem Wasser zu steigen, ich habe keine Lust zur Praxis zu fahren, ich will einfach nur im Bett liegen. Sanft fährt Can mit dem Schwamm über meinen Körper, schon fast hauchzart über meinen Bauch. Ich will nicht mehr daran denken, aber es hat sich in meinem Kopf verankert. Wieso habe ich Totgeburt verstanden? Sicher, dass sie sich nicht einfach nur versprochen hat? Das kann doch nur ein Zeichen sein, ich kann es mir nicht anders erklären.

Can schaltet das Wasser ab, drückt mir das Wasser aus den Haaren. Müde halte ich mich an ihm fest. Ich bin gar nicht müde, mein Körper ist einfach nur erschlafft. Langsam steige ich aus der Wanne, ich habe keine Motivation, mich anzuziehen, sage deswegen zu Can, dass er nur bequeme Sachen für mich rausholen soll. Wieder angezogen, lege ich mich hin. Wenn wir diese ganzen Probleme nicht hätten, dann wäre ich im vierten Monat schwanger, aber mein Kind ist tot. Ich kann es immer noch nicht glauben. Man kann es mir immer und immer wieder sagen und es fühlt sich an, wie am ersten Tag. Ob Fehl- oder Totgeburt, mein Kind ist weg. Wie hätte ich reagiert, wenn ich ganz normal schwanger wäre? Ich wäre genauso schockiert. Ich hätte Angst vor der Zukunft, ich hätte Angst, dass ich das Studium deswegen pausieren müsste, ich hätte Angst, dass ich das Kind gar nicht will. Das wäre schlimm, ein Kind, das keine Liebe bekommt. Nein, das darf niemals passieren. Can legt die Decke auf uns, drückt mich an sich, fährt mit seiner Hand über meinen Bauch. Ich lehne meine Stirn gegen seine Brust, schaue auf seine Hand hinab. "Ich hätte niemals gedacht, dass uns so etwas passieren würde", flüstert er. "Ich hätte niemals gedacht, dass uns so viel Leid zustößt", flüstere ich. Ich atme tief durch die Nase. Es fühlt sich so falsch an, nach einer Woche sein Kind abgegeben zu müssen. Aber es ist tot, es kann nichts mehr spüren. Ich würde so gerne wissen, wann er oder sie gestorben ist. Bei einem Streit oder beim Weinen? Still liegen wir im Bett, die Zeit vergeht so schnell. Wir waren vier Monate lang werdende Eltern und eine einzige Woche war es uns nur bewusst und in wenigen Minuten sind wir nur noch ein Ehepaar, keine werdenden Eltern mehr. Das tut mir schon irgendwie weh. Ich muss wieder schluchzten. "Ich will es nicht tun", weine ich. Ich hatte doch nur diese eine Woche, es wäre ein so wunderbares Kind geworden! "Sh, alles wird gut. Wir haben ganz viel Zeit." In seinen Armen weine ich mich aus, wer kann mich denn jetzt noch verwundbar machen? Was habe ich alles nicht erlebt, um zu sagen, dass ich Erfahrung in jedem Bereich hatte?

"Dir wird niemand etwas Schlechtes sagen, du tust das, was du tun musst. Irgendwann kommt der Tag, wo wir dann ein Kind bekommen werden und dieses auch gesund ist, das schwöre ich dir." Can küsst meinen Scheitel, wiegt mich in seinen Armen hin und her, als sei ich selber ein Baby. Schniefend wische ich mir die Tränen weg. Ich will nicht mehr trauern, ich will Freude haben. Wo ist mein Dopamin? "Wein bitte nicht mehr, sei froh, dass es vorbei ist. Down-Up, das habe ich in der Therapie gelernt. Du nimmst das, was du als negativ auffasst und fragst dich, ob es wirklich so schlimm ist, also passt du es dir an, sodass es dir zu Gute kommt." Lieblich fährt er mir über meine Wange. "Ein positiver Aspekt wäre, dass ich dich die ganze Zeit verwöhne, dile min." Das lässt mich lächeln. "Und nach der OP wirst du auch verwöhnt. Das hört sich doch gut an, Prinzessin. Stimmt's oder habe ich recht?" Neckend tippt er mir auf die Lippe, was mich wieder lächeln lässt. Mit geschlossenen Augen bleibe ich in Cans Armen, bis wir dann zur Praxis fahren müssen. Ich werde wieder melancholisch. Gleich ist alles vorbei, ich muss mich umziehen, werde mit Can in einen Raum gebracht, wo alles stattfinden wird. Das alles passiert so schnell, dass ich schon am liegen bin. Mir bleiben noch ungefähr zwanzig Minuten mit meinem Kind. Zwanzig Minuten mit meinem toten Kind, ohne richtige Identität. Und wieder frage ich mich, wieso ich tot als Präfix verstanden habe. Die Antwort weiß nur Gott. Can hält meine Hand, er musste sich einen Kittel, Mundschutz, Haube und Fußüberzieher anziehen. "Alles wird gut, ich bin für dich da." Ich nicke. Es wird alles wieder gut. Das Narkosemittel wird eingeführt, mein Herz schlägt schneller. Gleich sind es nur noch ungefähr fünfzehn Minuten und dann habe ich kein Lebewesen mehr im Bauch. Ich werde müde, es wird langsam schwarz, mir steigen Tränen auf, sie tropfen mir hinab.

Ruhe in Frieden, mein Kind.

Ich wache auf, liege im Aufwachraum, Can hält meine Hand. Das erinnert mich an jenen Tag, wo mir die Weisheitszähne gezogen wurden. "Wie geht es dir?", fragt er mich, wahrheitsgemäß zucke ich mit meinen Schultern. "Wir müssen noch einige Stunden hierbleiben und dann können wir Essen holen und zuhause essen. Was möchtest du haben? Burger King?" Wieder zucke ich mit den Schultern. Mein Kind ist weg. "Warte, trink erst einmal was." Can schenkt mir Wasser ein, erschöpft trinke ich es. Mein erstes Wasser, nachdem mein Kind nicht mehr in meinem Bauch ist. Ich muss aufhören so verzweifelt zu sein. Melancholisch und desperat war ich oft genug, ich muss positiv denken. Down-Up's, sowie Can es mir erklärt hat. Ich muss wieder glücklicher werden, wir sollen doch in den ersten sechs Monaten auf uns aufpassen. Wir müssen wieder glücklich und unbeschwert werden. Nach mehreren Stunden Aufenthalt, darf ich gehen. Mir werden Medikamente verschrieben, die Can abholt, danach fährt er zum Burger King, ehe es endlich nach Hause geht. Nach Hause, ohne Baby. Die Treppen werden für mich eine Herausforderung, denn ich habe Schmerzen. Langsam steige ich auf, werde aber sofort auf seine Arme genommen. Ich nehme es hin, atme seinen schönen Eigenduft ein, kuschele mich an seine Brust, auf der jedes Kind friedlich einschlafen könnte. Als wir vor der Tür stehen, werde ich abgesetzt. Ranja und Jessica haben mir schon geschrieben, aber ich antworte erst gleich. Ich lege mich im Wohnzimmer hin, werde schnell zugedeckt. Diese Zuneigung brauche ich gerade sehr. Can legt das Essen hin, ehe er den Tisch ans Sofa zieht. "Die Pommes kommen auf den Burger, wie immer?" Ich flüstere ein Ja und räuspere mich danach. Hätte das Kind irgendwann dasselbe mit den Pommes getan? Ich beuge mich nach vorne, damit ich besser essen kann. Wenn ich wieder schwanger werde, dann muss ich mehr auf meine Ernährung achten. Ganz viele Vitamine auf jeden Fall. Bei den Früchten wird es aber problematisch, weil mein Immunsystem bei so vielen Früchten intolerant reagiert. Egal, dann eben mehr Gemüse. Aber bis dahin habe ich noch viel Zeit. "Wie fühlst du dich?", werde ich von Can gefragt. "Ich weiß es nicht, es war die einzige Entscheidung, die ich hatte." "Shana, du brauchst dich nicht zu rechtfertigen. Es ist alles gut, ich stehe hinter dir." Ich nicke kaum vernehmbar. Hoffentlich wird alles wieder gut. Schweigend esse ich den Burger, wenigstens kann ich das problemlos. Oh nein, es tut weh. Tief atme ich durch, aber das macht die Schmerzen nicht besser. Ich esse noch etwas und nehme dann die Tablette. Heute geht alles so schnell, es zieht alles an mir vorbei.

Monoton schaue ich an die Decke, das Zimmer ist abgedunkelt, die Kerzen sind angezündet worden und die Lichterkette leuchtet. Mein Kind ist komplett weg, das ist unbeschreiblich. "Wenn du dich nicht gut fühlst, dann sage ich die Sitzung heute ab." "Nein", flüstere ich. "Du musst gehen, du muss geheilt werden." "Ich kann dich nicht alleine hier lassen", meint Can, dessen Hand durch meine Haare gleitet. "Ich komme mit, ich muss mich nur etwas ausruhen." Wäre es ein Junge geworden, hätte ich mich dann auch in seinen Duft verliebt, so wie ich mich in Cans Eigenduft verliebt habe? Meine Fehlgeburt ist eine Lektion für mich. Ich darf mich von den Einflüssen nicht zu sehr einkriegen lassen, nur ist das Problem, dass ich bei Can nicht neutral bleiben kann. Ich liebe diesen Mann wie verrückt. Wenn er leidet, dann leide ich auch. Wenn er sich freut, dann freue ich mich auch. Wir versorgen uns beide mit Gefühlen, halten uns damit am Leben. Ich habe schon einmal losgelassen, ich kann es diesmal auch, sonst gehe ich unter. Ich muss die Last loslassen, die aber so neu ist. Ich hoffe, ich schaffe es über die Fehlgeburt hinwegzukommen. Ich atme tief durch. "Wenn wir Kinder kriegen", setze ich leise an. Can schaut aufmerksam zu mir. "Dann werden sie ganz doll geliebt." Er lächelt, küsst mich sanft. "Du wirst auch ganz doll geliebt." Ich genieße es sehr, dass ich in seinen starken Armen liegen darf. Es ist so schön warm bei ihm und sein Herzschlag beruhigt mich immer. "In der nächsten Famulatur kriegen wir Geld", murmele ich. "Ich habe mir überlegt, wieder arbeiten zu gehen." Murrend schüttele ich den Kopf. "Bleib bei mir. Ich langweile mich sonst." Alle arbeiten, mit wem soll ich dann tratschen? "Kann nur ich dich unterhalten?", raunt er. Mit geschlossenen Augen nicke ich. Mit Can kann ich über alle Themen reden. "Wie stellst du dir die Zukunft vor?", frage ich. Ich will eine gewisse Grundlage haben. "Besser als jetzt. Ich wäre in der Zukunft geheilt, befreit und Soufian wäre tot." Ich ziehe meine Augenbrauen zusammen. "Und ich würde endlich die 1.0 in einer Klausur schreiben. Ich bin manchmal so knapp dran, aber das passiert zu selten." Leicht schmunzele ich verstohlen. "Schmunzele nicht so, du Hexe. In dein Gehirn passt mehr rein, obwohl dein Kopf so klein ist." "Mein Wissen kann sich anpassen, deins fürchtet sich sicherlich vor deinem bösen Aussehen." Er kneift mir in den Po. "Und deine Gedanken drehen sich nur um das Eine." "Um das Eine?", wiederholt Can. "Ja, nur um das Eine." "Und dieses Eine heißt sicherlich Shana." Sowas höre ich nur zu gerne. "Da verwöhnt man dich mit einfachen Worten und schon zeigst du mir dein süßes Grübchen." Can lächelt mich lieblich an und küsst meine Wange. Das hebt mein Dopamin-Kontingent aber gewaltig. "Diese Tage wird es nur um dich drehen, Shana. Du sagst mir jeden Wunsch von dir, okay? Jeden einzelnen." Werde einfach nur gesund, mehr will ich nicht.

Wir stehen vor der Therapiepraxis. Can wirkt nervös, im Auto hat er die ganze Zeit meine Hand gehalten. Can und ich laufen in ein Zimmer, lassen uns vor einem Mann mit blauen Augen nieder, der uns beiden die Hand reicht. "Guten Tag, ich bin Dr. Al-Kon, Sie sind sicherlich Shana. Can hat mir schon einiges über Sie erzählt." Müde lächelnd schaue ich zu Can. "Das höre ich doch gerne", kommt es in einem leisen Ton von mir. "Sie wissen, weshalb Sie hier sind?" Ich nicke. "Can fühlt sich dann sicherer, wenn er von seinen traumatischen Erlebnissen erzählt, die unter anderem zu seiner Verlustangst geführt haben." Ich drücke Cans Hand. "Ich würde einfach sagen, dass Sie Ihre Erfahrungen schildern. Was ist Ihnen an Can aufgefallen? Was fürchtet er? Ich habe mitbekommen, dass Can zwei Tumore hatte, die unter anderem auf die Amygdala gedrückt haben." Ich nicke seufzend. Diese Zeit war schrecklich. "Can hasst Orangen seit seinem Autounfall, hatte in der zwölften Klasse einen erneuten Unfall und musste anhören, wie ich einen Autounfall erlitten habe. Unsere Trennung hat seine Mentalität verschlimmert, finde ich." Der Therapeut nickt. "Und hatten Sie Teil an einer seiner Albträume oder Panikattacken?" Ich erschaudere. "Ja, sehr oft. Sie passieren immer nachts, wo er schreiend und verschwitzt aufsteht und so gut wie immer Fieber danach hat." "Erschien Can Ihnen zu Ihrer Kennenlernphase Kontaktscheu?" Ich schüttele den Kopf. "Eher aufgeblasen und arrogant." Der Therapeut schmunzelt, ich muss es auch tun. "Du warst nicht besser", murmelt Can leise.

"Hatten Sie jemals den Verdacht, dass Can ein Trauma hatte?" Ich verneine es. "Ich wäre nie in meinem Leben darauf gekommen. Wir saßen einmal im Bus und dort hatte ich die Position eingenommen, die Can damals mit sieben Jahren im Auto hatte. Das hat ihn daran erinnert, aber er hat es nie selber gesagt. Ich habe es von wem anders erfahren und habe es deswegen hingenommen. Aber sonst hatte Can keine Anzeichen aufgezeigt, seine Kontrollsucht bei der Sicherheit habe ich einfach als Autoritär aufgenommen." "Wer hat dir das gesagt?", raunt Can. "Malik", flüstere ich. Ich habe einfach gedacht, dass Can mich bei meiner guten Laune stören würde, aber er hatte einfach Angst. "Irgendwelche Gefühlsausbrüche mitbekommen?" Ich halte inne. "Vor, während oder nach der Beziehung?", frage ich. Ich bin mir nicht so ganz sicher. "Sowohl als auch." Ich denke kurz nach, sofort kommt mir eins in den Sinn. "Wenn ich gesagt habe, dass ich ihn hasse, dann wurde er wütend, er wollte das nicht hören. Während der Beziehung wolle er auch nie, dass ich sage, dass ich ihn verlasse, natürlich nur als Spaß gemeint. Als wir Schluss gemacht haben... ich weiß nicht so recht. Can war da apathisch, aber als er mich gesehen hat, wurde er einmal panisch, er wollte nie, dass ich ihn berühre." Mein Rücken prickelt. Etwas unwohl fahre ich mir über meinen Handrücken. "Es war so, als ob ich ihn traumatisiert hätte. Er hat einen Verlust erlitten, das hat ihn verschreck", flüstere ich am Ende. Dieses Thema macht mich immer wieder sensibel. Der Therapeut notiert sich etwas und liest sich seine Notizen durch, blättert zurück.

"Can hat von seiner Narbe berichtet. Haben Sie in irgendeiner Weise einen Anspruch drauf?" Ich verneine es. "Ich habe die Narbe bis jetzt nur dreimal berührt. Einmal kam es von Can selber, das aller erste Mal war es Neugierde und Unwissen, er wirke sehr wütend, schon gar verängstigend. Das letzte Mal war es sehr schlimm, Can war wie besessen, musste mit sich selber kämpfen und hat sich am Ende verletzt." Wieso hasst du mich so sehr? Ich will mich nicht daran erinnern. "Du verletzt dich selber?", fragt er Can, welcher nickt. "Aber zur Zeit male ich mir auf den Arm, statt mich zu ritzen. Das hat mir Shana empfohlen." Der Therapeut hebt überrascht die Augenbrauen. "Als Ersatz für das Schneiden?" Wir beide nicken. "Bemerkenswert." Ich muss stolz schmunzeln. Er blättert wieder zurück. "Nun denn, da deine Frau hier ist, würdest du dich bereit fühlen und den Autounfall schildern?" Ich halte Cans Hand fest. Ehrlich gesagt bin ich nervös und eher ängstlich, weil ich Angst habe, dass Can zusammenbricht. Mit beiden Händen hält er meine Hand fest. "Das schaffst du", flüstere ich ihm zu. "Ich war sieben", setzt Can an. Ich weiß, wie schwer das für ihn ist. "Ich durfte vorne sitzen, dann habe ich mich abgeschnallt, umgedreht." Can erschaudert. Er macht das gut, er macht das sehr gut. "Dann ist es passiert." Can hält meine Hand ganz fest. "Das war perfekt", flüstere ich lächelnd, er erwidert es leicht. "Mit sieben Jahren. Kannst du dich an weitere Ereignisse daran erinnern, die dich geprägt haben?" Can nickt seufzend. "Meine Einschränkungen", murmelt er. Als er schluckt, zuckt sein Kiefer. "Welche Einschränkungen? Hat es etwas mit dem aktiven Tremor zu tun?" Can nickt, er ist verstummt.

"Linker Arm... den konnte ich eine Zeit lang gar nicht mehr heben und dann nur ein wenig und mein Rücken." Tief atmet Can durch, windet sich leicht. Er fühlt sich unwohl. "Wurdest du deswegen gehänselt?" Can murmelt, schüttelt sich. Wurde Can als Kind gemobbt? Er meinte, dass es nie dazu gekommen wäre. "Nein, will nicht, nein." Can schüttelt den Kopf, dreht sich zu mir, sucht Schutz. Mir steigen die Tränen auf, das wusste ich ja gar nicht. "Hey, alles ist gut", flüstere ich. Meine Hände fahren über seinen Rücken. Can wurde als Kind gemobbt, wer hätte das gedacht? Ich hoffe, diese Missgestalten kriegen es bitter zurück. Am Ende werden sie von Can operiert. Das erklärt seine Selbstzweifel noch mehr. "Dir tut niemand mehr was", flüstere ich. Sein nervöser Atem prallt gegen meinen Hals. Ich nehme die Wasserflasche und schütte Can etwas ein. Es bleibt ein wenig Wasser im Glas, was ich austrinke. "Geht es wieder?", frage ich. Can nickt, das lässt mich stolz lächeln. "Ich glaube, es liegt eher an der Posttraumatischen Belastungsstörung und nicht am Trauma selbst", meint der Therapeut. "Wie?", haucht Can verwirrt, der mich nicht loslassen will. Ich werde rot. "Du wurdest aufgrund deiner Einschränkungen gehänselt, dadurch hattest du immer wieder ein Wiedererleben des Traumas, weil du ja dadurch den Unfall die Einschränkungen bekamst und du dadurch immer wieder in diese Zeit zurückgeschleudert wurdest. Traumata können, müssen aber nicht, zu entscheidenden und belastenden Folgeerkrankungen führen." Ich kann es nur in Stücken in mich aufnehmen; Can wurde gemobbt!

"Was sind Folgeerkrankungen?", frage ich. "Angststörungen, Süchte, Selbstverletzungen, wiederkehrende Depressionen, Somatisierungsstörungen, mangelndes Selbstwertgefühl, die Erkrankungen sind da breit gefächert." Somatisierungsstörungen. Hatte Can diese, als ich ihn damals berühren wollte? Damals, als er Schluss gemacht hat? "Hast du dir durch das mangelnde Selbstwertgefühl etwas erschaffen? Eine eigene Welt?" Can zuckt mit seinen Schultern. "Wie meinen Sie das?" "Hast du versucht, etwas Bestimmtes zu machen, sodass du dich besser gefühlt hast?" Can hat vieles gemacht. "Gutes oder eher schlechte Dinge?", nuschelt Can, er wippt mit seinen Beinen. "Beides." Abwartend sehe ich ihn an. "Ich habe früh mit dem Sport begonnen, davor auch Klavier gespielt, war in Vereinen, habe geraucht", nuschelt Can zum Schluss. Der Therapeut nickt und schreibt. "Und weiter? Als du herangewachsen bist, warst du da promiskuitiv?" "Und wie er das war", mische ich mich ein. "Can war eine wandelnde Nutte." Ich presse meine Lippen aufeinander. Das wollte ich jetzt nicht sagen. Peinlich berührt schaue ich zu Can, der sich schmunzelnd die Finger auf die Lippen legt. "Ouh, oje", murmele ich. "Ich bin still, sorry." Mit einer erhitzten Stirn drücke ich mich in den Stuhl. Es sollte eigentlich nicht vorkommen, dass die Ehefrau ihren Mann vor einer fremden Person - vor allem vor einem Therapeuten - als Nutte betitelt. Aber ändern kann ich auch nichts mehr daran. Räuspernd richtet Dr. Al-Kon seine Brille, puh, es ist warm hier. Wir ignorieren einfach die peinliche Stille. "Und wieso hattest du so viele Sexualpartnerinnen?" Vorsichtig schaut Can zu mir, ich nicke ihm zu. Er muss ja darüber reden, außerdem kenne ich den Grund. "So habe ich mir mein Selbstwertgefühl verschafft. Ich wurde sehr oft begehrt, das hat mir schon geholfen diese Schutzmauer zu errichten." Es wird kurz still.

"Abusus waren ebenfalls ein Teil in deiner Vergangenheit? Letztens hast du erzählt, dass du dich manchmal betrinkst." "Ja, das stimmt. Ich bin seit der Trennung sensibler geworden. Die Trennung war ein Fehler, es hat mich zerschmettert." "Wie lange hielt die Trennung?", will Dr. Al-Kon wissen. "Mehr als ein halbes Jahr", antwortet Can. "Und warst du in dieser Zeitspanne mehr als zwei Wochen depressiv?" Can nickt. "War eine Depressionsphase ebenfalls in deiner Schulzeit vorhanden, aufgrund des Mobbings?" Wieder nickt Can. "Ich hatte schlechte Noten, habe nur mit Malik und Ramazan geredet, mich oft geprügelt, falls mich jemand beleidigt hat. Das konnte ich nicht vertragen." "Was ist mit deinen Eltern? Warst du schon einmal bei einer Therapie?" "Die Therapien sind immer gescheitert, weil ich mich geweigert habe." Das ist nicht gut. Das hätte Can helfen können. "Das hat dich mehr an deine Probleme geschweißt, es ist aber gut, dass du trotz dessen nicht komplett versunken bist. Von beiden Elternteilen wurdest du unterstützt?" Ich nicke mit Can, obwohl ich es nicht einmal weiß. Ich erfahre in dieser einen Sitzung so viel, nicht nur pragmatische Fakten über die Psychologie, sondern auch über Can. Ich habe vieles über seine Vergangenheit erfahren und wie seine Ideologie ist. Die nächsten drei Sitzungen werden ebenfalls Ressourcenorientiert sein. Mit ganz viel neuem Wissen lege ich mich aufs Bett. Das Wochenende wird mir guttun. Der heutige Tag kam mir wie eine fette Klausur vor, die mehr als vier Stunden ging. Can ist duschen. Moment, Can ist duschen! Sofort stehe ich auf und renne ins Badezimmer. Beide Rasierer liegen gekreuzt auf dem Waschbecken. Ich bin erleichtert. "Ich habe doch gesagt, dass ich mich bemühe." Cans Haare kleben an seiner Stirn, seine Wimpern wirken so unfassbar schön und lang. "Ich... tut mir leid", nuschele ich. Ich sollte langsam mehr Vertrauen aufbauen. Wann Can wohl über die Narbe reden wird und wann er mich sie anfassen lässt? "Setz dich wenigstens, du würdest heute operiert." Ich will Zuneigung kriegen. Deswegen ziehe ich mich aus und steige zu ihm. Ich will einfach nur die ganze Zeit in seinen Armen gehalten werden, mehr nicht. Can streicht mir meine Haare zurück, fährt mich über meine Seiten. "Eigentlich müsstest du im Bett liegen und dich schonen." Ich zucke mit meinen Schultern. Ich spüre, wie er mein Haar zwirbelt. "Magst du es, nackt zu kuscheln?", fragt er leicht schelmisch. Ich muss schmunzeln. "Ich liebe es." Ich höre ihn kurz lachen. Diese kleinen Gekicher sind niedlich. "Solange du glücklich wirst, ist es mir recht." Lächelnd vergrabe ich mein Gesicht in seiner Brust. Das Wasser hat sich leicht verfärbt, das heißt, ich blute. "Ich beeile mich, dann legen wir uns hin."

Mit erneut nassen Haaren lege ich die Decke auf mich. Eigentlich mag ich es, wenn der Freitag nach der Uni sehr langsam vergeht, aber ich will alles schnell verdauen. Die Frauenärztin meinte, dass ich zwei Wochen keinen Sex haben sollte. Mal gucken, wie Can das aushalten wird. Er hat ziemlich neutral gewirkt, aber innerlich ist er sicherlich tausend Tode gestorben. "Wann würdest du es wollen... also ein Kind?", fragt Can mich. "Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall nicht jetzt. Ich will das Studium beenden, ohne Schwanger zu werden." Er nickt verstehend. "Du magst Kinder?" Er nickt leicht. "Meine eigenen Kinder werde ich lieben." Er tippt mir gegen die Stirn. "Vor allem, wenn sie nach ihrer Mutter kommen. Meine sensible Rose", raunt Can. Seine Kosenamen lassen mich immer erblühen. "Shevin wollte sich diese Tage mit uns zum Essen verabreden. Denkst du, du fühlst dich fit genug?" Ich nicke. "Bestimmt. Ich mag deine Geschwister. Sie sind so herzlich." Es wird still, mir schwebt eine Frage im Kopf herum. "Wieso hast du mir nie gesagt, dass du gemobbt wurdest?" Er schließt schnaubend die Augen. "Es ist Vergangenheit." "Als ich dich gefragt habe, hast du es verleugnet." "Das ist doch jetzt kein Thema mehr." "Doch, das ist es. Reden, statt es in die Ecke zu drängen. Warst du mit Ramazan und Malik in derselben Grundschule?" Er nickt. "Beide haben mich immer beschützt. Wenn ich könnte, würde ich beiden ein Haus kaufen. Diese Jungs sind meine Brüder, ich schulde ihnen vieles, weil sie mich niemals verlassen haben. Ich frage mich immer wieder, wieso sie bei mir geblieben sind." Er hält inne, als er etwas sagen will. "Darf ich ihnen von der Fehlgeburt erzählen oder wäre das zu intim für dich?" Nun halte ich inne. "Ich weiß nicht so recht", flüstere ich. Die Nachricht ist so neu. Es kommt mir unmoralisch vor, ich weiß nicht wieso. "Wenn du es nicht möchtest, ist es nicht schlimm, das verstehe ich." Can streift mir mein Haar zurück, küsst mich sanft. Ich brauche so viele Liebkosungen jetzt. Ich will ganz viel Liebe verspüren. Can löst sich von meinen Lippen, schaut mich ernst an, ehe er mich mit Küssen attackiert. "Can, das kitzelt", kichere ich. Ich muss mich winden, als er meinen ganzen Nacken rasch küsst und dann wieder auf mein Gesicht losgeht. Seufzend löst er sich von mir, schaut mich lächelnd an, genau wie ich ihn.

Es ist faszinierend, wie ein Lächeln mich alles vergessen lässt.

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