Kapitel 8

Ruth B. - Lost Boy

Okay, ich weiß nicht, was gerade bei den Jungs los ist, aber ich habe Szenarien im Kopf. Szenarien, in denen Can lallt und anfängt zu philosophieren oder wie er anfängt, aggressiv zu werden. Mein T-Shirt liegt inzwischen wieder in meinem Schrank. Ob Can jetzt Albträume hatte? Ich hätte nicht gedacht, dass ich mein T-Shirt so einfach zurückbekommen würde. Aber vielleicht kommt Can mich wieder besuchen. Ich bin echt verzweifelt. Mit meinen Nägeln klimpere ich herum und seufze. Ich bin total nervös. Wie wird es enden? Wie wird es anfangen? Wer beginnt zu reden? Wer wird wen unterbrechen? Wer wird als erstes anfangen zu schreien? "Oh Gott", seufze ich. Ich habe kurz vergessen zu atmen, weil mich das, was sich gleich abspielen wird so mitnimmt. Can wird aber nicht ausrasten - hoffentlich. Mein Handy blinkt auf. Ramazan hat mir geschrieben.

'Can ist betrunken.' Ich gebe Ranja Bescheid, damit sie losfahren kann.

Mein Bein wippt, weil ich mich sonst nichts ablenken kann. Ich habe irgendwie Angst, bin aber auch echt neugierig, wegen dem, was gleich passieren wird. Oh Gott, es ist so aufregend. Die Gebäude sausen an uns vorbei, obwohl sie sich nicht bewegen - paradoxer Satz. Wir sausen davon und das zu schnell. Ich kenne die Häuser, weil ich oft an ihnen vorbeigefahren bin. Wir sind gleich da, oh Gott. Was Can wohl sagt? Redet er sich bei Malik und Ramazan aus? Wie oft hat Can geweint? Wie stark war es wohl? Länger kann ich darüber nicht nachdenken, da wir jetzt vor dem blassgelben Komplex stehen, indem Can unter anderem wohnt. Tief atme ich durch, so als ob ich gleich meine erste Herztransplantation durchführen werde und schnalle mich ab. "Viel Glück." Ranja weiß zwar nicht ganz genau, was ich geplant habe, aber trotzdem hoffe ich, dass es mir helfen wird. Die Tür unten ist offen. Ich schreibe Ramazan, dass ich im Aufzug bin, als dieser sich öffnet. Sonst fand ich den Aufzug zu langsam, aber jetzt ist er zu schnell. Im Flur höre ich schon Cans Stimme. Er schreit. "Nie wieder verliebe ich mich!" Ich bleibe stehen und schlucke. Ich darf nicht kneifen! Ich konnte so tun, als ob ich betrunken wäre, also kann ich jetzt auch mit einem Betrunkenen reden - wo zum Teufel ist da die Korrelation? Ruhig bleiben, Shana. Ich laufe langsam weiter und schreibe Ramazan, dass ich vor der Tür stehe. Kurz danach höre ich, wie jemand im Flur ist und kurz danach, wie jemand - Ramazan - die Tür öffnet. Er drückt mich kurz und seufzt im selben Moment, wie ich es tue. "Wir sind nebenan. Das hier ist der Schlüssel von seinem Zimmer. Malik hat Can da gerade hingebracht", flüstert Ramazan und drückt mir aufmunternd die Hände. Den Schlüssel halte ich feste in meiner Hand und schleiche vorsichtig durch den Flur. Auf dem kleinen Wohnzimmertisch sehe ich Shotgläser, normale Gläser und eine halbleere Flasche von Jack Daniels. Die Tequila Flasche fällt mir erst jetzt auf. Es riecht so schön nach Zitrone. Malik tritt gerade heraus und hält mir die Tür offen, als er dabei war, sie zu schließen.

Mit erhöhtem Herzklopfen trete ich in sein Zimmer und schließe die Tür ab. Sofort setzt sich Can, der gerade noch am Liegen war, auf und sieht mich feindlich an - so als ob ich ein Eindringling wäre. Na ja, ich bin auch irgendwie einer. Da Can aufsteht und ich etwas panisch werde, tue ich den Schlüssel in meinen Ausschnitt. Mir wird warm und kalt zu gleich. Ich weiß nicht, wie ich jetzt reagieren soll. "Raus", zischt er. Das erinnert mich an den Tag, als Can total launisch war, nachdem er erfahren hat, dass sein Vater einen Herzinfarkt erlitten hat. Er kommt wie ein wütender Löwe auf mich zu, weswegen ich mich gegen die Wand drücke. Mit Wucht boxt er gegen die Tür, scharf an meiner Schläfe vorbei und sieht mich mit blutunterlaufenen Augen an. "Ich bringe dich gleich um. RAUS MIT DIR!" Ich zucke zusammen und versuche nicht zu weinen. Er ist traurig und wütend, ich darf es nicht zu Herzen nehmen. Can will sich nur schützen. Aber... würde er mich wirklich umbringen wollen? Der Waffenschein kommt mir wieder in den Sinn und lässt mich erschaudern. Er ist nur wütend, verwirrt und verzweifelt. Nur das und mehr nicht. Er braucht Unterstützung und Liebe. Can ist labil und hat Aggressionsprobleme. Dass das mit dem Waffenschein noch dazu gemischt wurde, lässt Cans Lage zu einer Bombe werden. Ich strecke langsam meine Hand aus, um seine Brust zu berühren, doch er zuckt sofort weg. Ich gehe von der Tür weg, will seinen Arm berühren, aber auch das lässt Can nicht zu. Er will nicht, dass ich ihn berühre. Can fürchtet sich vor mir. Seine Atmung hat sich beschleunigt. Can wirkt panisch. Was ist jetzt los? "Lass mich raus", flüstert er außer Atem. "Lass mich raus, lass mich raus, LASS MICH RAUS!" Er schlägt gegen die Tür und ist kurz davor, sie zu zerstören, als ich meine Arme von hinten um ihn lege und zurückziehe. Er schreit auf, so als ob ich ihn verletzt hätte und taumelt aufs Bett.

Can scheint eine Art Panikanfall zu haben und versucht meine Berührungen zu entfernen. Mir bricht es das Herz, dass Can so leidet, so viel Angst hat und so schwach ist. "GEH WEG!" Can zieht an seinem T-Shirt, bis es reißt. Ich mache zitternd das Fenster ganz auf und versuche nicht zu weinen. Wie soll ich ihm helfen? Meine Brust zieht sich zusammen, das Atmen fällt mir schwerer. "Can, bitte beruhige dich." Ich lege die Decke um ihn, damit ich ihn nicht mit meiner nackten Hand anfassen muss. Tränen verlassen meine Augen, weil ich nur versuche dem Mann zu helfen, dem ich so verfallen bin, der mich so stark in seinen Bann gezogen hat. Ich will ihm wieder nahe sein, damit wir beide beruhigt sind, aber was jetzt passiert, ist alles andere als beruhigend. Can erleidet einen Fast-Panikanfall. Er scheint sich jedoch zu beruhigen, als ich die Decke um ihn gelegt habe und ihm etwas nahe bin. Vielleicht wegen meiner Nähe oder wegen meines Duftes. "Sieh doch nur, was du angerichtet hast", faucht Can leise und voller Hass. Ich gehe zurück. Ich dachte, Can wäre zu betrunken, um fest reden - zu betrunken, um so aggressiv zu sein. "Wieso willst du den Waffenschein machen?" Er wird hellhörig. Ich warte, doch es kommt keine Antwort. "Sag doch!" "Nein", lallt er nun. Wieso hat er gerade nicht gelallt? "Willst du jemanden umbringen?", flüstere ich fassungslos. Sein Blick verfinstert sich. "Wer hat hier unsere Beziehung getötet?!", blafft er. Seine Brust bewegt sich wieder schneller. "Du", kommt es verständnislos von mir. "Du und niemand anders, Can." Ich werde wieder wütend. "Aykan hat mich geküsst!" "Hör auf zu reden!" "Nein!" Ich gehe auf Can zu und will seine Schultern anfassen, als er sich wegrollt und die Decke fester um sich zieht. Seine Knöchel sehen ja richtig misshandelt aus. Was zum Teufel hat Can getan?!

"Was fühlst du, wenn ich dich berühre?", will ich heiser wissen. Wieso sagt Can mir nicht, was er denkt? Er ist doch betrunken, wieso klappt es nicht? Wieso konnte er an seinem achtzehnten Geburtstag alles ausplaudern, aber nicht jetzt? Can senkt seinen Blick und rutscht weiter zurück. "Was fühlst du, Can?" Ich will ihn an der Schulter anfassen, als er meine Hand wegschlägt und mich mit aufgerissenen Augen ansieht. Der Schlag zieht etwas, aber das kann ich ihm nicht verübeln. Er ist verängstig. Ich mache ihm Angst. "Rede mit mir, Can, bitte! Ich versuche herauszufinden, was in dir vorgeht, damit ich uns wieder heilen kann", flüstere ich zum Schluss und knie mich vor Can hin. Von mir aus werde ich ganz devot, nur soll Can mit mir kommunizieren. "Tut es dir weh, wenn ich dich anfasse? Ist es deine Verlustangst, die nicht will, dass ich dir weiter zu nahekomme, damit sie nicht noch größer wird, bei jedem Mal, wenn du mich sieht?" Ich sehe ihn gequält an. Wieso redet mein Freund nicht mit mir? Hat er mich nicht sonst immer als seine Verlobte betitelt? Wie sehr wünsche ich mir gerade, die Zeit zurückzudrehen und an den Tagen anhalten, als Can mich als seine Verlobte betitelt hat. Tief atme ich ein und schließe meine Augen. Diese Erinnerung schmerzt sehr. "Can, bitte. Du willst es doch auch. Du willst doch ebenfalls, dass wir glücklich werden. Heirate mich, ich besorge von mir aus die Ringe, Can. Ich flehe dich an!" Die Tränen sammeln sich alle natürlich wieder, bei meinem verzweifelten Heiratsantrag. Ich will ihn doch nur zurück. "Can, bitte", schluchze ich. Sofort schaut er weg. "Sieh mich an!", fordere ich aufgebracht. "Sieh an, was du angestellt hast, Can!", rufe ich.

Can wirkt wieder panisch. Er ist blasser und seine Brust hebt sich wieder so schnell. Er will die Tür öffnen, doch er kriegt sie nicht auf. Sie ist verschlossen. "Mach die Tür auf", flüstert er und rüttelt an der Klinke. "MACH SIE AUF!" Wieso sagt er meinen Namen nicht mehr? Ich weiß gar nicht mehr, wie sich mein Name aus seinem Mund anhört - aber es hört sich wunderschön an bestimmt. Mit aufgerissenen Augen sieht er mich an. Wieso erleidet er solche Anfälle? Er rammt sich gegen die Tür, was mich zusammenzucken lässt. "Hör auf!" Er hört nicht hin und macht weiter, weswegen ich auf ihn zugehe und er sofort zurückweicht. Ich bin sozusagen ein Teufel vor ihm. Ich bin etwas, was ihn in die Knie zwängt. Wie könnte ich das ausnutzen? Ich kann es nicht, es fällt mir so schwer. Ich bringe es nicht übers Herz, meinen Mann so leiden zu sehen, auch wenn ich für seine heutigen Anfälle zuständig bin. "Gib mir das T-Shirt und geh endlich!" Es ist kein Stück von seinem Betrunkensein zu sehen - faszinierend. Hat Can sich entweder in dieser kurzen Zeit an so viel Alkohol gewöhnt oder ist sein Gehirn in Alarmbereitschaft, weil es denkt, dass ich jemand Böses bin? "Ich will dich berühren." Can geht sofort weiter nach hinten. "Geh raus!" Er schlägt mit seinen Ellenbogen gegen seine Schränke und stammelt. "MALIK! RAMAZAN!", schreit er und hält sich den Kopf. Er kauert sich hin und atmet sehr schnell. Er trägt das Haargummi immer noch. "SIE SOLL WEG!" Mir wird kalt. Mache ich ihm Angst? Aber... aber was mache ich denn? Mir schießen die Tränen aus den Augen. Er ist so verloren. Es klopft an der Tür, doch ich bin gerade wie versteinert. Ich mache ihm Angst. Er ist traumatisiert. Er ist in seiner Angst so verloren, die Angst frisst ihn auf. Meine Tränen tropfen auf mein Oberteil. Ich höre ihn schluchzen, was mehr Tränen hervorruft. Wieso tut es so weh? Es brennt wieder in mir. Welches Körperteil in mir lässt das Kerosin laufen und welches Körperteil zündet gerade das Feuer, als ich Can weinen höre. Ich will ihn umarmen, aber er würde vielleicht vor Panik keine Luft kriegen. Jetzt höre ich das Klopfen wieder. Ich darf ihn nicht so foltern. Langsam gehe ich an Cans Schrank, nehme mir ein T-Shirt raus und tausche es gegen meins. Mir egal, ob Can mich vielleicht im BH gesehen hätte. Den Schlüssel hole ich raus und lege das T-Shirt zum verlorenen und verängstigten Jungen, bevor ich mit verschwommener Sicht und zitternden Händen die Tür öffne und an den Jungs vorbeirausche.

Ich höre Ramazan nicht zu und renne aus dem Komplex. Ich brauche Luft! Diese warme Luft beruhigt mich nicht. Ich will die Luft, die Can will. Ich brenne innerlich. Das Bild vom weinenden, ängstlichen und verzweifelten Can hat sich in mein Gehirn eingebrannt. Sein Schluchzen spielt sich wie ein Mantra in meinem Kopf ab und es wird mich zu hundert Prozent verfolgen. Ich wische mir meine Tränen weg und ziehe die Nase hoch. Ich will uns befreien. Ich will uns helfen - vor allem Can, aber es ist so verdammt schwer. Es ist wie, wenn man als Arzt einen geliebten aufschneiden muss - auch wenn man es aus psychischen Gründen nicht darf - und eine spontane Herztransplantation durchführen muss, ohne sie jemals zuvor praktiziert zu haben. Man hat viel Vorwissen, aber ob dieses Vorwissen reicht, damit man der Person helfen kann, weiß niemand. Niemand, außer Gott. Wie kann ich diesen Jungen bloß wieder erreichen? Ich senke meinen Blick und laufe in eine Gasse rein. Seine Panik kommt mir wieder in den Sinn, sein Geschrei, sein Weinen. Er hat sich versucht zu verstecken, weil er so panisch war und es vielleicht immer noch ist. Ich nehme mein Handy und rufe Ramazan an. Ich hoffe, es geht Can gut.

"Ja?", seufzt er.

"Wie geht es ihm?"

"Malik versucht ihn zu beruhigen. Was ist passiert, dass er so verängstig war? Wir haben ihn schreien gehört und dachten, dass du eigentlich anfangen würdest zu schreien." Das dachte ich auch.

"Er wollte nicht berührt werden. Nicht von mir. Er hatte sehr starke Angst. Macht eine Koranrezitation an, gibt ihm Wasser. Das braucht er. Als Kind brauchte er immer etwas zu trinken, falls er in Panik geriet und sorgt dafür, dass das Glas dann leer ist, wenn er nicht alles austrinkt. Ich hoffe mein T-Shirt kann ihn beruhigen." Ich schließe für einen Moment meine Augen, weil ich mit mir selber kämpfen muss, um nicht zu weinen.

"Machen wir, aber wie geht es dir?" Tief atme ich aus.

"Besser als Can. Das war zu viel. Ich dachte, dass Can alles aus seiner Seele befreien würde, aber er war genauso verschlossen, wie davor auch. So ängstlich und zerbrochen", flüstere ich zuletzt.

"Brauchst du etwas? Soll ich dich nach Hause fahren?" Ich verneine es.

"Kümmert euch bitte um Can. Ich lasse ihn vorerst in Ruhe, bevor er noch umfällt vor Angst. Geht vorsichtig mit ihm um, lasst ihn in Ruhe und die Sachen die er braucht auch. Ich habe mir eins seiner T-Shirt genommen und meins dagelassen, damit er keine Albträume hat. Es ist eine Frage der Zeit, Ramazan." Es wird still in der Leitung. Was soll Ramazan denn auch zu unserer verzwickten Situation beitragen?

"Es wird alles wieder gut, Shana. Ich muss auflegen, pass auf dich auf." Ich schließe meine Augen und lege auf, bevor ich weiterlaufe.

Dieser ängstliche Junge mit den gelben Augen kommt wieder zum Vorschein. Der große und starke Junge, der von anderen gefürchtet wird, ist doch so zerbrechlich und ängstlich im Inneren. Oh, Can, ich würde dich so gerne in meine Arme schließen und dafür sorgen, dass du wieder der furchtlose und starke Mann wirst, nur damit ich dich nie wieder so leidend, hundeelend und desperat sehen muss. Von mir aus nehme ich dein Leid auf mich, schleppe ihn monatelang auf meinen Schultern herum, nur damit du nicht leidest, weinst oder an Albträumen leidest. Ich will, dass du lachst, fröhlich bist und voller Selbstbewusstsein - mein emanzipierter und souveräner Can. Aber du bist gerade so viel weniger als das. Du bist am Ende, Can.

Mein verlorener Junge, Can.

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Ich wurde während des Schreibens unterbrochen, weil urplötzlich ne dicke, schwarze Katze in unserer Wohnung war, geeeeeeil.

PS: Ich hatte eigentlich nicht so viel Angst, ja.

- Helo

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