Kapitel 7
Sofia Karlberg - Shameless
Mittwoch, 10. Juli
Heute sind Meryem und Viyan bei uns zu Besuch und wollen sehr lange bleiben. Vom Besuch wusste ich erst Bescheid, als ich aus dem Krankenhaus wiederkam, da ich wieder eine Herzuntersuchung hatte. Ich habe mir den ganzen Ablauf gemerkt und mit dem Kardiologen gefachsimpelt. Ich habe mir auch den Ablauf in meinem Körper gemerkt, als ich den Herzinfarkt hatte. Ein grausames Gefühl. Diesen vernichtenden Schmerz will ich nie wieder fühlen. Morgen ist Doris' Todestag. Ob sie weiß, was bei uns los ist? Ob sie uns irgendwie helfen kann? Sie wäre auf jeden Fall nicht glücklich, wenn sie von mir erfahren würde, was passiert wäre. Meine Mutter hat mich angerufen. Ich habe ihr gesagt, dass es zurzeit sehr stressig ist und wir nur an der Doktorarbeit arbeiten. Ich habe noch gestern an ihr gearbeitet, deswegen ist es nicht ganz gelogen. Ranja sagt mir, dass ich heute nichts machen soll, dabei wollte ich mich mit einer Doktorarbeit ablenken. Es wird gekocht und dabei entsteht Lasagne. Nur mit Gouda, kein Parmesan, wie Can es immer gemacht hat. Ich hoffe, dass ich ganz viel davon Essen kann, damit ich wieder die vier Kilo zurückbekomme. Wie schön es wäre, wenn ich mit Can wäre. Bei dem Gedanken schlägt mein Herz schneller. Ach, Can, ach. Wieso lässt du uns beide so brennen? Ich nehme mir mein Handy und schreibe ihm, wie die Tage zuvor auch.
'Wie geht es dir?' Kurz warte ich.
'Trink bitte nicht zu viel, das ist nicht gesund.'
'Pass auf dich auf.' Ich lege mein Handy weg, als das Essen fertig ist.
Schweigend essen wir, da die Spannung bedrückend ist. "Hast du schon gepackt, Shana?", fragt Viyan mich, was ich verneine. Ich sollte langsam anfangen. Can wird dabei sein. Das wird ein schlimmer Urlaub. Hätte ich mich einfach dagegen entschieden, mitzukommen. Can wäre in Spanien und ich wäre hier in Deutschland, dann könnte ich alleine das Leid abbauen. Aber vielleicht kommen wir uns wieder näher, wenn wir im Flugzeug oder auf einem Zimmer sind. Vielleicht sperren Ramazan und Malik uns in ein Zimmer ein und lassen uns erst wieder raus, wenn wir uns vertragen haben. Das wäre gut. Ich habe sowieso eine Idee für die ich die beiden Jungs brauche. Ich will, dass Can betrunken ist und dann in einem Zimmer mit mir ist. Das hört sich zwar moralisch dezent verdorben an, aber mir sind alle Mittel recht, wenn es um Can und mich geht. "Das wird schön, glaub mir", versucht Meryem mich etwas zu euphorisieren, aber ich weiß, dass es ein Reinfall sein wird. Es wird voller Leid sein, aber vielleicht taucht auch die eine oder andere Situation auf, in der es etwas harmonischer ist. Ich nehme eine meiner letzten übriggebliebenen Medikamente zu mir und seufze. "Hast du noch Brustschmerzen?", fragt Saliha, was ich verneine. "Nur seelischen Schmerz." Sofort senkt sie ihren Blick und isst weiter. Can würde mich jetzt eigentlich anmeckern, weil ich meine Laktoseintoleranz-Tabletten nicht zu mir genommen habe. Ich schreibe es ihm einfach, damit er meckern kann und ich einen nostalgischen Moment habe.
'Esse Lasagne und habe davor keine Medikamente genommen.' Ich bin echt froh, dass Can mich nicht geblockt hat.
Wir essen zu Ende und sitzen schweigend im Wohnzimmer. Das Schweigen will ich nur zum Teil. Ich würde gerne abgelenkt werden, lachen und vieles mehr, aber diesen Schmerz kann man nicht so schnell ablösen. Er ist riesig, fast zwei Meter groß, stark und verängstigt. Ich würde ihn so gerne in den Arm nehmen und ihn liebkosen. Ich würde in die Dunkelheit gehen, wenn ich wüsste, dass Can dann bei mir sein wird, mich lieben und akzeptieren wird. Die Tränen kommen wieder hoch, doch ich verdränge sie so gut es geht. Dieses schwarze Etwas ist so groß und so stark, dass es mich immer wieder niederschmettert. Wieso konnte meine Mauer mich nicht davor beschützen? Ich schaue auf mein Handy, aber Can hat die Nachrichten nicht gelesen, genauso wie die Nachrichten der Tage zuvor. Wie lange soll das so weitergehen? Kann Can nicht zu mir kommen und mir den Schmerz nehmen? Wieso muss er plötzlich so verdammt stur sein?! Er ist mit meinem Herzen und mit meiner Seele weggerannt. Ich brauche ihn doch, wieso muss er gehen? "Vielleicht war Can nicht der Richtige", sagt Viyan aufmunternd. Es ist zwar nett, dass sie versucht mich abzulenken, aber es klappt nicht und vor allem klappt es nicht, wenn man mit falschen Tatsachen ankommt. "Er ist der Richtige." Ich schaue an die Decke. "Aber wieso will er nicht mit dir-," "Es gibt Dinge, die Can geprägt haben. So sehr ich ihm diese Dinge jetzt rausschlagen will, es geht nicht. Mich haben auch Sachen geprägt, die uns zur Distanz geführt haben, aber Can hat nicht aufgegeben. Wir waren ein Jahr zusammen und dieses Jahr ist mir zu schade, dass ich es einfach wegschmeiße. Wir sind verbunden, wir sind Seelenverwandte, die ohne den anderen krank werden. Wir sind abhängig voneinander. Wir sind wie zwei Koksabhängige, die jetzt depressiv und kraftlos sind, weil sie nicht mehr an ihre Droge kommen. Can ist meine Droge und ich seine. Mein Gehirn hat kein Dopamin mehr - das ist ein Glückshormon - und das nur, weil Can nicht mehr da ist und mein Gehirn deswegen keinen Grund sieht, etwas davon freizugeben. Wenn Can nicht da ist, fühle ich keine Belohnung. Ich bin verloren. Verloren an diesen Mann, an seine Stimme, seine starke Ausstrahlung, an seinen Duft und seine Stimme. Wenn er mir jetzt sagen würde, dass ich niederknien und nicht mehr aufstehen soll, dann würde ich es tun, nur damit ich ihn wieder bei mir habe. Er hat mir meinen Stolz genommen und sie durch Liebe ersetzt. Er hat meine Mauern zerstört, die fünf Jahre seit Cans Existenz gebraucht haben, um einzustürzen. Oh, ihr wisst nicht, was für ein Feuer in mir herrscht, dass von niemanden gelöscht werden kann. Von niemanden, außer Can. Ich weiß nicht, wie ich ihn zurückgewinnen kann, deswegen will ich zu dreisten Methoden greifen. Diese Liebe ist toxisch und macht blind, sie lässt einen sehr hochfliegen, bis irgendwann der Tag kommt, an dem man sich verbrennt und auf den Boden geschmettert wird. Das ist das Ikarus-Phänomen." Mir ist gar nicht aufgefallen, dass mir wieder Tränen über die Wangen rollen. Ich kann mich nicht mehr halten und fange an zu schluchzen. Es nagt zu stark an mir. Ich sterbe tausend Tode und das nur wegen einer Trennung. Werde ich damit jemals klarkommen? Wie soll ich das Studium weitermachen, wenn ich abhängig bin und nichts dagegen tun kann? Ich bin zu sehr verloren. Ich will so sehr wissen, was Can jetzt macht. Ich weiß gar nicht, wie ich so depressiv weiterleben soll. Wie geht das? Was soll ich machen?
Ich spüre, wie ich in den Arm genommen werde und stelle mir einfach vor, dass es Can wäre. "Können wir dir irgendwie helfen?", höre ich Meryem vorsichtig fragen. "Ich will Can zurück. Ich will ihn hier haben. Ich will ihn anfassen können. Von mir aus kann er hier sein, ohne dass ich es bemerke." Ich schniefe und wische mir die Tränen weg. Mein Handy nehme ich mir zur Hand und rufe Can an, der aber nicht drangehen tut. Er hat mich fliegen lassen, ich kann jetzt nicht die ganze Zeit liegen bleiben. Ich muss wieder aufstehen und fliegen. Mein Handy nehme ich mir wieder zur Hand und rufe Ramazan an, der schnell abnimmt.
"Ja?"
"Ist er zu Hause?", flüstere ich schniefend.
"Ja, er schläft. Er kam vom Training." Ich nicke.
"Ich komme vorbei." Damit lege ich auf und schaue zu Ranja, die sich schon bereitmacht.
Gemeinsam laufen wir beide runter, wobei ich stolz bin, dass ich das jetzt mache. Ich fahre zu Can, ohne zu wissen, wie er reagieren wird. Er könnte ausrasten, er könnte etwas zerstören, er könnte wegrennen oder einfach nur still bleiben und mir zuhören. "Soll ich unten warten?" Ich zucke mit meinen Schultern. Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird. Wenn es lange dauert, dann kann mich Ramazan oder Malik zurückfahren. "Du kannst dann zurückfahren." Ranja startet das Auto und fährt los. Ich stelle mir so einige Szenarien vor, während Can schläft. Ob mit oder ohne Albträume weiß ich nicht.
'Ich bin nicht angeschnallt', schreibe ich ihm.
Wir kommen vor dem Gebäude an, wo ich aussteige und durch die offene Tür gehe. Ich entscheide mich für die Treppen, da mir der Aufzug zu lange dauert. Mit beschleunigtem Herzschlag, der nicht nur vom Treppensteigen kommt, stehe ich vor der Tür und klopfe. Ramazan öffnet die Tür breitet vorsichtig seine Arme aus. Ich lasse mich sofort in seine Arme fallen und drücke mich fest an ihn. "Schläft er noch?", flüstere ich. "Ja." Er lässt von mir ab und lächelt mir aufmunternd zu. Seufzend laufe ich durch den Flur und sehe in der Küche, wie Malik fegt. Es sind Scherben auf dem Boden. Can muss wohl ausgerastet sein. Leicht gequält lächele ich Malik an und öffne leise die Tür. Can liegt in seinem Bett, auf dem Bauch, ohne T-Shirt. Vorsichtig schließe ich die Tür wieder und nähere mich Can. So ein hübscher, dennoch ängstlicher Mann. Was er wohl träumt? Mich juckt es in den Fingern, seine Kinnlinie nachzufahren und durch seine Haare zu streichen. Ich will mich zu ihm ins Bett legen und ihn nie wieder loslassen müssen. Wie von alleine legt sich meine Hand auf seine weiche Wange, woraufhin Can sich windet und die Augen öffnet. Er schlägt meine Hand sofort weg und setzt sich aufrecht hin. Habe ich ihn erschrocken? Wieso schaut er so, als ob ein Monster vor ihm stehen würde? "Geh." Das tat weh. "Can", flüstere ich und versuche alles, um nicht zu weinen. "Ich brauche dich nicht." Meine Augen weiten sich. Wieso wirft er alles nach mir? Wieso will er nicht, dass ich uns wieder heile? Wieso hat Can so eine große Angst? "Lügner", hauche ich. Seine Augen verengen sich. "Du lügst." Ich nähere mich ihm wieder und sehe, wie seine Augen leuchten. Er hat Sehnsucht zu mir. "Du willst doch ebenfalls die Liebe zurück." Er regt sich nicht, schaut mich nur mit seinen atemberaubenden Augen an. "Sag es", fordere ich. "Wieso versteckst du dich, Can?" Ich laufe einen weiteren Schritt auf das Bett zu und setze mich. Can weicht einen Schritt zurück. "Wieso rennst du weg?" Er blinzelt, so als ob es ihn irritiert, dass ich gerade vor ihm sitze. "Wieso glaubst du, dass ich Aykan gewollt geküsst habe? Ich habe den Kuss nicht einmal erwidert. Ich habe Aykan zusammengeschissen. Was geht in deinem verdammten Kopf vor sich, dass du mich abblockst?", rufe ich am Ende verzweifelt.
Can schaut auf die Bettdecke. Seufzend schaue ich zur Seite und entdecke mein schwarzes T-Shirt. Ich schnappe es mir, und sofort wird Can aufmerksam. "Gib es her", knurrt er. Ich werde versuchen Körperkontakt aufzubauen. "Nein, es ist meins." Sein Blick verfinstert sich. "Gib es her!", faucht er und kommt mir näher. Ich stehe auf und laufe rückwärts nach hinten. Ich weiß, dass sich hinter mir der Schrank befindet und das ist meine Absicht. Das T-Shirt halte ich mir an meine Brust. "Gib es mir zurück. Es ist meins!" Ich schüttele den Kopf und bebe innerlich, da Can mir näherkommt. Es ist eine Mischung aus Angst, Aufregung und Freude, die sich in mir aufstaut. Ich nutze schamlos die Labilität eines Mannes aus, nur damit er sich mir nähert. "Es gehört mir. Es ist mein T-Shirt und mein Duft auf ihm", sage ich ruhig und schaue in seine Augen, die auf mein T-Shirt schauen, als ob es das Heiligste ist, was er hat. Wahrscheinlich ist es auch das Heiligste für ihn jetzt. Er kämpft mit sich. Can ist gerade mein Versuchskaninchen, welches ich skrupellos foltere und dabei analysiere. "Gib es zurück", presst er hervor. Er wirkt leidend. Leidet er so stark, wie ich es tue? Nein, er leidet auf eine andere Art und Weise. "Komm zurück, Can." Er schüttelt den Kopf. "Wenn du hierhin kommst, kriegst du vielleicht das T-Shirt." Ich will ihn in meiner Nähe haben. Ich will ihn spüren können. "Lass mich zurück in dein Herz, Can", flüstere ich und spüre das traurige Beben in mir. "Lass uns von vorne beginnen." "Nein!", faucht er. "Du kriegst dann hunderte von T-Shirts mit meinem Duft. Du wirst in Ruhe schlafen können. Can, es tut so weh", flüstere ich zum Schluss, da ich wieder anfangen werde zu weinen. Er verspannt sich. Wie sehr ich mich an diesen athletischen Körper schmiegen will und küsse auf seine Brust setzen will. Mir kommen die Tage wieder hoch, wo mir die negativen Gedanken in den Sinn kamen. Die Gedanken, dass Can und ich uns trennen würden. Habe ich es also vorhergesehen?
"Es ist deine Schuld", blafft er, was mich zusammenzucken lässt. "Ist es nicht", flüstere ich. Mein T-Shirt hat seinen Duft aufgenommen. Es riecht so gut. "Doch!" "Nein!", gebe ich halb brüchig und halb wütend von mir. "Aykan hat mich geküsst und du willst die Wahrheit nicht wahrhaben und wieso? Wieso, Can? Wieso machst du das? Wolltest du mich etwa nicht mehr und dachtest, dass das der perfekte Moment wäre, um es zu beenden?" Can kommt einen Schritt näher. "Liebst du mich nicht mehr? Wolltest du keine Zukunft mehr?" Aus Rage kommt er immer näher. Wird er seine Hand um mein Kinn legen und feste zupacken? Das wäre mir recht, ich will ihn einfach nur spüren dürfen. "Das hast du nämlich geschafft." Seine Hand schnellt an mir vorbei und trifft seinen Schrank, was ein sehr lautes Geräusch abgibt. Mein Herz schlägt schneller. "RAUS HIER!", schreit er. Er hebt förmlich und will alles kurz und klein schlagen. Er will ausrasten und schreien, vielleicht sogar weinen. Ramazan und Malik betreten das Zimmer. Malik zieht Can zurück und Ramazan zieht mich aus dem Zimmer. Ich zittere und halte das T-Shirt feste an mich gedrückt. Ich schaue zurück zu Cans Zimmer, wo die Tür geschlossen wird. Anscheinend versucht Malik ihn zu beruhigen. "Hier, trink." Ich bedanke mich bei Ramazan und trinke das Wasser. "Ich will, dass Can betrunken ist", flüstere ich. Ramazan sieht mich verwirrt an. "Ich will Can gefügig machen. Er soll betrunken sein, da lässt er seine Gefühle mehr raus. Ich will mit ihm in einem Zimmer sein, wenn er betrunken ist, und dass noch diese Woche", erkläre ich Ramazan leise, der etwas überfordert seufzt und sich durch seine braunen Locken fährt. Ich fahre ihm ebenfalls durch seine Haare, da ich nicht durch Cans fahren kann. "Shana, das ist ein echt großer Vertrauensbruch." Ich verzerre leicht das Gesicht. "Can betrinkt sich doch sowieso nur. Er soll es hier tun und dann geht ihr in euer Zimmer und ich rede mit ihm. Bitte, Ramazan, ich muss es versuchen", flehe ich. Ich will es so schnell wie möglich, da wir sonst keine Zeit haben werden. Da wird es nicht so einfach sein. Ich umarme Ramazan und drücke feste zu, was ihn ächzten lässt. "Bitte, bitte, Ramazan. Mach Cana glücklich." Verzweifelt schaue ich hoch und sehe, wie er mit geschlossenen Augen seufzt. "Also gut. Malik und ich kümmern uns darum." Ich fange seit langem wieder an zu lächeln. "Dankeschön, Ramazan." Er legt seinen Arm um mich, woraufhin wir gemeinsam nach unten laufen. "Hat er dir wehgetan?", fragt Ramazan mich. "Nein." Ich fahre über den Stoff meines T-Shirt. Vielleicht besucht Can mich jetzt wieder. Gott, wie verzweifelt und dreist ich bin. "Wir könnten sofort morgen damit beginnen." Perfekt, das ist fabelhaft. Morgen ist ein weiterer Versuch dran. Vielleicht schaffe ich es dann auch, sein Schloss zu öffnen. Vielleicht kriege ich morgen mehr über ihn heraus.
Vielleicht wird ja alles wieder gut.
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