Kapitel 48
Rihanna - Stay
Samstag, 15. März
Ich stehe auf, als mein Wecker klingelt. Can brummt und windet sich. "Ausmachen", murmelt er unzufrieden, was ich dann auch tue. Da ich heute Nachtschicht habe, kann ich ausschlafen. "Can, du darfst jetzt noch trinken. Um 11:30 Uhr ist dein Termin. Bis du duschen gehst, davor und danach etwas trinkst, haben wir schon 10:00 Uhr." Ich habe alles durchgeplant, damit Can auch ja nicht zu spät kommt. "Shana, du hast mich um 03:00 Uhr geweckt, damit ich esse", murrt er, woraufhin er auf sein Handy schaut. "Wir haben 09:30 Uhr." Er schnalzt mit seiner Zunge. "Du stehst doch sonst auch früh auf", murre ich argwöhnisch. "Ich hatte gestern Spätschicht und es war stressig", brummt er. Wie gut, dass ich gestern eine Wasserflasche extra für Can gekühlt habe. Ich hole die Flasche aus dem Kühlschrank und nehme das Glas, welches ich extra für Can auserwählt habe, ehe ich ins warme Zimmer laufe. "Aufstehen, trinken. Wir haben schon 09:32 Uhr, das passt nicht in meine Planung!", zische ich. Can schnalzt genervt mit seiner Zunge und nimmt das befüllte Glas entgegen. Gestern habe ich auch Brote mit Marmelade und Frischkäse gemacht, die Ramazan, Malik und Can brav aufgegessen haben, damit der Chirurg dann die Tumore dort hineingeben kann. "Trink noch ein Glas, du wirst dich wegen der Mundtrockenheit beklagen." Can hört auf mich und trinkt sogar ein drittes Glas. Nachdem ich mir ebenfalls ein Glas Wasser gegönnt habe, kuschele ich mich an seine warme Haut an, was ihn brummen lässt. "Duschen, ich habe dir gestern Sachen rausgelegt." Den Stapel mit frischen Sachen drücke ich in seine Hand und laufe mit ihm ins Bad.
"Hast du auch geplant, dass du mir die Haare wäschst?" Er schmunzelt. "Nein, aber ich bleibe im Bad." Belustigt hebt er seine Augenbrauen und fährt sich langsam über seinen tollen und muskulösen Oberkörper. Gott, dieser Oberkörper ist Gold wert! "Gefällt dir, was du da siehst?" Er zwinkert mir zu. "Das, was ich da sehe nimmt nur Zeit weg. Los, du zerstörst meine tolle Planung!", zische ich und drehe ihn um, damit er seine Boxershort auszieht. Kurz schaue ich auf seinen tollen Hintern und drehe mich dann um, damit Can in die Wanne steigen kann, ohne dass ich seinen... kleinen Freund sehe. "Ich finde es irgendwie komisch, dass du gar keine Hemmungen hast, dich vor mir nackt zu machen", gestehe ich leicht belustigt. "Und ich finde es irgendwie komisch, dass du mir ins Bad folgst und meinen Arsch begaffst. Wir sind also beide komisch." Can grinst mich an und hält sich den Vorhang vor die Hüfte, als er das Wasser anschaltet. "Wow, das Wasser ist so schön warm. Komm doch mit unter das Wasser", versucht Can mich kleinzukriegen. Seine ach so tolle und echt begeisternde Stimme hält mich jedoch davon ab. "Ich passe, die Toilette ist angenehm genug. " Ich muss grinsen. Ich liebe seine verspielte Art so sehr. Sie ist so befreiend. "Warte, wie ging dein Anmachspruch nochmal? Du stinkst, lass uns duschen gehen." Seine raue und tiefe Lache ertönt im Bad, die sich so schön melodisch anhört. Seine Wimpern wirken durch das Wasser noch dichter und länger, was sein Gelb noch kräftiger leuchten lässt. Hach, Can ist wunderschön. "Ich setze mich einfach auf den Boden. Das Festhalten ist mir zu anstrengend." Ich schaue weg.
Can setzt sich auf den Boden, was lustig aussieht. Er sieht aus wie ein Kind, welches mit einem steifen Rücken in der Wanne sitzen muss. Er nimmt sich seinen Duschschwamm und legt ihn auf seinen Schoß. "Für dich habe ich meinen Schwanz extra zwischen die Beine geklemmt. Jetzt sieht es so aus, als ob mir ein blaues Gebüsch zwischen den Beinen wächst. Das turnt dich doch an, nicht wahr?" Ich nicke belustigt. Can sieht irgendwie aus wie eine Elfe. "Kannst du nicht einfach zu mir in die Wanne steigen? Komm schon, wir sind verheiratet, Shana", murrt er am Ende, wie ein kleines Kind mit zusammengezogenen Augenbrauen. Das lässt mich schmunzeln. "Nicht vor der Hochzeitsnacht." Er stöhnt genervt auf. "Ich bin verheiratet und meine Frau will nicht mit mir schlafen. Ich könnte dir die Massage deines Lebens geben, aber du ziehst es nicht einmal in Erwägung, dich darauf einzulassen." Empört schnalzt er mit seiner Zunge und schamponiert seine Haare. "Zeter nicht so viel, Can." Seine Lippen verziehen sich zu einem schiefen Grinsen. "Was?", frage ich. "Zetern? Du und deine Wörter, Shana." Spöttisch sehe ich ihn an. "Je mehr Synonyme, umso besser." Can schamponiert seine Haare weiter, was goldig aussieht. Ich gebe ihm ein Handtuch und verlasse das Bad. Wir haben jetzt 10:00 Uhr. Das ist gut. In eineinhalb Stunden ist sein Termin. "Föhn dir die Haare", rufe ich. Ich ziehe mir meine dunkelblaue Hose und ein beiges T-Shirt von Can an, dessen Ärmel bis zu meinen Ellenbogen gehen, bevor ich sein Lieblingsparfüm auftrage. Als auch Can fertig ist, sitzen wir auf dem Bett. "Um 11:10 Uhr wirst du vorbereitet. Wir haben jetzt 10:18 Uhr. Um 10:40 Uhr gehen wir raus, damit wir um 10:50 Uhr den Bus nehmen können. Wir fahren vier Stationen, insgesamt sechs Minuten. Wir kommen pünktlich an", sage ich.
"Celal fährt uns und dich wieder hier hin." Meine Augen weiten sich leicht überrascht. "Das konntest du nicht sagen, bevor ich die Routenplanung gemacht habe?", murre ich. Entschuldigend lächelt er mich an. "Und du vertraust Celal? Sonst bist so zu eifersüchtig." Er presst kurz seine Lippen aufeinander. "Nun ja, das mag zwar schon stimmen, jedoch weiß Celal wie sehr ich an dir hänge und dass nur ein falsches Wort reicht, um ihn die Nase zu brechen. Er war ja selber dabei, als ich Soufian die Scherbe ins Bein gerammt habe." Unschuldig zuckt er mit seinen Schultern und gibt mir einen Kuss auf meinen leicht geöffneten Mund. "Du sagst mir schön Bescheid, wenn er etwas gesagt hat und Can kümmert sich um den Rest, okay?" Verdutzt spitze ich meine Lippen und nicke langsam. "Braves Mädchen. Wollen wir vielleicht etwas herumfummeln, bevor ich am Kopf operiert werde? Nackt? Ich kann auch ruhig angezogen bleiben und du sitzt nackt auf mir, damit habe ich kein Problem." Ich verdrehe meine Augen und lasse mich auf seinen Schoß ziehen. "Wir machen nur rum", sage ich, was ihn schmunzelnd nicken lässt.
Als wir vor dem Krankenhaus stehen, drücke ich auf dem Marmeladenglas herum. Ich bin nervös. Die OP wird lange dauern. Und dann muss Can noch eine Woche oder vielleicht noch länger im Krankenhaus bleiben. Das einzig Gute ist, dass Can nach einem Tag auf die Neurologie Station verlegt wird, sprich: ich bin dann sozusagen seine Halbneurologin. Da Celal auch dabei ist, geniere ich mich leicht, Can irgendwie zu liebkosen. Deswegen nehme ich heimlich seine Hand und drücke feste zu. "Sherem neka", raunt Can auf Kurdisch. Ich kann nicht, ich muss mich schämen. Ich brumme leise und trete in den Aufzug. Mein Herz schlägt schneller. Ich will mit in den OP, darf aber nicht. "Ich schreibe dir, wenn ich wieder wach bin. Die OP wird mehr als sechs Stunden dauern. Geh nach Hause, okay?" Can streicht mir meine Haare zurück. "Wieso kann ich nicht im Wartezimmer warten?", frage ich. Er hebt leicht überrascht die Augenbrauen. "Du willst sechs Stunden hier warten?" Ich nicke und schaue leicht argwöhnisch. "Das ist doch selbstverständlich. Stell dir vor, der Chirurg hat keine Ahnung, dann komme ich in den OP und rette dich. Ich lege zwar bei dir keine Hand an, aber ich prügele die Scheiße aus dem Chirurgen, bis sein Wissen wieder an Ort und Stelle ist." Can und Celal lachen. Wir kommen auf der Station an, wo mein Herz zu pochen beginnt. "Du bist ja nervöser als ich", stellt Can fest. "Gott beschütze dich mit allem, was es gibt. Es darf nichts schiefgehen. Man weiß bei Tumorresektionen nie. Am Ende hast du noch ein Baby im Hirn wachsen." Can lacht und küsst meine Schläfe. "Wir atmen jetzt tief durch, okay?" Ich nicke und mache Cans Atemübungen nach.
"Es wird nichts schiefgehen und wenn, dann kommst du und rettest mich, okay?" Er hält mich an meinen Oberarmen fest und schaut mir tief in die Augen. Ich glaube, meine Beine geben gleich nach, weil sein Blick so intensiv ist. Ich atme hörbar ein und nicke. "Gut, gib mir das Glas. Sicher, dass du hier warten willst? Du hast nur ein Brot gegessen." Ich nicke. "Ich kann ihr ja etwas holen. Ich kann eine Stunde hierbleiben, muss dann aber mit meiner Mutter zu einem Termin. Ich bringe sie aber rechtzeitig nach Hause." Can nickt. "Herr Jamil, wir wären dann so weit", sagt die OP-Schwester. Ich verspanne mich sofort. Can nimmt mir das Marmeladenglas aus der Hand und küsst mich langsam. Ich erschaudere und genieße jede einzelne Sekunde davon, ehe er sich von mir trennt und mich in seine Arme zieht. "Alles wird gut", flüstert er und streichelt meinen Rücken. Can gibt mir noch einen Stirnkuss, ehe er dann in den Vorbereitungsraum geht. Ich atme tief durch. Wir haben jetzt 11:08 Uhr, zwei Minuten zu früh. Heißt es, dass die OP zwei Minuten schneller endet? Nein, es sei denn, der Chirurg kommt zwei Minuten früher. Ich hoffe, Can wird es nicht langweilig. Vielleicht erfährt er auch mehr über die Neurochirurgie. Wäre ich Can, dann hätte ich den Chirurgen ausgefragt und vollgeplappert. Ich hätte gefragt, ob sich mein Sprachzentrum bewegt, wenn ich rede. Ich setze mich hin und drehe Däumchen.
"Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich Can kennengelernt habe." Langsam drehe ich mich zu Celal, welcher schmunzelt. "Ich hatte schon Angst von ihm, weil er so scheiße riesig ist und man ihm angesehen hat, dass er einen kaputtschlagen kann." Jetzt muss auch ich schmunzeln. "Aber er ist ein echt loyaler und guter Freund. Und ein verdammt schlauer, wenn wir das Medizinstudium weglassen. Er weiß, was gut und was schlecht ist, auch wenn es einmal diesen Vorfall gab. Ich habe schon irgendwie bemerkt, dass etwas nicht mit ihm stimmt. Er hat manchmal plötzlich losgepöbelt und wollte zuschlagen, aber keiner konnte es sich erklären. Und jetzt hat er zwei Tumore, die all das angerichtet haben, wow." Celal fährt sich seufzend über seine Stirn und zieht sich seine khakifarbene Bomberjacke aus. "Du hast ihm ganz schön den Kopf verdreht", schmunzelt er. Ich werde rot, was er sieht und anfängt zu lachen. "Wirklich. Ich kannte dich anfangs nur vom Namen, wenn Ramazan oder Malik Can etwas erzählt haben, aber man hat echt gemerkt, wie fixiert er dann auf die Nachricht wurde. Er ist ein richtiger Stalker." Ich muss lachen und fahre mir geniert über meine warm gewordenen Wangen. Ich sehe vier Personen. Einer davon muss der Chirurg sein, der andere sieht aus wie ein Assistenzarzt und die beiden anderen müssen dann Anästhesist und Psychologe sein. Oh Gott, die OP beginnt also gleich. Ich schaue auf meine Hände und bete stumm für ihn. Als ich auf die schwarze Uhr sehe, ist es schon 11:33 Uhr. Das heißt, dass Cans Operation begonnen hat. "Es wird schon alles gut", flüstere ich und seufze. "Can packt das schon. Er ist so stur, dass die anderen Teile seines Gehirns die Tumore einfach rausprügeln." Ich muss wieder lachen.
Als eine Stunde schon vergangen ist, musste Celal gehen. Ich schaukele vor und zurück und würde alles dafür tun, um zu wissen, was genau dort drin passiert. Gibt es hier irgendwo OP-Kleidung für die Schwestern? Ich könnte mich ja als eine ausgeben, die urplötzlich dabei ist und einfach nicht bemerkt wurde. Aber irgendwie wäre es gruselig, wenn Can wach wäre und ein Chirurg an seinem offenen Gehirn arbeitet. Gruselig, aber auch lustig und faszinierend. Wieso dauert diese Resektion überhaupt so lange? Kann ich nicht von oben zuschauen? Das gibt es doch in Grey's Anatomy. Ich werde hibbelig. Wie soll ich das sechs Stunden aushalten? Ich will aber nicht weg von hier, das wäre irgendwie eine Art Illoyalität, auch wenn Can nichts dagegen hätte, wenn ich nach Hause gehen würde. Ich kann ihn nicht hier alleine lassen. Ich kriege langsam Hunger, will aber nicht weggehen. Was, wenn urplötzlich ein anderer Arzt dazu gerufen wird und ich nichts davon mitbekomme, weil ich meinen verfressenen Arsch zur Cafeteria bewege? Das kann ich nicht riskieren. Ich beschäftige mich am Handy und lese mir ironischerweise den Ablauf einer Hirn-OP durch. Als eine weitere Stunde vergangen ist und ich noch keinen Arzt gesehen habe, entscheide ich mich ganz schnell zur Cafeteria zu flitzen und mir etwas zu essen zu holen. Schnell gehe ich wieder zurück auf meinen Platz und hoffe, dass kein Arzt den Saal betreten hat. Minuten und Minuten vergehen, hoffentlich wird alles gut, denn ich habe ein mulmiges Gefühl im Magen.
'Bist du am Handy?', schreibe ich Can. Kann ja sein, dass er irgendwie am Handy sein darf, obwohl... nein.
'Hat sich erledigt.'
'Aber das wäre lustig.'
'Denkst du, dass, wenn man den Hypothalamus an der richtigen Stelle stimuliert, man eine Erektion kriegen kann?'
'Dann könnte ich dich auf neurologische Art und Weise hart machen.'
'Das könnten wir auch machen, bevor die Hochzeitsnacht ansteht.'
'War grad in der Cafeteria und bin so schnell wie möglich wieder hier hochgekommen.'
'Habe ich dich jemals dile min genannt?'
'Dile min.'
'Guck mal, ich habe dich dile min genannt.'
'Wenn du mir davon stirbst, bringe ich dich um.' Warte mal...
'Ouh, du bist ja schon tot.'
'Egal, ich belebe dich wieder und töte dich dann.'
'Schnucki?'
'Ich habe dich noch nie Schatz genannt, während der Beziehung.'
'Schatz.'
'Okay, das hört sich echt schnulzig an.'
'Sprechende Leiter ist da schon viel schöner.'
'Lässt du dich mal schneller heilen?'
'Stell dir mal vor, du denkst während der OP an mich und kriegst eine Latte.'
Unbeholfen schaue ich mich um. Hätte ich mir mal irgendeine Serie runtergeladen. Leise mache ich Musik an und halte es an mein Ohr, weil ich keine Kopfhörer dabeihabe. Ich tänzele auch leicht, höre aber abrupt auf, als jemand die Station betritt. Es ist Celal, hoffentlich hat er nichts gesehen. Mir wird warm. "Konntest du dich gut alleine beschäftigen?", fragt er lächelnd. Ich schwinge den Kopf leicht hin und her. "Halbwegs, habe Can einige Nachrichten geschrieben und ein bisschen gelesen." Ich senke den Blick auf meine Füße, weil ich mich irgendwie schäme und höre eine Tüte rascheln. "Hier, iss." Meine Augen weiten sich. Er hat mir eine Dönerbox geholt und eine Cola. "Das... ouh, danke, das wäre nicht nötig gewesen", nuschele ich vollkommen errötet. Er schmunzelt. "Doch, das habe ich Can doch versprochen. Ich will nicht am Ende eine Scherbe im Oberschenkel haben, weil ich seine Frau verhungern lassen hab." Er lacht leise und richtet seine goldene Königskette. Dafür, dass er wie ein richtiger Kanake aussieht, wirkt er echt assimiliert. Ich meine, seine Aussprache ist echt toll und ich habe genügend gehört, bei denen ich dachte, dass eine Schlange auf deren Zunge wohnt, weil sie alles mit Sch enden lassen haben. "Studierst du?", frage ich leicht argwöhnisch. Er muss grinsen. "Ja und ich weiß, ich sehe nicht so aus, weil ich wie der größte Kanake aussehe. Hab frisch mein Bioerfahrenstechnikstudium plus Bachelor beendet." Ich muss schmunzeln. "Kenne ich, manche haben mich schockiert angesehen, weil sie nicht erwartet hätten, dass ich Abitur gemacht habe und dann noch mit einen 1,1 Durchschnitt." Ich zucke mit meinen Schultern. "Als ich dich das erste Mal wirklich gesehen habe, da war ich auch echt überrascht, weil... wie soll ich das sagen?" Ich verdrehe belustigt meine Augen. "Ich sehe dümmer aus, ich weiß." "Nein... ich dachte, du siehst... weniger so aus." Er zeigt unbeholfen auf mich. Langsam hebe ich meine Augenbraue an.
"Ich muss aufpassen, wie ich das ausdrücke, sonst rennt Can aus dem OP und schlägt mich, weil ich dir ein Kompliment gemacht habe." Wissend hebe ich meine Augenbrauen an. "Ouh, ach so. Dankeschön", nuschele ich. Mir wird wieder warm. "Erzähl das bloß nicht Can, ich mag meine Oberschenkel eigentlich sowie sie sind." Er kratzt sich an seinem Nacken und wirkt leicht verunsichert. Wow, Can muss echt einschüchternd sein. Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. "Alles gut", beruhige ich Celal belustigt. Ich öffne die Dönerbox und biete es ihm an. "Nein, ich habe schon gegessen." Leicht verlegen drehe ich mich zur Seite und esse. Verflucht sei meine Schüchternheit! Es ist mir gerade total unangenehm, neben ihm zu essen. "Ich glaube, ich sollte etwas länger eine Rauchen gehen", merkt Celal in einem amüsierten Ton an. Jetzt wird mir wieder warm. Ich war so lange nicht mehr schüchtern, wow. Er läuft schmunzelnd an mir vorbei, weswegen ich ihm sehr dankbar bin, denn jetzt kann ich entspannt essen. Celal scheint echt nett zu sein. Heute war es das erste Mal, dass ich ihn - die wenige Male, die ich ihn gesehen habe - in mehr oder weniger formelleren Sachen gesehen habe. Das letzte Mal war er soweit ich weiß in einem Jogginganzug, heute in Bomberjacke, zerrissenen schwarzen Jeans und einem weißen T-Shirt und mit einer schwarzen Nike Kappe - und goldener Königskette. Fast wie Can, nur hasst Can Gold und soweit ich weiß hat er ein Königsarmband und keine Kette davon und Can hasst auch zerrissene Hosen und eine Bomberjacke besitzt Can auch nicht, genauso wenig wie Kappen - okay, doch nicht wie Can. Wie es wohl Can geht? Es dauert noch so lange - noch drei weitere Stunden. Ist ein Tumor schon im Glas? Haben sie Formalin in das Glas gegeben? Es vergehen weitere Stunden, in denen Celal und ich uns Stück für Stück unterhalten. Wäre er nicht so offen, hätte ich ihn nicht einmal angeschaut. Ich habe auch mit meiner Mutter telefoniert. "Noch vierzig Minuten, dann haben wir es geschafft." Gerade als dieser Satz Celals Mund verlassen hat, tritt eine Schwester aus dem Saal. "Was ist passiert?", schießt es sofort aus mir. Sie wollte eigentlich loslaufen, bleibt aber stehen. Das heißt nichts Gutes. Mir wird heiß und kalt. Ich will es eigentlich gar nicht hören, weil ich schon weiß, was da gerade passiert ist. Es pocht in mir. Mein Herz rattert.
"Es sind Komplikationen aufgetreten. Der semimaligne Tumor ist in dieser Woche rasch auf die doppelte Größe gewachsen und mehr in die Amygdala und auch in den Hippocampus gedrungen."
Mir rutscht das Herz in die Hose. Nein, nein, nein. Sie läuft davon und lässt mich mit dieser Information hier. Der Tumor ist rapide gewachsen. Meine Hände verkrampfen sich, ich verharre in meiner Position, ohne zu blinzeln - ich bemerke nicht einmal, dass ich irgendwie noch atme. Kann ich jetzt überhaupt noch atmen? Mir steigen die Tränen auf. "Was ist passiert?", fragt Celal. Meine Unterlippe bebt. "Sein Tumor hat sich weiter ausgebreitet", flüstere ich brüchig. Ich wische mir schnell über die Augen. Das darf nicht wahr sein. Wieso greift der Tumor ausgerechnet dort an, wo das Gedächtnis gebildet wird und wo die emotionale Handlung stattfindet? Das kann doch nur die Ironie des Schicksals sein. "Bitte lass alles gut werden, Allah, ich flehe dich an", flüstere ich. Ich kann meine Tränen nicht zurückhalten. Wieso muss das jetzt urplötzlich passieren? Die Schwester von gerade eben, Dr. Merzinger und ein weiterer Arzt laufen in den Saal. Kurz schaut Dr. Merzinger zu mir und tritt seufzend ein. "Scheiße", seufzt Celal. Ich weine stumm neben ihm und verdecke mein Gesicht mit meinen Händen. Ich versuche krampfartig nicht zu schluchzen. "Bitte lass alles gut werden", flüstere ich kaum vernehmbar und wische mir die Tränen weg, ehe ich aufstehe und hin und her laufe. "Okay, vielleicht ist der Tumor nicht zu tief in die beiden Stellen eingedrungen und kann dank der Strahlentherapie abgetötet werden. Ich-, vielleicht gibt es eine andere Art, den Tumor zu entfernen." Ich atme tief durch und halte mir den Kopf. Aus den sechs Stunden werden acht Stunden. Acht Stunden Wachkraniotomie. Can wird gerade von den Schwestern aus dem Saal gefahren. Seine Augen sind zu, sein Kopf wird von einem Verband bedeckt. Mir steigen wieder die Tränen auf. Dr. Merzinger und der Chirurg kommen zu mir und Celal. Sofort stehen wir auf. "Der gutartige Tumor konnte ganz entfernt werden. Beim semimalignen Tumor war ein überraschendes Wachstum vorhanden, der schwierig zu behandeln war. Um die 95 Prozent konnten entfernt werden, in den Hippocampus ist er zum Glück doch nicht eingedrungen, jedoch in die Amygdala, wo die restlichen fünf Prozent sind. Der benigne Tumor hat stark auf den primären Motorcortex gedrückt, der Tremor könnte gut möglich ganz oder fast verschwunden sein. Das Riskante bei der OP war, dass Herr Jamil komplett alexithymisch werden konnte, wenn nicht genau gearbeitet wurde und wenn wir die restlichen fünf Prozent entfernt hätten." Mir fallen tausend Kilo von den Schultern. Es ist alles gut. "Das... das ist gut. Die Strahlentherapie macht den Rest. Danke Doktor." Ich nicke kräftig und wische mir über die Augen. Der Chirurg verabschiedet sich von uns, Dr. Merzinger bleibt aber noch.
"Wenn Sie mögen, kann ich sie heute freistellen. Den Schein kriegen Sie und Can trotzdem." Ich schüttele den Kopf. "Ich will so nah wie möglich bei ihm bleiben. Wann darf ich ihn besuchen?", frage ich. "Can ist noch sehr erschöpft. Am besten morgen." Ich nicke. Ich werde trotzdem heute auf der Intensivstation nachschauen, wenn es geht. Eine andere Schwester kommt mit dem Marmeladenglas, wo sich die Tumore drinnen befinden. Ich schaue mir den benignen Tumor an und dann den großen, beschissenen Tumor, den ich am liebsten verbrennen will. "Du dämlicher Tumor", fauche ich. Ich will den Tumor heftiger Beleidigen, als mir dann einfällt, dass hier noch Dr. Merzinger und Celal sind. Den Tumor als verfickten Bastard zu betiteln wäre mir etwas peinlich vor dem Doktor. Ich räuspere mich. "Haben Sie entschieden, dass die restlichen fünf Prozent drinnen bleiben?", frage ich, was er bestätigt. "Danke Dr. Merzinger. Gott, ich bin so erleichtert." Er lächelt. "Ich verabschiede mich dann mal. Wir sehen uns." Er läuft den Gang runter. Ich und Celal atmen tief durch. Wir haben 19:48 Uhr. In gut einer Stunde beginnt meine Nachtschicht. "Soll ich dich dann jetzt nach Hause bringen?" Ich verneine es. "In einer Stunde habe ich Dienst, aber danke." Wir laufen gemeinsam raus, schnappen frische Luft, ehe wir uns verabschieden, woraufhin ich in die Cafeteria gehe. Ich lege den Kopf in meine verschränkten Arme, als ich meinen Wecker gestellt habe. Heute war ein ereignisreicher Tag, obwohl ich fast nur am Sitzen war.
Auf der Station spüre ich bemitleidende Blicke, gehe aber nicht auf sie ein, beziehungsweise schaue nicht einmal in die Augen der Mitarbeiter. Es hat eine Runde gemacht - ich hoffe, dass sie auch wenigstens ein kleines Gebet gen Himmel stoßen. Es ist nichts los auf der Station - nicht mehr. Wir haben schon 02:57 Uhr. Es kamen einige Betrunkene Idioten, die auf den Kopf gefallen sind - üblich an einem Samstag auf den Sonntag. Wir sitzen in der Küche. Ich höre nur halbwegs zu, weil ich an Can denken muss. Ist er schon wach? Hat er Durst oder sehr starken Hunger? "Shana, wenn du willst, kannst du kurz nach ihm sehen. Es ist jetzt sowieso keiner da und die Anamnese kann ich schreiben oder so." Sarah lächelt mich mit ihren grünen Augen an. "Kann ich da einfach so in ein Zimmer? Es ist Nachtruhe." Ich will so gerne zu ihm. "Einen Moment", sagt sie und geht wahrscheinlich auf der Station anrufen, ehe sie zurückkommt. "Er liegt alleine in einem Zimmer und die Schwestern dort wissen Bescheid. Los, geh aufs Zimmer 3A." Sie lächelt und auch ich muss lächeln. "Danke." Ich stehe auf und komme in wenigen Minuten auf der Intensivstation an. Leise öffne ich die Tür und versuche nirgends gegen zu kommen. Ich komme an seinem Bett an und fahre vorsichtig über seinen Kopf, als ich meine Hand auf seine Wange lege. Auch wenn er fast geheilt ist, muss ich anfangen zu weinen. Meine andere Hand lege ich auf seine Brust. Er scheint nichts zu spüren, er muss sehr erschöpft sein. Sein Herz schlägt im steten, normalen Rhythmus, was mich beruhigt. Vorsichtig lehne ich mich nach vorne und umarme ihn. Meine Tränen rinnen mir über die Wangen. Er bewegt sich leicht. Ich spüre, wie er seine Arme um mich legt, was mich wimmern lässt.
Ich will doch nur Frieden, ist das so viel verlangt?
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