Kapitel 4
Ariana Grande - Quit
Der nächste Tag beginnt schweigend, wie sonst auch. Ich esse eine Kleinigkeit, mache mich fertig und nehme die U-Bahn, da meine erste Vorlesung heute um 09:15 beginnt. Can hat jetzt Pathologie. Ich lag gestern zwei Stunden im Bett und habe an das Szenario gedacht. Das Szenario, wo Can eins meiner T-Shirts geklaut hat, nachdem er es parfümiert hat. Das Szenario, wo Can seinen verzweifelten Hilfeschrei nach mir geworfen hat, weil er nicht schlafen kann. Ich hoffe, er verliert das T-Shirt, damit er wieder zu mir kommt. Das Gestrige erschien mir so überaus paradox. Wäre er gekommen, wenn er nüchtern wäre? Wenn nicht, wieso? Wäre er irgendwie lethargisch? Hätte er dann weniger Mut? Fragend schaue ich aus dem Fenster, in der Hoffnung, die Antwort zu finden. Ich will nicht an die vergangenen Tage denken, sonst muss ich wieder weinen. Hat Can auch geweint? Ich hoffe es, so egoistisch es auch klingt. Ich hoffe, dass auch er am Boden zerstört ist, wegen des Verlusts. Ich hoffe, er empfindet auch so viel Schmerz wie ich, damit ich immer noch irgendwie eine Art Verbindung mit ihm habe. Aber ich bezweifle, dass Can mit dem Broken-Heart-Syndrom ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Ein weiteres Mal muss ich feststellen, wie faszinierend die Liebe ist. Ohne Can wüsste ich jetzt nicht, wie sich ein Herzinfarkt anfühlt, auch wenn es keiner war. Ich habe Can so tief und so fest in mein Herz geschlossen, dass mein Herz eine kurze Zeit nicht mitmachen konnte, und das war das schrecklichste Gefühl der Welt. Ich bin doch so jung und voller leben, wie kann ich von so etwas befallen werden? Die schwarze Rose liegt immer noch auf meinem Nachttisch und keiner wagt es, sie anzufassen. Das ist Cans letzte Rose gewesen. Seitdem kriege ich keine Rosen mehr, kein warmes Lächeln sehe ich. Ich höre keine melodische Lache mehr, und das Leuchten seiner Augen werde ich wohl nie wiedersehen. Seine Augen haben sich verdunkelt. Derya meinte einmal, dass seine Augenfarbe sich aufhellt, wenn er glücklich wird und bei mir war es permanent so. War. Es war permanent so, bis Aykan kam und mich geküsst hat. Ich hasse Aykan. Ich hasse ihn, weil er mein Leben zerstört hat. Wieso konnte er es nicht einfach akzeptieren, dass ich Can liebe? Davor hat er es auch akzeptiert, denn wie Toleranz kam es mir nicht vor. Na ja, bis er sich merkwürdig verhalten hat. Okay, er hat es von Anfang an nicht akzeptiert. Wieso musste er mich küssen? Seufzend schüttele ich kaum vernehmbar den Kopf und steige mit einigen Studenten aus. Seit einigen Tagen höre ich 1970 Somethin' von The Notorious B.I.G in dauerschleife, weil Can und ich das Lied immer gehört haben, als wir auf dem Bett lagen und uns entspannt haben. Damals bin ich ihm durch sein dichtes Haar gefahren und vermisse das Gefühl zwischen meinen Fingern.
Ennuyant schaue ich auf den Boden und durch die Gegend, als ich den blonden, schmierigen Typen sehe, der von Can vermöbelt wurde, weil er mit mir ficken wollte. Das wollte Can auch. Zum Glück habe ich es nicht zugelassen. Hätte er mich dann verspottet? Wie jedes andere dahergelaufene Weib gesehen? Hätte er es weitererzählt und herumposaunt, dass er mir meine Jungfräulichkeit genommen hat? Er hat mir meinen ersten Kuss genommen, er ist meine erste und große Liebe und ist gegangen. Wir sind wegen seiner Ignoranz und seiner Schutzmauer auseinandergegangen und nicht wegen mir. Es ist seine riesige Mauer, die sich vervielfacht hat, weil diese Mauer seine Gefühle ruckartig eingefangen hat. Wie schnell das doch geht. Das hätte ich Can niemals zugetraut. Ich dachte, er liebt mich so stark, dass uns so ein Fehler, so ein Schicksalsschlag nicht auseinanderbringen kann. Er hat mir doch geschworen, dass er mich auffangen wird. Er hat doch bei Gott geschworen, dass er mich niemals loslassen wird. Wieso hält er seinen Schwur nicht? War es einfach nur ein Satz, der mich euphorisieren sollte oder der unsere Beziehung schöner machen sollte? Ich weiß es nicht und Can wird es mir auch nicht sagen. Wird er jemals mit mir reden? Und das im nüchternen Zustand? Kann er jetzt beruhigt schlafen, da er ein T-Shirt von mir in Besitz genommen hat? Er ist mir so nah, doch auch so weit fern. Müde schleife ich mich durch die Gänge und versuche denn richtigen Saal zu finden. Jetzt mag ich die Vorlesungen. Zwar mochte ich sie davor schon, aber jetzt helfen sie mir, dass der Tag sich schnell dem Ende neigt. Ich sehe einige Kommilitonen und laufe ihnen nach. Das Lied spiele ich von neu ab und lehne mich an die Wand. Wo wohl Can ist? Er wird sich wieder weg von mir setzen. Wenn ich auf ihn zulaufe, dann ignoriert er mich. Ich will ihn deswegen am liebsten schlagen, aber was wird meine Schläge schon bringen, wenn er uns mit seiner Ignoranz vernichtet hat? Was soll ich machen? Außer zu beten kann ich zurzeit nichts. Mit versteckter Frustration fahre ich mir über mein Gesicht und laufe dann in den Saal, wo ich mich auf Cans Platz niederlasse. Das Mädchen, welches ich nicht anschaue, setzt sich zu mir, wie sonst auch immer seit der Trennung. Ich weiß nicht, wer sie ist, aber ich schätze es sehr, dass sie sich zwischen mich und Aykan setzt, auch wenn sie bestimmt nicht einmal weiß, dass sie mir hilft. Sie hat sich bestimmt hier hingesetzt, weil sie in der ersten Reihe sitzen wollte. Ich schaue hoch und schaue abwartend auf den Eingang. Als Can den Saal betritt, schlägt mein Herz schneller, wobei es sich auch zusammenzieht. In mir macht sich ein elektrisierender Druck im Brustkorbbereich und in den Innenseiten meiner Oberarme breit. Kurz betrachte ich seine Schönheit, die trotz seiner müden Augen und seiner kalten Mimik wunderbar auf alle strahlt, bevor ich den Blick senke. Ich verletze mich nur noch mehr, wenn ich die ganze Zeit an ihn denke. Tief atme ich durch und konzentriere mich auf die Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin und bin stolz, dass ich während der Vorlesung nicht an Can denken muss.
Nach einer Stunde und fünfundvierzig Minuten werde ich entlassen und laufe durch die Gänge, bis ich in die Mensa gelange. Zum Glück sind hier wenige. Saliha hat keine Pause und Malik auch nicht. Gedankenverloren spiele ich mit meinen Fingernägeln herum, bis sich jemand vor mich setzt. Ich schaue ich und verspanne mich, als ich Aykans Gesicht sehe, welches immer noch verwundet ist. Meine Atmung beschleunigt sich sofort und meine Augen leuchten feindselig auf. "Was willst du?", blaffe ich. Beschämt senkt er seinen Blick. Er sollte sich wirklich schämen. In Grund und Boden. "Shana-," "Geh", gebe ich kalt von mir. Ich will nicht vor ihm in Tränen ausbrechen. "Es tut mir leid", seufzt er. "Es tut dir leid?" Mein Blick wird finster. Sein scheiß Ernst? "Es tut dir leid?", gebe ich lauter von mir. Mir egal, ob uns irgendwelche Idioten beobachten. "Weißt du, was du angerichtet hast, Aykan?", flüstere ich zischend. "Du kannst das nicht mit einer einfachen Entschuldigung wieder gut machen, Aykan. Du hast meine Beziehung zerstört, verstehst du das nicht?" Seine Augen weiten sich. So viel Unschuld und Reue auch in ihnen liegt, ich kann mich nicht zügeln. "Das... das wollte ich nicht." "Du hast es aber gemacht. Wieso hast du mich geküsst?", flüstere ich am Ende etwas heiser. Mich wollen die Tränen wieder einholen, doch ich verdränge sie. Murmelnd senkt er seinen Blick und fährt sich durch sein Haar. "Ich... ich liebe dich." Wie sehr ich mir doch wünsche, dass diese Wörter von Can kommen. Mir wird ganz komisch bei diesen Worten. Ich fühle mich nicht wohl dabei. In meiner Brust macht sich ein komisches Gefühl breit. "Was habe ich dir denn vor wenigen Tagen gesagt?", herrsche ich ihn leicht an. Ich kann ihn gerade nicht total runtermachen, weil mich etwas blockiert. Ich bin immer noch verwundet. Ich weiß jetzt, wie sich der Schmerz anfühlt, den auch Aykan empfindet. Wieso bin ich auf einmal so empathisch? Wo ist mein Narzissmus, wenn ich ihn brauche?! "Dass du Can liebst und mich nicht lieben kannst", murmelt er, woraufhin ich zynisch nicke. "Was war daran nicht zu verstehen?" Aykan zuckt mit seinen Schultern. "Ich wollte es nur einmal ausprobieren." "Sehe ich aus, wie ein gottverdammtes Versuchskaninchen?!", rufe ich und spüre einige Blicke auf uns. "Guckt woanders hin, ihr Hobbylosen!", zische ich zu den anderen und schaue wieder zu Aykan. "Ich wollte die Trennung wirklich nicht", beteuert er leise. "Dann hättest du mich nicht geküsst, Aykan!" Ich stehe aufgebracht auf und laufe aus dem Saal. Ich weiß nicht wohin, aber ich laufe einfach durch die Gänge, bis mir eine schöne Melodie in die Ohren gerät. Das Lied kenne ich. Das Lied hat Can einmal gespielt, als ich mit ihm bei seinem Vater gegessen habe. River flows in you, so heißt das Lied. Es ist wunderschön. Ich folge der Melodie und bleibe vor dem Musikraum stehen, dessen Tür einen Spalt weit geöffnet ist. Can sitzt dort und spielt. Baut er damit Frust ab? Sonst tut er es nur mit Training. Am liebsten würde ich durch diese Tür gehen und mich zu ihm setzen, meinen Kopf gegen seine breite Schulter legen und seinen Fingern beim Spielen zusehen. Aber er würde aufhören und weggehen. Er würde flüchten, damit er mich nicht sieht und damit in seinem Inneren keine Angst, keine Sehnsucht und vieles mehr herrscht. Er erinnert mich jetzt an ein Reh und nicht mehr an einen Löwen. Er sieht mich jetzt vielleicht als eine monströse Löwin, die ihn töten will - metaphorisch und psychisch gesehen. Wie majestätisch er doch aussieht, wenn er spielt. Ich schaue mich kurz auf dem Gang um und sehe, dass ich nur noch vier Minuten habe und deswegen langsam zurückgehe, da gleich die Vorlesung der Virologie, Mikrobiologie und Hygiene beginnt.
"Wie geht es dir?", fragt Saliha, als ich im Auto sitze. "Ich weiß es nicht." Leicht traurig lächelt sie und fährt los. Saliha hat Glück. Sie hat kein zerstörender Schicksalsschlag getroffen. Sie und Malik heiraten bald. Das wollten Can und ich auch. Ich hatte Gedanken, dass es doch besser wäre, wenn wir früher heiraten und dann wurden wir auseinandergerissen. Hätte ich auf Cans Mutter gehört, als sie meinte, dass die Heirat ein kleiner Schutz wäre, da wir uns dann nicht so einfach trennen könnten. Hätte ich bloß auf sie gehört, statt mich meiner Bindungsangst angeschlossen zu haben. Verurteilen tue ich mich deswegen keines Wegs. Ich hatte ebenfalls Angst wegen Cans Aggressionen, was sollte ich denn machen? Ich konnte ja nicht erahnen, dass das Schicksal uns so schlechte Karten hinlegt. Wir kommen an und laufend schweigend hoch, wo mir Cihan und Elif begegnen, Hand in Hand, glücklich. Beide Lächeln mich an, was mich mit aufsteigenden Tränen erwidere. Cihan bemerkt mein Verhalten. Natürlich, er hat mit mir die Kindheit verbracht. Er weiß, wie ich mich verhalte. "Viel Spaß noch", flüstere ich und höre nur noch Elifs Danke, als ich schnell in die Wohnung laufe und mich aufs Bett schmeiße. Ich habe mir einmal Schutzmauern aufgebaut, die fünf Jahre gebraucht haben, um zerstört zu werden. Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, dass ich kämpfen muss, dass ich gegen das Schicksal kämpfe, sowie Can es getan hat. Vielleicht will mir das Schicksal damit sagen, dass ich nun zeigen soll, wie viel Wille in mir steckt, um unsere Beziehung zu retten. Ich muss diesmal diejenige sein, die kämpft. Ich bin diesmal der Löwe, während Can das verschreckte Reh ist. Ich muss alles in unsere Beziehung investieren, damit sie aufrecht erhalten bleibt. Ich muss etwas aufgeben, sowie Can die Eliteuniversität aufgegeben hat. Aber was soll ich denn aufgeben? Was habe ich denn, was ich abgeben könnte, damit Can mich wieder akzeptiert und Willkommen heißt? Was muss ich machen, damit ich wieder in seinen großen, starken und warmen Armen liegen kann und ihn vor seinen Ängsten beschützen kann? Was soll ich zerstören und was soll ich erbauen, damit Can mir wieder seine Liebe gibt? Can hat den verzweifelten Antrag an meinem Geburtstag abgelehnt. Ich wollte unbedingt, dass wir zusammenbleiben, aber durch ihn ging das nicht. Ich muss Malik und Ramazan konsultieren. Wenn beide am Samstag Zeit haben, dann will ich mit ihnen reden. Ich muss genau wissen, wie ich vorzugehen habe, ohne Can zu verschrecken. Das wird schwieriger als eine komplizierte Operation, es wird anstrengender als eine Anatomie Klausur. Es wird wie ein Hammerexamen sein, nur voller Gefühle, Versuche, bei denen ich scheitern darf und Zeit habe. Ich bin nicht bereit, Can aufzugeben. Ich lasse nicht zu, dass unser Uns zerstört wird. Ich muss kämpfen.
Für dich lege ich meinen Stolz ab, Can.
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Auf Spotify findet ihr die Playlist: Can und Shana auf meinem Profil: Helan
- Helo
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