Kapitel 105
Dean Lewis - Waves (Acoustic)
Mit schmerzender Seele schluchzte ich, warte ungeduldig, dass Shevin kommt und ich nicht mehr alleine bin. Was soll ich jetzt machen? Was muss ich jetzt machen? Ich bin gefangen in diesem Unglück und kann nicht mehr heraus. Es tut so verdammt weh, es brennt so verdammt stark. Meine Körper fühlt sich wie gelähmt an. Ich kann nur schwer meine Arme bewegen. Was passiert jetzt mit Can? Was machen sie jetzt mit meinem Mann? Ich zittere, weil ich Angst habe, dass er einen Anfall erleidet. Was passiert, wenn sein Kopf wieder so stark schmerzt? Wer soll ihn beschützen? Ich muss mit ihm doch in die Badewanne und meine Wassertherapie mit ihm machen. Was ist, wenn Can wieder von Albträumen geplagt wird? Wer wird meine Liebe vor seinen Lasten schützen? Ich schlucke diesen großen Klos runter, der meiner Luftröhre Platz nimmt und sie schmerzen lässt. Meine Augen verlieren immer mehr Tränen, ich verliere immer mehr Kraft. Wie oft denn noch? Wieso musste das passieren? Wieso hat Can das gemacht? Ich will nicht mehr und ich kann nicht mehr. Ich habe keine Kraft mehr. Zitternd atme ich durch und versuche mich zu beruhigen. Ich habe keine Kraft mehr. Meine Brust tut so verdammt weh, dass mein Unterbewusstsein mir befiehlt, zum Arzt zu gehen. Ich will nicht gehen und ich kann nicht gehen. Ich hatte doch oft genug Herzschmerzen wegen Can. Schmerzverzerrt halte ich mir meine Brust. Es tut wirklich weh. Ich atme tief durch und muss mich beruhigen. Ich muss auf Shevin warten, ohne sie weiß ich sonst gar nicht was ich tun soll. Wo genau ist Can jetzt? Was tut man jetzt mit ihm? Steckt man ihn sofort in eine Zelle? Er hat doch nicht einmal Wechselkleidung.
Langsam stehe ich auf, versuche nicht gekrümmt zu gehen, sondern meine Beine - wie sonst auch - gestreckt zu halten, doch die Lasten sind zu schwer. Ich schenke mir schniefend Wasser in das Glas ein, aus dem Can getrunken hat, aus dem ein Mörder getrunken hat, aus dem mein Seelenverwandter getrunken hat. Die Presse wird sicherlich Wind davon bekommen. Urplötzlich will ich alle Journalisten verbrennen, damit sie Can in Ruhe lassen. Das wird Cans Karriere doch zerstören. Das wird doch Cans Psyche belasten. Nein, das darf nicht passieren! Seine Onkel müssen Schweigegeld geben. Can muss doch Arzt werden. Und das Hammerexamen? Can muss die Prüfung doch bestehen! Wieso musste es jetzt passieren? Es klingelt, ich schleife mich zur Tür und warte sehnlichst darauf, Shevin zu sehen. Ich höre, wie sie schnell die Treppen hochsteigt und mich erschrocken ansieht. "Oh Gott, Shana." Sie nimmt mich in den Arm, was mich wieder so sentimental macht. Meine Brust bebt wieder und ich muss meine Beine zwingen, nicht nachzugeben. Sie schließt die Tür und fährt mir beruhigend über meinen Kopf. "Shana, wir kriegen das wieder hin." Ich weine stärker und schüttele den Kopf. "Sie haben ihn, Shevin. Was soll da noch gerettet werden?", wimmere ich. "Beruhige dich erst einmal, Shana. Wir gehen das Stück für Stück an." Ich höre auf Shevin, da mich ihr juristisches Wissen wirklich beruhigen könnte. Langsam lasse ich mich leiten und bringe uns ins Schlafzimmer, weil ich mich auf Cans Betthälfte legen will. Die Schranktür war doch vorhin noch ganz verschlossen. Ich schließe fest meine Augen, weil ich nicht daran denken will. Ich lege meinen Kopf auf das Kissen und atme Cans Duft ein.
Shevin fährt sich seufzend über ihr Gesicht. Ihr Bleistiftrock und ihre weiße Bluse sagen mir, dass sie ihre Arbeit stehengelassen hat. Na ja, das hier ist ein neuer Fall. Sie scheint aber ebenfalls überfordert zu sein. Verständlich, es geht um ihren kleinen Bruder. Ich drücke die Decke fest an mich. "Er wird erst einmal in U-Haft kommen, bis es dann zum ersten Gerichtsverfahren kommt. Innerhalb dieser vierundzwanzig Stunden wird er dem Richter vorgeführt." Wie wird Can sich verhalten? Was wird er sagen? Wie lange bleibt er dort? "Wie können wir ihm helfen?", flüstere ich. "Can", seufzt sie. "Er hat seinen Tumor wieder. Er will es auf den Tumor schieben", murmele ich. Shevin schaut mich aufmerksam an, während sie versucht ruhig zu bleiben. "Damit wäre er schuldunfähig, das heißt, es würde nicht zur Einbuchtung kommen", gibt sie etwas positiver von sich. Das heißt, das ist etwas Gutes. "Weißt du, ob es ein gutartiger oder bösartiger Tumor ist?" "Ich will es gar nicht wissen", gebe ich abwertend von mir. Can, was hast du da bloß angerichtet? "Ein medizinisches Gutachten wird auf jeden Fall angefordert. Das Problem ist, dass wir nicht wissen, ob der Tumor auch wirklich auf Cans Handeln Einfluss nimmt." Ich setze mich auf, atme tief durch und hole die professionelle Medizinerin aus mir heraus. "Ob gutartig oder bösartig, wenn er auf ein gewisses Areal drückt, kann es zur Beeinflussung des Bereiches kommen. Can leidet an einem Tumorrezidiv, also ist es höchstwahrscheinlich ein bösartiger." Mein Inneres fällt ein weiters Stück zusammen, als ich das registriere, was ich gesagt habe. Semi-maligner Tumor. Shevin nickt. "Also ist der Tumor wieder da, wo er davor war?" Ich nicke. "Und wo genau hat er draufgedrückt? Hat Can einen Befund?" "Ja, den Neusten, aber ich weiß nicht wo er ist." Sie summt. Shevin setzt sich zu mir aufs Bett und fährt mir über mein Bein. "Shana, was genau weißt du über seinen Tumor?" Sie schaut mich vorsichtig an und stellt diese Frage auch sehr vorsichtig.
"Er hat auf die Amygdala und den Hypothalamus gedrückt, weswegen es zu Ausrastern kam. Can konnte seine Emotionen nicht kontrollieren und wusste oft nicht, was er da getan hat. Oftmals hat er es sogar vergessen." "Und diese zwei Hirnarealen beeinflussen die Emotionalität?" Ich nicke. "Der Hypothalamus dient unter anderem zur Steuerung von Hormonen." Shevin nickt wieder. "Ich bräuchte Blätter und einen Stift." Langsam stehe ich auf. "Sag mir einfach wo sie sind." "Im Zimmer nebenan. Da müsste ein Block auf dem Tisch liegen", flüstere ich. Mein Kopf tut weh. Shevin kommt wieder und schreibt sich alles auf. "Wann kann ich ihn sehen?" Ich will ihn in den Arm nehmen. "Du musst einen Besucherschein beantragen. Das machen wir gemeinsam. Aber du könntest ihn dann erst nach mindestens zwei oder drei Tagen sehen." Zwei bis drei Tage ohne meinen Can? Ich muss das durchstehen - schließlich habe ich keine andere Wahl. Ich muss mich mit Shevin zusammentun und alles daransetzen, dass Cans Strafe so gering wie möglich ausfällt, auch, wenn er das eigentlich gar nicht verdient hat. Ich muss meinem Mann helfen. Ich muss ihn da rauskriegen. "Wann sollen wir es euren Eltern sagen?" Shevin seufzt. "Ich weiß es nicht." "Jetzt vielleicht? Ich könnte mentale und emotionale Hilfe gebrauchen." Shevin nickt und ruft an. Ich könnte es nicht. Ich würde sicherlich wieder weinen. Shevin geht dafür ins Wohnzimmer. Soll ich meine Eltern anrufen? Was soll ich denn bitte sagen? Mir fehlen die Worte, obwohl ich weiß, was vor meinen Augen gebrannt hat. Wie wird unsere Zukunft aussehen? Can möchte doch Arzt werden, Can möchte doch Chefarzt werden. Seine Onkel müssen sich darum kümmern. Mein Handy klingelt, es ist Mama.
"Ja?", flüstere ich.
"Shana, was... warum?" Mir steigen wieder die Tränen auf. Ich kann nicht antworten; ich kann nur schluchzten und Schmerzen verspüren.
"Was soll ich bloß machen?", wimmere ich heiser.
"Wie geht es dir?", haucht sie.
"Ich will ihn zurück, Mama. Mir geht es nicht gut." Ich höre sie wimmern.
"Shana, wir fahren gleich los. Erzähl mir dann bitte alles." Ich nicke und lege dann auf. Länger hätte ich das Gespräch nicht halten können.
"Shevin?", frage ich brüchig. Sie kommt mit besorgten Augen zu mir. "Deine Onkel sollen uns helfen." Sie nickt. "Ich habe schon Bescheid gegeben, es wird alles wieder gut." Ich schüttele trotz Hoffnungen den Kopf. "Was ist, wenn ich ihn nie wiedersehe?" "Shana, denk bitte nicht negativ. Can ist mit hoher Wahrscheinlichkeit schuldunfähig und das wird ihm und auch dir so einiges erleichtern. Wir kriegen das hin. Gibt es jemanden, der sich gut mit Cans Psyche auskennt?" Dr. Al-Kon! Ich werde sofort wach. "Ja! Ja, sein Psychologe! Dr. Al-Kon! Setz dich bitte mit ihm in Verbindung", flehe ich schon fast. Shevin nickt und schreibt es sich wieder auf. Wann soll ich es Ramazan und Malik erzählen? Soll ich es auch den Mädchen erzählen? Ich weiß es nicht. Ich weiß gerade gar nichts. Ich will ihn einfach nur sehen und umarmen. Ich will ihn einfach nur sehen und ihn mit nach Hause nehmen. Ich will Can einfach nur sehen und ihn nie wieder loslassen. "Macht es dir etwas aus, wenn ich mich kurz im Internet kurz schlaumache? Ich muss ein Gesetz nachschlagen." Ich schüttele den Kopf und schließe meine Augen. Ich will so schnell wie möglich meine Familie hier haben. Ich brauche die Augen, die ich so sehr liebe und abgesehen von Can hat nur seine Mutter diese Augen. Langsam werde ich müde, mein Körper erschlafft. Meine Muskeln sind verspannt, obwohl ich sie nicht wirklich beansprucht habe. Es vergehen Stunden, als unsere Familien eintreffen. Ich nehme meine und Cans Mutter gleichzeitig in den Arm und versuche mein Bestes, um stark zu bleiben. Allen steht die Fassungslosigkeit und Trauer ins Gesicht geschrieben. Unsere Eltern wirken plötzlich viel älter und müde. Wie ich dann wohl aussehe?
Alle laufen stumm ins Wohnzimmer. Seine Geschwister sind hier, meine auch. Ich hole Wasser für alle und setze mich dann zwischen meiner und Cans Mutter hin, fühle mich auf jeden Fall geborgener. "Was ist passiert?", fragt Cans Vater, der sehr angeschlagen wirkt. Ich muss alles erzählen. Da gibt es nichts zu verheimlichen. Ich atme tief durch, ehe ich anfange. "Es wurde einmal bei mir eingebrochen, als wir noch nicht verheiratet waren und Can wusste, wer es war. Daraufhin ist er ausgerastet und hat dafür gesorgt, dass die Person ins Gefängnis gehen muss. Alles war danach gut. Es war alles okay, bis es dann zu meinem Autounfall kam." Meine Mutter drückt fest meine Hand. "Man hat herausgefunden, dass es ein geplanter Unfall war und es war wieder die Person, die eingebrochen ist. Als Can das herausgefunden hat... hat er versucht, ihn zu ermorden." Erschrocken wird die Luft eingezogen. Ich schaue resigniert auf den Tisch. Ist Soufian jetzt tot oder nicht? Werden meine Eltern jetzt schlecht von ihm denken? Ich weiß auf jeden Fall, dass meine Brüder es nicht tun werden. Sie würden es sogar akzeptieren und respektieren. Ich schüttele den Kopf. "Omar und Hikmet fliegen die nächsten Stunden hier ein", seufzt der Vater. Das sind dann wohl seine Onkel. Ich hoffe so sehr, dass sie uns helfen können. Mein Vater schaut nachdenklich auf den Tisch, während er die Perlen seiner Gebetskette durchgeht. Die Stille ist bedrückend. Was sollen wir jetzt machen? Ich bin verloren, solange Can nicht wieder bei mir ist. "Samira und ich bleiben für die Tage hier", sagt meine Mutter, die mir eine große Stütze sein wird. Wenn ich diese Frauen an meiner Seite habe, dann wird es mir auf jeden Fall besser gehen.
"Und wie kriegen wir ihn da wieder raus?", fragt Cans Mutter besorgt. Ich schaue zu Shevin. Ich will die andere schlechte Nachricht nicht überbringen. Seufzend fährt sie sich durch ihr Haar. "Can würde nicht im Gefängnis bleiben, weil er... Can hat wieder einen... Tumor." Cans Vater schließt seine Augen, während die Mutter wieder schluchzt. Meine Mutter wird ebenfalls emotional, was auch mich zum Weinen bringt. "Er kommt doch zuerst in U-Haft oder?", fragt mein ältester Bruder, der schon reichlich Erfahrung hat. Shevin nickt. "Doch, das wird schon", muntert er mich auf. Er kann es auf die leichte Schulter nehmen, ich jedoch nicht. Wenn ich an sein Lächeln denke, blüht und brennt mein Herz. Ich will sein Lachen hören; Sein so melodisches Lachen, welches mich beruhigt und entspannt. Wir sitzen schweigend da und versuchen die Zeit zu überbrücken. Den größten Redeanteil hat Shevin, da sie alle Fragen beantwortet, die aufkommen. Als es dann wieder klingelt, begrüße ich die leicht korpulenten Männer in ihren edlen Anzügen, die mir freundlich die Hand geben. "Alles wird gut, meine Tochter. Wir helfen euch, egal wie", versichert mir ein Onkel. Ich nicke mit einem kleinen Lächeln. Es stehen alle im Wohnzimmer auf, um beide zu begrüßen. Der Mann im grauen Anzug ist Omar und der andere im dunkelblauen Anzug ist Hikmet. Sie sehen sehr wohlhabend aus. Can kommt allgemein aus einer kultivierten Familie. Die beiden sprechen mit Shevin. Hikmet telefoniert dann zu meinem Überraschen auf Französisch. Ich schaue fraglich umher. Unsere Mütter kochen etwas für die anderen. Can isst viel, deswegen ist von den Makkaroni mit Käse nicht wirklich etwas übrig geblieben.
Wenn ich wieder an ihn denke, muss ich resigniert seufzen. Ich denke an seinen großen Magen, der mich manchmal echt umhaut, weil so viel in ihn reinpasst. Ich muss an seinen Drang denken, mich immer mit Essen vollzustopfen, damit ich auch ja nicht abnehme. Ich darf eigentlich nicht so traurig sein, weil ich schon Tage hatte, wo ich mehrere Wochen und gar Monate ohne ihn aushalten musste. Ich halte diese Tage aus und werde meinen Mann in die Arme nehmen. Mir hat Cans Vater ein wenig Sorgen bereitet, aber mein Vater hat ihn wieder ein wenig beruhigt. Derya kommt mit einem kleinen Lächeln auf mich zu und umarmt mich innig. "Das wird schon wieder." Mein Mundwinkel zuckt trotzig. "Eigentlich sollte heute ein guter Tag werden", seufzt sie leise. "Was ist passiert?", frage ich, woraufhin sie aufsteht und mit mir ins Schlafzimmer geht, wo sie dann die Tür schließt und seufzt. "Ich wollte meinen Eltern eigentlich sagen, dass ich heiraten will", erwidert sie. Meine Augen weiten sich. "Oh Gott, Derya... herzlichen Glückwunsch?" Sie lächelt und breitet ihre Arme aus, um mich wieder zu umarmen. "Danke, aber das muss anscheinend warten, weil mein wahnsinniger Bruder seine Frau beschützen muss." "Sag nicht wahnsinnig zu meinem Ehemann, wenn es nicht als Kompliment gemeint ist", murre ich. Ich mag es nicht, wenn man Can irgendwie wegen seiner Psyche beleidigt. Er kann nichts dafür, dass er gemobbt und belastet wurde. Er ist mein armer, kleiner, riesiger 100-Kilo Junge. Wie soll er vom Gefängnisessen satt werden? Darf ich ihm Essen bringen? Was ist mit Kleidung? Darf Can einmal nach Hause? Mein Bruder durfte das doch auch, als er in U-Haft war... aber mein Bruder hat niemanden ermordet oder es versucht.
Als alle, außer meine und Cans Mutter, gehen, begleiten wir sie noch bis zur Tür. Omar und Hikmet nehmen sich ein Zimmer im Hotel und bleiben mit Shevin und mir in Kontakt. "Wir kriegen das schon hin", verspricht mir Hikmet. Ich nicke leicht. In der Wohnung fehlt etwas - Cans Aura. Ich will ihn so gerne bei mir haben, muss aber die Tage stark und standhaft bleiben. Cans altruistischer Habitus ist frappierend. Ich wusste ja, dass er possessiv ist und seine geliebten Mitmenschen beschützt, aber dass er so weit gehen kann, hätte ich niemals gedacht. Meine larmoyante Situation ist ein Unikum. Wer hier aus Hamburg musste mit demselben Schicksal kämpfen? Ich bin mir sicher, so gut wie niemand musste das. Seufzend laufe ich zu meiner Mutter ins Wohnzimmer und kuschele mich an sie. "Mama?" Sie schaut mich an. "Siehst du Can jetzt als einen anderen Menschen?" Sie schüttelt seufzend den Kopf. "Das, was er getan hat, war nicht gut, aber es zeigt auch, wie sehr er dich liebt und schätzt. Er hat nur meine Tochter beschützt. Zwar auf einer sehr speziellen Art und Weise, aber trotzdem ist Can ein guter Mensch." Mich erleichtert es sehr, dass sie ihn trotzdem nicht schlecht wahrnimmt. Sie hat recht, Can ist ein guter Mensch, auch wenn er Macken hat, die ziemlich außergewöhnlich sind. Can ist mein Mann, den ich so akzeptieren muss, so wie er ist. Ich nehme mir meine Kuscheldecke, ein Kissen und Cans T-Shirt und lege mich im Wohnzimmer auf das Sofa, welches ich aufgeklappt habe. Ich bin so verzweifelt, dass ich mir das Einmachglas mit den Tumoren hole und es auf den Tisch stelle. Ich will die Tage so schnell wie möglich überstehen und Can sehen, ihn spüren und riechen können.
Ich musste drei Tage warten, bis ich Can sehen konnte. Drei Tage ohne meinen Ehemann habe ich überstanden. Gleich darf ich ihn sehen. Ich darf ihn endlich sehen und ihn umarmen. Die anderen wissen auch Bescheid. Malik, Ramazan und die Onkel müssen noch auf ihren Besucherschein warten, aber unsere Mütter und ich besitzen unsere Scheine schon zum Glück. Wie lange muss er in Untersuchungshaft bleiben? Ich werde ihn morgen sofort wieder besuchen. Ich werde ihn jeden Tag besuchen, damit ich wenigstens ein bisschen Freude verspüren kann. Ungeduldig sitze ich im Auto, das von Omar gefahren wird. Was werden sie wohl machen? Wird Hikmet mit Can auf Französisch reden? Was besitzen sie denn, dass sie so viel Macht haben? Ich schaue aus dem Fenster und reibe meine Schenkel aneinander, weil ich so ungeduldig bin. Ich will meinen Mann sehen und ihn in den Arm nehmen. Wie es ihm wohl die Tage ergangen ist? Hoffentlich konnte er gut schlafen. Wir kommen der JVA immer näher, mein Herz schlägt langsam schneller - ich war immer noch nicht beim Arzt. Can würde mit mir schimpfen, wenn er das weiß. Ich will ihn nicht verängstigen, also sage ich ihm nichts. Ich wusste nicht, ob ich ihm Kleidung mitbringen soll oder nicht. Ich muss dort nachfragen, da ich keine Ahnung habe. Hätte ich doch meinen Bruder gefragt oder meine Mutter. Wir steigen vor der Anstalt aus, müssen unsere Scheine vorzeigen und müssen überraschenderweise unsere Handys abgeben, bevor wir zu Can geführt werden. Ich bin so aufgeregt. Ich will meinen Mann endlich sehen. Als wir vor einem Raum stehen bleiben, hüpft mein Herz.
Die Tür wird aufgeschlossen, und ich sehe seine Augen, die mir ein Segen sind. Ich sehe sofort das Leuchten in ihnen, was mich wieder emotional macht. Er steht auf, um unsere Mütter zu umarmen. Ich will ihn auch umarmen - so sehr! Ungeduldig schaue ich ihn an und weiß endlich, wie er sich sonst fühlt. Unwohl schaue ich zum Beamten und dann wieder zu Can, der beiden Müttern über die Haare fährt. "Alles ist gut", flüstert er. Seine Stimme fühlt sich wie Balsam an, der für meine Seele geschaffen wurde. Sie ist so samtig und rau. Ich will seine Stimme immer und immer wieder hören und auf meiner Haut spüren. Sehnsüchtig schaue ich ihn an, wage es nicht zu blinzeln und schreie innerlich nach ihm. Als seine Arme mich einladen, laufe ich sofort zu ihm und inhaliere seinen sinnlichen Duft. Das fühlt sich so gut an. "Can", flüstere ich. "Hey", gibt er sanft von sich. Seine Stimme schmeichelt meinen Ohren und meiner Seele. Ich habe seine Stimme so vermisst, dass sie mich an sich fesselt, sodass mein Körper sich nicht von ihm lösen mag. "Alles ist gut, Shana." Ich atme tief durch und schaue zu ihm in sein hübsches Gesicht, welches ich umfassen und streicheln tue. Urplötzlich habe ich Hoffnungen, dass es doch gut wird, nur, weil er mir diese Wörter mit der großen Bedeutung schenkt. Wie faszinierend die Liebe doch ist; Der Geliebte sagt dir etwas, was dir jeder erzählen kann, doch nur bei ihm hört es sich besonders, richtig und wunderbar an. Es ist wie ein Gedicht, welches die Sinne umspielt und das Herz erblühen lässt. Ich schaue in seine so wunderschönen Augen und scheue mich nicht einmal, ihn so zu liebkosen. "Wie geht es dir?", frage ich, immer noch dicht an ihn gebunden. "Es geht mir gut, Shana, wirklich. Wie geht es dir?" Er legt seine Hand auf meine Wange, an die ich mich schmiege. Seine große, warme Hand, die mir so viel Geborgenheit schenkt. Ich küsse seinen Daumen und vergesse alles und jeden um mich herum. "Komm, wir setzen uns", sagt er sanft und entspannt, legt seine Hand auf meinen Rücken und lässt sich neben mir nieder.
Ich schmiege mich sofort an ihn und schaue in die lächelnden Gesichter unserer Mütter. "Hast du gut schlafen können? Darf ich dir Essen mitbringen? Was ist mit Kleidung? Möchtest du ein Buch lesen? Can, du musst die ganzen Klausuren nachschreiben, wenn wir im Krankenhaus arbeiten", sprudelt es aus mir heraus. Can küsst meine Stirn und legt meinen Kopf auf seine Brust. Diese blaue Häftlingskleidung steht ihm. "Ich habe ganz gut geschlafen. Natürlich ist es zu Hause besser, aber ich muss mich hiermit zufriedengeben. Du kannst mir liebend gern Essen bringen. Das ist doch erlaubt oder?" Er schaut zum Beamten, der die Schultern zuckt. "Grundsätzlich spricht nichts dagegen", meint dieser. "Dann werde ich hoffentlich nicht abnehmen." Can schaut mich lächelnd an, was mich dahinschmelzen lässt. Sein Lächeln ist so wunderschön. Ich liebe sein Lächeln. Er ist so entspannt, dass es mir schon fast vorkommt, dass ich verrückt bin. "Bei der Kleidung weiß ich aber nicht so recht", wendet der Beamte ein. "Aber Unterhosen?" Mein armer Mann kann doch nicht ohne frische Unterhosen herumlaufen. "Gegen Unterwäsche spricht nichts, aber er wird höchstwahrscheinlich keine eigene Kleidung tragen dürfen." Dankend nicke ich. "Ich bringe dir dann deine Unterlagen mit, falls du magst. Ein bisschen Medizin schadet nie." Can nickt. "Bring mir auch das Buch mit dem reichen, kranken Wichser mit." Ich nicke. "Alles, was du willst." Ich umarme ihn innig und küsse seine Brust. Ich würde am liebsten mit ihm in die Zelle. Mir doch egal, ob ich die ganzen Klausuren nachschreiben muss. "Can, was ist mit dem Studium?", fragt die Mutter besorgt. Can winkt lässig ab. Es ist ja schon fast lächerlich, wie leicht Can das Ganze sieht, während uns die Haare fast ausfallen. "Ich kann die Klausuren im nächsten Semester nachschreiben." Ich werde ihn einfach solange in den Vorlesungen eintragen. "Ich bringe dir trotzdem Bücher mit. Wie willst du für das Hammerexamen lernen, Can? Ich drucke dir einfach deine restlichen Kapitel aus. Du bist auf demselben Stand wie ich oder?" Can nickt und streichelt meinen Kopf, was mich unfassbar schnell ruhigstellt. "Keine Hektik, Shana. Morgen ist auch noch ein Tag." "Darf ein Arzt dich besuchen kommen? Can, dein Kopf-," "Es ist alles in bester Ordnung, Shana. Vertrau mir einfach." Er löst sich von mir, um sich dann seine Patronenkette auszuziehen und sie mir umzulegen. Das hat er noch nie getan, mein Herz pocht!
"Sie hat mir in meiner schwersten Zeit geholfen, also wird sie auch dir helfen. Ich vertraue dir, dass du sie nicht öffnest. Sonst geht der Zauber weg", gibt er am Ende neckend von sich. Mir steigen die Tränen auf, die ich schnell wegblinzele. Ich nicke eifrig und schmolle, weil ich so sentimental werde. "Hey, nicht doch", lacht er und umarmt mich wieder. Es ist mir eine so verdammte Ehre, dass Can mir sein Credo anvertraut. Das bedeutet mir so viel, da Can etwas mit dieser Kette verbindet. Er vertraut mir und ich werde sein Vertrauen nicht missbrauchen, egal wie groß meine Neugier ist. Ich umschließe die Patrone fest und halte sie mir an meine Brust. Ich werde heute beruhigt schlafen können. Can unterhält sich mit unseren Müttern, während ich in seinen Armen liege und seinem Herzschlag lausche. Wir haben leider Gottes nur fünfzehn Minuten. Ich will ihn nicht verlassen. "Noch fünf Minuten", meldet sich der Beamte wieder. Nein, ich will ihn nicht verlassen. "Ich darf dir kein T-Shirt von mir mitbringen, damit du ruhig schlafen kannst oder?" Can seufzt. "Ich denke nicht. Versuch dein Glück. Selbst ein Bild von dir lässt mich beruhigt schlafen." Ich bebe wieder vor Freude, weil mich seine Worte so glücklich machen. "Wie lange bleibt ihr in Hamburg?", fragt Can. "Bis heute. Wir wieder zu den Kindern, aber wir kommen wieder, wenn dein Gerichtstermin ist." Wenn ich daran denke, wird mir flau im Magen. "Wann ist der Termin?" Can zuckt mit seinen Schultern. "In ungefähr zwei bis drei Wochen. Du wirst bestimmt einen Brief kriegen." Sein Daumen fährt sachte über meine Wange. "Die Besucherzeit ist vorbei." Oh nein. Wir stehen auf - den anderen fällt es einfacher als mir. Der Beamte holt Handschellen hervor, was mich schockiert. "Aber wieso? Du machst doch nichts!" "Shana, alles ist gut. Das ist mir echt egal, ob ich Handschellen angelegt bekomme. Du warst da und ich bin glücklich." Er fährt mir sachte über meine Wangen und schließt mich noch einmal fest in seine Arme. Ich will mit ihm in die Zelle, ich will ihn nicht alleine lassen. Cans Mutter und meine umarmen ihn und geben ihn Küsse auf die Wangen, ehe sie langsam zur Tür gehen. "Moment, noch nicht", murmele ich zum Beamten. Oh Mann, jetzt bin ich wieder so verklemmt. "Die Besucherzeit ist leider um." "Nur ganz kurz." Ich schaue flehend. Can schaut mich fragend an. "Ein Küsschen", murmele ich verlegen, was ihn lachen lässt.
Seine Hände umschließen mein Gesicht und ziehen mich zu seinem, wo ich voller Sehnsucht seine Lippen berühre. Can lächelt, was mich ebenfalls lächeln lässt. Es fühlt sich so an, als ob ich Can seit Wochen oder Monate nicht mehr geküsst hätte. Innerlich erblühe ich Millimeter für Millimeter, weil sein Kuss wie eine Erlösung eines Fluches ist. Ich habe wieder Glückshormone in mir, die mich vitalisieren. Ich will den Kuss mit der Zunge intensivieren, da löst sich Can von mir, was mich schmollen lässt. "Ich will nicht mit einer Latte zurück in die Zelle", flüstert er mir zu, was mich nach Luft schnappen lässt. Oh Gott, das habe ich vollkommen vergessen. Can tätschelt belustigt meinen Kopf und legt seine Hände hinter seinen Rücken, damit der Beamte ihn die Handschellen umlegen kann. "Wir sehen uns morgen. Ich will Shawirma und am nächsten Tag Pell." Er grinst spitzbübisch. Wie paradox, dass er jetzt so gelassen und zufrieden sein kann. "Alles, was sich der Löwe wünscht", gebe ich leise von mir. Ich laufe ihm nach und muss mich dann ganz von ihm verabschieden, als er in eine andere Richtung geführt wird. Instinktiv halte ich die Patrone fest und küsse sie. "Alhamdulillah, er sieht gut und glücklich aus", seufzt meine Mutter, als wir wieder im Auto sitzen. Ich habe wegen der Kleidung gefragt, was leider nicht erlaubt ist. Essen und Bücher jedoch sind erlaubt. Ich nicke. "Hamdullah", flüstere ich. Ich danke Gott so sehr, dass es ihm gut geht, trotz seines Tumors. Ich muss beten, dass es ihm gut geht. Ich sollte allgemein wieder beten - so lange, wie ich es vernachlässigt habe. Ich schaue auf die Patrone und schüttele sie. Can hängt an ihr, weswegen ich es nicht übers Herz bringen könnte, sie zu öffnen. Es muss etwas sein, was Can überzeugt hat. Es wird schon etwas Bedeutsames sein. Wenn ich wieder an Can denke, muss ich schmunzelnd den Kopf schütteln. Er war stoisch und zufrieden. Es kam mir so vor, als ob er sich wie zu Hause fühlt. Nichts hätte ihn aus der Bahn werfen können und genau das hat uns beruhigt und gestillt. Das grenzt ja an einem Phänomen.
Can ist ein Phänomen.
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Hab auf Instagram eine Zitateseite, wo noch Zitate aus den Büchern hoffentlich folgen werden. Zudem habe ich mir vorgenommen, auch einiges zu erklären - Metaphern oder ähnliches -, was von so gut wie niemanden bestimmt registriert wurde. So please follow:
Quzelkurt.Zitate
- Helo
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