OneShot
Sie saß nägelkauend vor den dutzend Bildschirmen in dem obersten Stockwerk des verfallenen Hauses.
So etwas hatte sie seit Ewigkeiten nicht mehr getan: Nägel kauen!
Aber irgendetwas musste sie malträtieren, damit sie nicht abgelenkt wurde.
Sie starrte auf das Bild. Die Leute in dem großen runden Raum. Ohne Ausweg, ohne Rettungsmöglichkeit.
Sie machte sich keine Illusionen: Diese Menschen waren der Feind!
Genausowenig wie HYDRA eine gute Organisation war. Aber das waren diese Menschen auch nicht.
S.H.I.E.L.D. vertuschte, HYDRA provozierte. Keins von den beiden war eine Lösung. Aber HYDRA besaß die Möglichkeit zur Veränderung. Und das brauchte die Welt.
Sie hatte ihre Helden zerpflückt und kein gutes Haar an ihnen gelassen, jetzt brauchte sie einen Feind, der so mächtig war, dass die Menschen nach einem Beschützer schrien.
Aber diese Leute da unten waren keine Beschützer!
Trotzdem konnte die Beobachterin ihren Blick nicht von ihnen wenden.
Sie hatte sie beschattet, ausspioniert, kannte jedes noch so kleine Detail in ihrem Leben, von der Schuhgröße angefangen bis zum ersten Wort, das jemals ihren Mund verlassen hatte.
Und sie hatte noch nie hilflosere Menschen gesehen, als diese Helden da unten.
Nachdenklich zoomte sie an einen von ihnen heran:
Der Captain!
Ein Anführer sollte er sein. Ein Symbol!
Aber alles was sie sah, war ein alter Mann, gezwungen, in einem zu jungen Körper zu leben, aus seiner Zeit gerissen und in eine Welt gequetscht, die nicht seine war. Er war freundlich, liebevoll, fürsorglich. Dieser Mann gehörte an den Tisch einer vielköpfigen Familie und nicht in ein Karnevalskostüm in den Weltuntergang geschickt!
Und so wie er waren sie alle: gebeugt, verwirrt, zerbrochen!
Sie hörte die leisen Schritte hinter sich und ihr Instinkt ließ ihr Herz schneller schlagen und ihre Brust auf- und abheben.
Zwei Hände legten sich von hinten langsam um ihre Taille und sie spürte einen zärtlichen Kuss auf ihrem Scheitel.
Ihr Mann sprach nicht, er blieb ruhig hinter ihr stehen und sah auf den Bildschirm.
"Das wird von nun an Ihr zweites Zuhause sein! Hier werden Sie mehr Macht besitzen, als jemals ein Mensch zuvor! Ein Knopfdruck und Sie entscheiden Leben und Tod, Gegenwart und Zukunft, Hoffnung und Verzweiflung! Das Lebenswerk Ihrer Vaters liegt nun in Ihren Händen!"
Sie scheute keine Verantwortung. Langsam tastete sich ihre Hand vor und legte sich über die große, warme ihres Mannes, die ihren Bauch bedeckte.
"Was tun sie?", fragte er leise.
"Sie reden. Und trotzen!",murmelte sie leise. "Wie kleine Kinder!"
"Was hast du erwartet?", leise lachend beugte er sich vor und küsste sie sanft auf die Ohrenspitze.
"Ich liebe dich!", hauchte er und sein warmer Atem strich wie eine unsichtbare, streichelnde Hand über ihre Wange.
Sie lehnte sich zurück an seine Brust.
"Zögerst du?", fragte er leise. Sie schüttelte den Kopf.
"Es ist eine unvorstellbare Macht, die in dieser Maschine steckt! Und mit der Zeit wird sie sogar noch größer! Aber sie wird nie die Vollkommenheit erlangen.
Die perfekte Harmonie zwischen Mensch und Werkzeug.
Sie ist zu komplex, zu gewaltig, als das ich sie einem normalen Sterblichen überlassen könnte. Nur mein Fleisch und Blut soll diese Kraft besitzen, darf zusehen, wie sie wächst und Früchte trägt!
Ich bin kein Vollidiot, wenn ich das sage!
Aber vergiss nie, dass zu einem Körper nie der Geist fehlen darf!"
"Ich...", sie schwieg. Spürte, wie die Hände um ihre Taille fester wurden, sie hochhoben und umdrehten, sodass sie in die klaren blauen Augen ihres Mannes sah.
Ihres Mannes.
All die Jahre hatte sie davon geträumt und nun war es wahr.
"Bleibst du noch lange hier?", fragte er sanft und zog sie an sich, um ihren Mund mit zarten Küssen zu bedecken. Sie vergrub ihren Kopf unter seinem Kinn.
"Sie ist weg!", murmelte sie leise. "Die Freude von vorhin! Sie ist verschwunden!"
Er lächelte:
"Wir sind keinen Tag verheiratet und du behauptest schon, es wäre ein Fehler?"
"Nein!", sagte sie. "Einen Fehler würde man in der Regel nicht ständig wiederholen wollen!"
Er schwieg und sah über ihren Kopf hinweg auf die Bildschirme. Seit ihrer ersten Begegnung wusste er von ihrer Existenz.
Die alles sehenden Augen.
Der unsichtbare Schutzengel, der die Welt bisher vor der kompletten Verwüstung bewahrt hatte. Ein Apperat, gebaut um zu schützen und zu strafen.
Seine Informationen gelangten immer an die richtigen Stellen. Irrtümer waren ausgeschlossen.
Es war an nichts gebunden und durch nichts beeinträchtigt.
Der Mann sah auf die Personen die die Kameras zeigten: in einer Kreisformation, um möglichst viel Rückendeckung zu haben. Sie schienen keine Angst zu haben. Weil sie nicht wussten, dass sie gesehen wurden. Weil sie nicht wussten, dass sie schon längst durchschaut waren.
"Du kannst sie nicht töten!", sagte er plötzlich. "Ob du willst oder nicht, es sind Helden! Und die Welt verehrt sie!"
"Noch!", gab sie leise, aber ruhig zurück. "Aber sie werden niemals zu dem imstande sein, was wir bereit sind zu tun!"
"Sie wissen es noch nicht. Gib ihnen Zeit!", erwiderte der Mann. "Und wie lange noch?" Ihr Ton wurde verbittert.
"Wir wissen beide, dass HYDRA nur hinter der Maschine her ist!", meinte er. "Diese dort unten würden uns eher zuhören als die Köpfe!" Sie wiegte den Kopf.
"Ich denke nicht an mich, wenn ich es tue!", sagte sie dann hart.
Sie drehte sich um, die Hand leicht auf den Bauch gelegt, sah sie ihn mit einem eindeutigen Blick an. Stolz, stille Freude, Liebe vermischten sich in ihren grünen Augen. Und Angst.
Die Augen ihres Mannes weiteten sich vor Überraschung. Mit einigen Schritten war er bei ihr, beugte sich vor und legte sei Ohr an ihre Mitte. Sie lachte leise und fuhr ihm durchs Haar.
Er richtete sich wieder auf.
Glück strahlte aus seinen Augen. Er bemerkte ihren fragenden Blick und seine Augen wanderten zum Schaltpult.
"Beende es!", sagte er plötzlich fest.
"Ich kann nicht! Und du weißt jetzt auch, weshalb!", antwortete sie leise und sah weg. Liebevoll nahm er ihr Kinn in seine Hände und drehte es sanft zu sich:
"Hast du vergessen, wozu dein Vater diese Maschine entwickelt hat?",fragte er leise. Sie schüttelte den Kopf.
"Er wusste genau wie du, dass HYDRA auf längere Zeit keine Lösung war und trotzdem hat er dieses Werk begonnen!"
"Er hatte Hoffnung!", sagte sie leise.
"Und wenn diese Menschen da unten diese Hoffnung sind? Sie alle haben schon einmal die Welt gerettet. Glaubst du nicht, dass sie es wieder tun würden?"
"Sie haben die Welt vor anderen gerettet. Aber sie zerstört sich von selbst!", entgegnete sie bestimmt. Aber er spürte, dass sie wankte.
Er kniete sich vor sie hin und hielt ihre Hände.
"Wir müssen uns jetzt entscheiden!",sagte er langsam. Du musst entscheiden! Entweder gehen sie zugrunde oder HYDRA! Deine Wahl, deine Entscheidung!"
Sie löste sich langsam von ihm und ging auf das Schalterpult zu. Ein einzelner Knopf darauf besaß mehr Reichweite als der Bescheid eines Kriegsministers.
"Man ist von der Erkenntnis überwältigt, das erste Mal. Es ist wichtig, die Konstante zu finden. Wie viel wiegt ein Menschenleben? Verwirrung oder Klarheit, was ist besser?
Nachdenken!
Niemand denkt nach! Die Technologie übernimmt das ab sofort. Keine Gewissensbisse mehr, keine schlaflosen Nächte! Aber was ist der Preis?"
Sanft strich sie über die kleinen, schwarzen Hügel. Dann drehte sie sich um:
"Hast du an das Risiko gedacht? Bei HYDRA wissen wir, wie sie ticken, wie sie vorgehen wollen! Sie sind strukturiert, organisiert und bestens geplant. Aber diese Leute dort sind noch nicht einmal mit sich selbst im Klaren!"
"Sie kämpfen jeder für eine andere Sache!", bestätigte ihr Mann. "Und sie wollen alle, dass diese Sache geschützt bleibt! HYDRA will nur das Eine! Was ist wohl besser?"
Er trat an sie heran und streichelte über ihren Bauch, in dem ein neues Leben schlummerte.
"Gib ihnen eine Chance! Du trägst schon zuviel Verantwortung!"
Sie drehte sich leicht zu ihm hin und presste ihren Kopf an seine Schulter, als könnte das ihr etwas Ruhe bringen.
"Sie dienen der Menschheit, bei allem, was Sie von nun an tun! Sie entscheiden wie es weitergeht! Oder ob wir abstürzen!"
"Ich habe keine Hemmungen, tausend Leben auf mich zu nehmen, nur das Eine kann ich nicht opfern!", sie sah ihn mit Tränen in den Augen an.
Er verstand.
Ihren Kopf an seine Schulter gebettet wiegte er sie hin und her.
Sein Blick lag auf den Bildschirmen.
"Sie haben die Wahl! Die Welt liegt Ihnen zu Füßen! Und keine Macht in Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft kann sie Ihnen nehmen!"
Keine Organisation der Erde hatte eine Macht wie sie. Und ihre Bestimmung war klar.
Leise löste sich das Ehepaar voneinander.
Ihre Hand zuckte zu einem unscheinbaren Knopf. Und wieder zurück.
"Ich kann nicht!" Die Tränen liefen ihr über die Wangen. Ihr ganzes Leben schien auf diesen einen Moment fixiert und jetzt schien alles still zu stehen.
"Bitte! Ich kann das nicht! Ein unschuldiges Leben zu opfern! Das kann ich nicht tragen!", flehend sah sie ihn an.
Er nahm sie schützend in den Arm.
"Ich liebe dich!", flüsterte er und schluckte, um die Tränen, die ihm selbst hochkamen, zu vertreiben.
"Mein Gott, ich liebe dich! Selbst über den Tod hinaus! Euch beide!"
Langsam tastete sich seine Hand nach hinten und fand den Knopf.
"Vergebt uns!", hauchte er auf den Scheitel seiner schluchzenden Frau, die sein Erstgeborenes in sich trug.
Seinen Schatten vermischte sich mit ihrem, als das Gebäude wie ein bombastisches Sylvesterspektakel in die Höhe gehoben wurde, bis es in tausende und abertausenden Splittern auf die Erde niederregnete.
Es war ein grauer Regen. Voll Feuer und Qualm.
Die Avengers standen in einem Kreis, jeder versuchte ein möglichst schwieriges Ziel abzugeben und trotzdem möglichst viel Schussfreiheit zu haben.
Die schwarzgekleideten Männer sahen durch ihre verdunkelten Schutzhelme auf sie herab. Sie schossen nicht. Der Befehl war noch nicht gegeben.
Aber es war eindeutig, dass die Avengers in der Falle saßen.
Von alles Seiten starrten Waffen auf sie herab. Waffen, die eigens für sie angefertigt worden waren.
Aber sie blieben unbenutzt.
Stumme Blicke wurden getauscht. Zwischen Jäger und Gejagten und untereinander.
Alle schienen auf etwas zu warten.
Auf ein erlösendes Signal, ein Schuss, dem ein sinnloses Gemetzel folgen würde. Und der Ausgang war von vornherein klar.
Der ältere Mann im Anzug sprach zwar spöttisch auf die Avengers ein, aber er wurde ignoriert. Jeder Einzelne von ihnen zermarterte sich das Hirn nach einem Ausweg.
Und dann war es da:
Ein leises, für die Avengers kaum hörbares, unsagbar hohes Piepsen. Es kam aus den Headsets der Soldaten, dröhnte in ihrem schalldichtem Helm wieder, füllte ihn aus. Sie warfen die Waffen weg und wälzten sich schmerzerfüllt am Boden, gekrümmt, mit verzehrten Gesichtern. Aber bevor sie auch nur andeutungsweise den Helm aufschnallen konnten, war es zu spät.
Einer nach dem Andern sackte Sekunden später regumgslos auf den Boden, aus manchen Helmen tropfte Blut.
Dem Mann im Anzug war es noch schlimmer ergangen. Er trug keinen Helm, sodass er versucht hatte, sich vom Headset zu befreien. Bei der Beschädigung wurde das Pfeifen noch schriller, sodass er mit einem gequältem Aufschrei zurückzuckte, das Gleichgewicht verlor und in die Tiefe stürzte.
Vorsichtig versammelten sich die Avengers um seinen zerschmetterten Körper. Der Sturz hatte ihn nicht getötet, nur seine Schmerzen noch größer gemacht. Sein verzerrtes Gesicht gab einen entsetzlichen Anblick.
Schweigend nahm der Captain seinen Helm ab.
"Was war das?", fragte Stark verblüfft, der sich neben ihm gestellt hatte. Mit einem leisen Surren klappte der vordere Teil seines Helmes hoch und er starrte fast betroffen auf den Toten. Captain Rogers sah auf:
"Keine Ahnung! Aber wer auch immer es war, er muss unser Schutzengel sein!"
Inmitten der Trümmer der alten Schule lag ein einzelner, unbedeutsamer, schwarzer Knopf mit dem Fingerabdruck eines Mannes, dessen Identität zeitgleich von sämtlichen Datenbanken gelöscht worden war.
Neben ihm eine Brieftasche mit drei Dollar fünfundsiebzig in Münzen, drei gefälschte Ausweise, ein neues, fast unberührtes Foto von einem strahlendem Brautpaar und ein Ultraschallbild eines neuneinhalb Wochen alten Kindes.
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