🌸 Kapitel 8 🌸
Was ist schon Realität?
Nach der Dunkelheit kam das Licht. Es tanzte in Form von vielen bunten Punkten vor Leontiens Augen. Rote, gelbe und blaue Partikel schwebten im schwarzen Nichts, das sie umgab, dann wurden sie immer schneller und schneller, wirbelten umeinander, bis sie sich zu einem gleißenden Lichtstrahl verdichteten. Das Licht zog sie an wie ein Magnet. Es war warm und weich. Leontien hatte sich noch nie so gut gefühlt, jede Sorge verdampfte unter dieser göttlichen Sonne. Immer mehr tauchte sie in das Licht ein, die Helligkeit radierte das Schwarz aus, wie ein Radiergummi eine Kohlezeichnung. Sie war einfach nur wunschlos glücklich, schwerelos, frei. Nichts war mehr von Bedeutung. Nichts, außer diesem liebenden Gold, in das sie nun vollends eintauchte, wohltuend wie warmes Badewasser.
Und dann war es weg. Das Licht, die Wärme, die Geborgenheit. Und die Gedanken setzten wieder ein. ,Was ist mit mir geschehen? Was war das? Und ... wo bin ich?'
Leontien war vollkommen orientierungslos. Sie schaute sich um. Da war eine Matratze mit rosa Spannbettlaken, ein roter Sitzsack, ein kleiner Tisch, auf dem sich Sudokuhefte stapelten, an den hölzernen Wänden klebten Plakate von Spiderman, Phineas und Ferb und den Tributen von Panem und ein alter Plattenspieler spielte leise ,,September" von Earth, Wind & Fire. Die Erkenntnis sickerte zu ihr durch. So verwirrend es auch war: Sie war im Hausbaum. Die vertraute Umgebung brachte ihr jedoch keine Erleichterung. Während sie als erste Handlung das unpassende Gedudel ausschaltete, rief sie sich ins Gedächtnis, dass alles im Universum seinen Grund hatte. ,Denk an das Kausalitätsgesetz, Leo. Es gibt immer eine logische Erklärung. Nur nicht ausflippen. Was ist das Letzte, an das du dich erinnerst?'
Sie kam nicht dazu, dem Gedankengang weiter zu folgen, denn ein lautes Geräusch ließ sie zusammenzucken. Ihr Unbehagen verstärkte sich, als ihr mit erschütternder Klarheit bewusst wurde, dass etwas ganz Entscheidendes fehlte, um den Eindruck des Baumhauses zu vervollständigen: der typische Harz-Geruch, das Zwitschern der Vögel und das Rascheln der Blätter. Vorsichtig näherte sie sich dem geblümten Vorhang, der das Fenster über der Matratze verdunkelte. Je näher sie ihm kam, desto eindringlicher wurde der Lärm. Leo bemerkte, dass es nicht nur ein Geräusch war, es waren hunderte, wenn nicht sogar tausende von überlagerten Geräuschen, die zu einer prasselnden Kakofonie anschwollen: Applaus. ,Nicht normal. Überhaupt nicht normal.' Leo zögerte eine Sekunde, dann riss sie den Vorhang zur Seite. Bei dem, was sie sah fielen ihr fast die Augen aus dem Kopf.
Sie blickte auf eine Bühne herab. Auf die Bühne ihrer Schulaula. Eine Zimmerpalme, sowie mehrere Pappmaché-Requisiten gaben eine traurige Tropen-Kulisse ab. Der Applaus verebbte und der Vorhang öffnete sich. Gespannte Stille. Erwartungsvolle Blicke. Ein junges, blondes Mädchen trat ins Scheinwerferlicht. Ihre Wangen waren mit grüner Kriegsbemalung verziert, ihr Hemd war mit einem Kissen ausgepolstert worden, um den Eindruck von Fettleibigkeit zu erzeugen, auf der Nase trug sie eine klobige Kunstglasbrille.
Leo musste sich am Holzrahmen des Baumhausfensters festhalten, um aufrecht stehen zu bleiben.
,,Mein Name ist Piggy und ich musste sterben. Ich musste sterben, weil ich Frieden wollte und die Wahrheit aussprach. Weil ich mich für die Zivilisation einsetzte und für Moral!", begann das Mädchen die ersten Zeilen ihres Textes aus dem Klassiker ,,Herr der Fliegen" von William Golding, einem Roman über eine Gruppe von Jungen, die auf einer einsamen Insel strandeten und ums Überleben kämpfen mussten. Dieses Theatherstück gehörte zum Pflichtprogramm eines jeden Gymnasiums. Die Zuschauer waren gefesselt von dem einnehmenden Ton des Mädchens, selbst Leo, die immer noch jedes Wort des Monologes auswendig kannte, bekam eine Gänsehaut. Sie konnte den Blick nicht abwenden. ,,Alles begann mit einem Flugzeugabsturz." Ein Knall und rotes Scheinwerferlicht untermalten ihre Worte. ,,Ich und ein Dutzend Jungen aus meiner Militärakademie konnten uns auf eine unbewohnte Insel im Pazifik retten. Wir waren verängstigt. Der einzige Erwachsene unter uns war ..." Plötzlich stockte das Mädchen. Seine Augen richteten sich auf einen Punkt in der Mitte des Publikums. Hatte sie ein Blackout? Einen Texthänger? ,, ... der schwerverletzte Pilot Captain Benson!", flüsterte die Souffleuse, doch das Mädchen war wie versteinert. Sie hatte sogar aufgehört zu atmen. Ein Flüstern ging durch die Reihen, einige der anwesenden Eltern folgten ihrem Blick. Dann wurde klar, was die Darstellerin aus ihrer Rolle gerissen hatte. Es wurde allen Anwesenden klar.
,,Schatz, ich kann das erklären! Da war nichts! Sie ist nur eine Kollegin, ich ..." Ein Mann mit blonden Haaren und einem Dreitagebart erhob sich, dann erst bemerkte er, dass er im Zentrum der Aufmerksamkeit stand. Bevor er mit einem entschuldigenden Lächeln und einem Witz den Schaden begrenzen konnte, war auch schon seine Frau aufgesprungen. Ihr spitzer Fingernagel bohrte sich in seine Brust. ,,Eine Kollegin? Willst du misch verarschen? Isch wusste es! Isch wusste es die ganze Zeit, putain" ,,Können wir das nicht später klären? Die Leute gucken schon!", flüsterte der Mann befangen und versuchte die Dunkelhaarige zum Ausgang zu ziehen.
Totenstille lag über der Aula, die Luft war geladener als eine Hochspannungsleitung. ,,Ha, das hättest du wohl gerne! Isch werde das hier und jetzt klären! Für Scham ist es jetzt ein bisschen zu spät, chérie! Die Leute sollen ruhig wissen, was für eine Art Mensch du bist!" Der Blick des Mannes war nun genauso erhitzt, wie der seiner Frau. ,,Deine Tochter steht auf der Bühne. Du wirst den Streit auf später verschieben müssen. So etwas nennt man hier bei uns in Deutschland Anstand", zischte er durch zusammengebissene Zähne und lächelte noch einmal entschuldigend in die Runde: ,,Bitte beachten sie uns nicht! Nur eine kleines Missverständnis zwischen Eheleuten. Wir gehen jetzt! Viel Spaß noch bei dem Stück." Seine letzten Worte gingen im Geschrei seiner Frau unter, ihre Stimme überschlug sich vor Wut: ,,Ist es für disch auch ein Missverständnis, wenn du deinen Schwanz in andere Frauen steckst?" Entsetzes Lufteinziehen. Das Mädchen hatte begonnen zu zittern. KLATSCH. Die Ausgangstür schwang in ihren Angeln. Die Frau hielt sich ihre rote Wange.
Leontien konnte es nicht länger ertragen. Sie zog den Vorhang des Baumhausfensters zu und rutschte mit dem Rücken an der Holzwand herunter. Was war das für ein kranker Traum? Sie schaute auf ihre Hände herab. Fünf Finger an einer zitternden Hand. Wie sie hier hergeraten war, war ihr ganz und gar unerklärlich. Und alles Unerklärliche machte ihr schreckliche Angst.
,,Ba de ya, say do you remember?", fing die Musik wieder an. Der Tonarm musste sich eigenständig wieder auf die Platte gesenkt haben. ,,Ba de ya, dancing in September ..." Dann verkeilte sich etwas im Innern des Geräts. ,,Ber, ber, ber, ber ...", stotterte es. Die Nadel sprang immer wieder zu derselben Stelle zurück. Leo schlang die Arme immer fester um ihre Knie. ,, ... ber, ber, ber ..." Es sollte aufhören! Sie wurde verrückt. ,, ...ber, ber, ber ..." Sie musste aufstehen und die Platte vom Plattenteller nehmen! Leontien stützte die Hände auf der Matratze ab, um sich hochzustemmen, aber es ging nicht. Ihre Finger versanken im Stoff, der sich gar nicht mehr wie ein Laken anfühlte. Langsam sank ihr ganzer Körper tiefer, auch ihre Füße und ihr Hintern sackten ein. Panisch versuchte sie sich an der Kommode festzukrallen, aber auch die versank im Boden des Baumhauses. Es war kein Boden mehr. Er zerbröselte in feine Körnchen. Sand.
Die Platte hing immer noch. ,,Hilfe!", schrie Leo. Sie wusste nicht mal, ob es jemanden gab, der sie hören könnte. War das real?
Die Wände des Baumhauses wurden immer durchscheinender. Und dann begriff Leo, wo sie war: Sie befand sich im oberen Kolben einer Sanduhr. Der Strudel aus Körnern zog an ihren Füßen, sie war schon bis zur Brust eingesunken. Die glatten Glaswände boten keinen Halt, jede Bewegung ließ sie schneller versinken. An den Stellen, an denen sie den Sand berührte, färbte er sich blutrot. Sie fing an, leise zu beten.
,,Bitte lieber Gott, wenn es dich gibt, hilf mir! Es soll enden! Bitte vergib mir, bitte mach das es aufhört!"
Der Sand erreichte ihren Hals.
,,Bitte, bitte, bitte nicht!"
Und dann bedeckte der Sand ihr Kinn, ihren Mund, begrub sie unter sich.
Es wurde dunkel, Leontien hielt den Atem an. Sie wusste, dass sie so ruhig wie möglich verharren musste, um Sauerstoff zu sparen. Irgendwann müsste der Sand so weit abgelaufen sein, dass sie wieder aus ihm auftauchte. Bis dahin musste sie durchhalten. Der Sog wurde stärker. Ihr Fuß wurde in die Einengung, durch die der Sand in den unteren Kolben rieselte, gezogen. Die Kraft, die sie nach unten riss, war zu stark. Sie konnte nicht länger regungslos bleiben. Ihre Füße traten auf gekrümmtes Glas, doch sie rutschte immer wieder weg. Das Gewicht der Körner presste sie nach unten und drohte ihre Lunge zu zerquetschen. Sie würde ersticken.
Dieser Gedanke rüttelte etwas in ihr wach, das bis jetzt geschlummert hatte. Das alles hier konnte nicht real sein. Sie konzentrierte sich auf diesen Gedanken. Ein schlauer Mann hatte einst gesagt: ,,Realität ist das, was nicht verschwindet, wenn man aufhört, daran zu glauben." Schlussfolgerung: Sie glaubte noch daran. Sie musste irgendwie aus diesem Teufelskreis ausbrechen, damit dieser Alptraum ein Ende fand.
,,Realität ist eine Entscheidung!", murmelte sie, ,,Ich selbst beeinflusse meine Wahrnehmung!"
Mit einem Schlag kam alles zu ihr zurück. Alle Erinnerungen.
Sie sah sich selbst in der dunklen Gasse, die zu Noemis Haus führte. Es war so, als würde sie als Geist über sich schweben und mitverfolgen, wie ihr Alter Ego sich ein iPhone ans Ohr presste. Sie sah sich, wie sie anfing zu rennen, ein Junge mit grüner Daunenjacke folgte ihr und rief ihr etwas hinterher. Leo sah aus der Vogelperspektive, wie sie stolperte und auf die Straße schlug. Ein Auto kam auf sie zugerast, viel zu schnell ... Eine Frau ließ ihr Handy fallen. Der Junge sprintete vorwärts, warf sich auf sie und versuchte sie wegzuziehen, aber da war es schon zu spät. Die Front des Wagens erwischte beide und streckte sie nieder. Das Blut breitete sich um ihren Kopf aus wie ein Heiligenschein.
Leontien musste sich zusammenreißen, um sich nicht hier und jetzt zu erbrechen – wo auch immer hier und jetzt war.
,Ich bin tot! Wirklich und wahrhaftig tot!', versuchte sie das Unbegreifliche zu begreifen. In diesem Augenblick wünschte sie sich nichts sehnlicher, als dass die Leere, an die sie sich von vor ihrer Geburt erinnerte, auch der Zustand nach dem Tod sei.
Ein Schnipsen erklang.
Leo spürte, wie die Einengung der Sanduhr sich wie die Blende einer Kamera öffnete. Mit einem Schub Sand fiel sie hindurch und landete auf einer harten Oberfläche.
Sie öffnete die Augen. Unter ihren Handflächen fühlte sie glatten, weißen Boden– alles um sie herum war weiß. Und inmitten dieser weißen Weite stand ein dicker Mann mit einem Schnäuzer, der erleichtert auf ein blinkendes Band an seinem Handgelenk schaute. Er senkte den Blick auf das elende, vor ihm kauernde Häufchen, das sie abgab.
,,Danke", sagte er trocken.
Es war mal wieder etwas verwirrend! I hope you liked it anyway😅😏
Was sind eure Vermutungen darüber, was gerade geschehen ist? Im nächsten Kapitel wird es aufgelöst. Der, der als erstes die richtige Antwort kommentiert, bekommt Kapitel 9 gewidmet🎉
Lasst gerne ein Sternchen/Feedback da🙈🧡
▪️1763 Wörter
Eure Jojo🔮
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