🌸 Kapitel 7 🌸
Wohin willst du?
Regen prasselte unbarmherzig auf die Frontscheibe des Peugots 107.
Das kleine rote Auto war ein Geschenk ihres Vaters zum Achtzehnten gewesen, wohl um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen. Welch grausame Ironie, dass sie nun auf dieses Geschenk angewiesen war, um aus der materialistischen Welt ihrer Mutter zu fliehen. Erinnerungen an jedes einzelne Mal, das ihre Eltern sie entäuscht hatten, überschwemmten ihren Geist, vermischten sich mit dem Regen, der das Glas herablief. Die Scheibenwischer versuchten erfolglos die verschwommenen Bilder und Szenen wegzuwischen, doch sie kamen nicht gegen die sintflutartigen Niederschläge an.
Leontien hatte vermutet – nein, sogar gewusst –, dass dieser Tag irgendwann kommen würde. Der Tag der Wahrheit, an dem alle mit offenen Karten spielten, statt sie unter den Tisch fallen zu lassen. Im Verborgenen waren sie zu einem erdrückenden Stapel herangewachsen. Hätte sie sich heute nicht aus den falschen Assen und Zehnen gekämpft, wäre sie in ihnen erstickt. Es war frustrierend: So viele Jahre hatte Leontien die Eskalation vermieden, war Anaïs aus dem Weg gegangen und nun, ein Jahr bevor sie an eine weit entfernte Universität verschwinden konnte, waren all ihre Mühen durch einen irrationalen Gefühlsausbruch zunichte gemacht worden.
Für einen kurzen Moment zog sich ihr Inneres beim Gedanken an den Gesichtsausdruck ihrer Mutter zusammen. Ihre Zunge war eine Waffe gewesen, geladen und bereit. Sie hatte triumphiert, als ihre Mutter unter den Schüssen zusammensackte, doch im Nachhinein war ihr klar, dass sie eine Grenze überschritten hatte. Gedanken waren zu Worten geworden. Schmerzhaften Worten, die sie nicht wieder zurücknehmen konnte.
,,Du bist ein schlechter Mensch!"
Aber ihr glühender Zorn verdrängte das Mitleid. Sie hatte bloß die Wahrheit gesagt. Anaïs hatte diese Wahrheit erschaffen.
Heimelig erleuchtete Fenster zogen an ihr vorbei. Es schien, als würden sie Leo verspotten, ihr zurufen: ,,In diesen Häusern sitzen Menschen beisammen, die sich lieben und unterstützen. Etwas, das du nie kennenlernen wirst".
Sie setzte den Blinker und bog schwungvoll von der ,,Franz- Kreutzer- Straße'' auf die Autobahnauffahrt nach Hermbach. Die Hinterreifen verloren für einen kurzen Moment die Bodenhaftung. Der hintere Teil des Wagens brach aus, das Auto kam ins Schlingern. Leo riss das Lenkrad geistesgegenwärtig in die Gegenrichtung. Der Peugeot fing sich kurz bevor er mit der Seite in die Leitplanke krachen konnte; das Profil griff wieder auf Asphalt. Leos Herz schlug ihr bis zum Hals.
Sie stellte sich Jörge vor, wie er in dieser Sekunde in ihrer Eingangshalle auf und ab tigerte.
,,Also in dieser Gemütslage würd ich se nich fahren lassen!", sagte er in ihrer Vorstellung, ,,Das Unfallrisiko! Und Aquaplaning is kein Scherz! Echt nich!"
,,Nein, lass sie gehen!", antwortete ihre Mutter. ,,Warum konnte ich keine normale nette Tochter bekommen, wie andere Mütter auch!"
Sie drückte das Gaspedal bis zur Fußmatte durch. Die Tachonadel stieg zitternd über die 140km/h Marke. Der Motor heulte auf und sie schaltete in den fünften Gang.
Normalerweise hatte Autofahren immer eine beruhigende Wirkung auf sie, denn im Straßenverkehr gab es klare Regeln und ihre Konzentration stellte sich unter dem Risiko, durch Unkonzentriertheit zu sterben, von selbst ein. Aber nicht heute. Sie wollte die Gefahr spüren.
Der Wind versuchte sie aus der Bahn zu drücken, schlug mit riesigen Fäusten gegen die Karosserie. Sie hielt das Lenkrad gerade und versuchte den Straßenverlauf durch die Dunkelheit und den Regen ausfindig zu machen. Sie müsste nur das Lenkrad nach rechts reißen und sie wäre tot ... In ihren Fingern kribbelte es. Würde ihre Mutter weinend an ihrem Grab stehen und ihre Worte bereuen? Oder wäre sie gar erleichtert?
Bevor sie etwas Unüberlegtes tun konnte, tastete sie nach dem Knopf, um das Radio einzuschalten.
,,Ich spür' die Zeit in meiner Hand,
Die niemals stillsteht.
Wie sie leiser durch die Finger rinnt.
Doch das macht mir heute keine Angst, denn ich weiß du bist da,
und nimmst mir meine Sorgen ab."
Leo spürte die Zeilen in jede Faser ihres Körpers, ein Schauer lief ihr über ihren Rücken, als sie sich wie Klingen in ihren Geist bohrten.
,,Ich schau dich einfach an.
Das könnt' ich stundenlang.
Und dabei frag' ich mich:
Wohin willst du, wenn du nicht mehr bei mir sein kannst?
Wohin willst du?
Wie weit gehst du?
Sieben Tage, sieben Nächte lang.
Ich will mit, verstehst du das?"
Sie wandte den Blick kurz von der Straße ab, um die Sängerin über die Infotaste abzurufen. Das Lied hieß ,,Wohin willst du?" von LEA.
Es war wie für sie geschrieben. Die letzte Strophe erfüllte das Auto mit langsamen, durchdringenden Klavieranschlägen.
,,Komm, wir fliegen heute Nacht bis ans Ende dieser Welt ...
Drei Millionen Mal nachgedacht, den Entschluss schon längst gefasst:
Wir müssen hier weg, wir müssen hier weg ...
Wohin willst du?"
Leontien wusste, wohin sie wollte. Es gab nur einen einzigen Menschen, dem sie je etwas bedeutet hatte.
Sie nahm die Ausfahrt nach Hermberg und bremste auf die vorgeschriebenen 60km/h ab.
Das Lied hatte sie beruhigt, ihre selbstzerstörerischen zehn Minuten waren vorbei und alles, was Leontien jetzt noch wollte, war sich unter einer warmen Bettdecke zusammenzu- rollen und so zu tun, als wäre sie jemand anderes.
Mit seinen 98.000 Menschen war Hermberg fast eine Großstadt, hier war der Verkehr drängender und sie wurde mehrfach angehupt. Sie kam an dem Einkaufszentrum vorbei, dessen neonbunte Reklametafeln die Nacht erhellten. Noch vor wenigen Stunden hatte sie mit Noemi hier Geschenke ausgesucht. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Dunkle Vorhänge, Zigarettenrauch und die verfluchte Melodie. Nein, daran wollte sie jetzt unter keinen Umständen denken.
Glücklicherweise war sie schon am Apollonkino, von hier aus führte die ,,Dornbusch-Allee" in ärmere Außenbezirke, in denen sich Plattenbauten und Mehrfamilien- wohnungen aneinanderreihten. Sie parkte wie immer vor dem Spielplatz nahe der Hauptstraße. Von hier waren es noch fünf Minuten zu Fuß.
,Natürlich greife ich mir meinen Herbstmantel statt der Winterjacke', dachte Leo und in ihrer Kehle stieg ein trockenes Lachen auf. Das alles war so traurig, dass es schon wieder witzig war. Es schüttelte sie durch, sie lachte und lachte, bis ihr Bauch schmerzte, ihr Gesicht war zu einer traurig schiefen Grimasse verzogen, aber ihre Augen blieben trocken. Sie hatte seit damals nicht mehr geweint, nicht einmal, wenn niemand sie sehen konnte.
Als das Lachen verebbte, schaute sie in den Rückspiegel. Ihre Haare standen zwar noch immer in alle Richtungen ab, aber ihre Wangen glühten nicht mehr.
Leontien schaltete den Motor aus und nestelte ihr iPhone, zusammen mit den Freundschaftsbändchen, aus der Bauchtasche des Pullovers. Sie öffnete den Chat mit Noemi. Das Licht des Displays erfüllte den Innenraum des Peugots.
,,Streit mit Mom", schrieb sie knapp, ,,Kann ich vorbeikommen? Bin in fünf Minuten da ... Weiß nicht, wo ich sonst hin soll".
Sie wartete einige Momente, doch Noemi war nicht online, sie hatte noch nicht einmal ihre restlichen Nachrichten gelesen. Mit einem leisen Klick verdunkelte sich der Bildschirm und ließ sie allein zurück. Der Regen trommelte immer noch auf das Dach und im Radio war von einem Autounfall durch ein illegales Autorennen die Rede.
Leo schloss für einen kurzen Moment die Augen und dachte an nichts. Dann zog sie den Zündschlüssel und öffnete die Tür.
Obwohl es nur fünf Minuten Fußweg waren, fühlte sich Leontien wie auf einer Expedition durch die Antarktis. Der kalte Regen wurde vom Wind unter ihre Kapuze getragen, ihre Hose war so nass, dass sie an den Beinen klebte und die Straßenlaternen schufen nur kleine Inseln des Lichts zwischen ausgestorbenen Wäschereien, Kiosken und Imbissen, die sonst an jedem Sonn- und Feiertag geöffnet hatten. Aber nicht an Weihnachten.
Zum ersten Mal in ihrem Leben störte es Leo, dass Noemi in einer abgewrackten, armen Gegend wohnte. Sie beschleunigte ihre Schritte. Der Regen hallte laut in ihren Ohren. Er schluckte jedes andere Geräusch. Die Regenwand war bedrohlich, sie verschleierte eine Gefahr, die überall lauern konnte. Dort, in der Spalte zwischen zwei Häusern ... Oder hinter einem geparkten Auto hockend. Der dunkle Mann kam ihr in den Sinn.
Plötzlich drang ein Laut zu ihr durch. Entferntes Klackern. Was war das?
Vielleicht nur eine Aufstellreklame, die im Wind wackelte? Ein roter Wimpel mit Langnese-Logo, der gegen die Fensterscheibe des Kiosk schlug?
Klack, Klack, Klack...
Es wurde lauter. Nein – das war etwas anderes, das waren Schritte! Leo traute sich nicht, den Kopf zu drehen. Wenn ihr Verfolger merkte, dass er gesehen worden war, würde er anfangen zu rennen und dann würde sie die Sicherheit von Noemis Haustür nie erreichen. Der kalte Wind kroch in all ihre Glieder und versuchte sie steif werden zu lassen.
,Mein Schritt muss gleichmäßig wirken. Ich darf ihn nicht wissen lassen, dass ich mich verfolgt fühle. Ganz ruhig. Ganz normal. Gleich bist du da. Du bildest du dir nur wieder etwas ein.'
Klack, klack, klack!, hallte es in immer kürzeren Abständen hinter ihr. Leo suchte mit klammen Fingern nach ihrem Handy. Endlich bekam sie es zu fassen und presste es gegen ihr Ohr.
,,Ja. Ich bin gleich da! Ja, ja, hier in der ,,Eisenach-Straße", genau!"
Aber selbst das gespielte Telefonat schreckte ihren Verfolger nicht ab.
Sie konnte nicht länger so tun, als wäre alles normal. Sie musste sich umdrehen. Vielleicht war er schon hinter ihr, die Geräusche schienen sehr nah und der Regen dämpfte den Widerhall der Hauswände. Vielleicht hatte er eine Waffe. Ein gezacktes scharfes Messer oder eine Pistole. Bei dem schaurigen Gedanken, dass eine Kugel im nächsten Moment ihre Schädeldecke sprengen könnte und das warme Blut ihren Rücken herunterlief, spannte sich ihr Nacken. Leo fing an zu summen, um sich zu beruhigen, bis sie merkte, dass es die Töne zu ,die Zeit läuft ab und bald dein Blut' waren. Pure Panik schoss in ihren Körper, so plötzlich, als hätte jemand mit einer Spritze Adrenalin in ihre Blutbahn injiziert. Ein Blitz erhellte die Nacht, das Donnergrollen folgte keine Sekunde später. Er musste ganz in der Nähe eingeschlagen haben.
,,Hey!"
,Merde! Merde, merde, merde!', dachte Leontien und drehte den Kopf. Im fahlen Licht sah sie eine Person näher kommen. Sie war vielleicht noch eine Länge von zwei Schaufenstern entfernt und näherte sich im Laufschritt.
Aber da war noch jemand. Leos Blick streifte eine Gestalt, die sich aus dem Schein der Laterne in die Finsternis zurückzog, doch diese eine Sekunde hatte ausgereicht.
Die eingefallenen Wangen unter der Kapuze, die dünne schwarze Haut und die ausdruckslosen Augen, die tief in den Höhlen lagen. Es war der Mann, den sie bereits am Vormittag unter der Eiche gesehen hatte. Und nun war er hier, um sie zu holen: Der Tod – sie wusste es einfach. Ihre Rationalität hatte sich schon lange verabschiedet.
Ihre Sohlen lösten sich vom Gehsteig und sie rannte los. Sie spürte, dass sie zu langsam war, er holte sie ein.
,,Renn, renn, renn!", schrie sie sich innerlich an, ,,Du rennst gerade wortwörtlich um dein Leben!"
Aber konnte man dem Tod entfliehen?
,,Hey warte! Fuck!"
Sie musste nur noch über die Kreuzung, dann war sie da! An der Kreuzung wären auch Menschen, die ihr helfen könnten. Aber würden die ihn sehen? ,Egal', dachte sie und ignorierte ihre brennende Lunge und die tränenden Augen.
,,Bleib stehen!"
Noch ein paar Meter. Und da war sie: Die Straße, die wie eine Grenzlinie zwischen ihr und dem rettenden Ufer der anderen Seite lag.
Es war einer dieser Momente, in denen man nur am Rande des Bewusstseins merkt, was geschieht.
Leos Fuß hob vom Bürgersteig ab, er setzte auf der Straße wieder auf, knickte zur Seite weg, ein Schrei entfuhr ihrer Kehle. Nein! Das durfte nicht sein! Sie knallte auf die nasse Fahrbahn, schürfte sich die Handflächen auf. Alles brannte. Sie musste wieder aufstehen, sich aufrappeln, weiter, weiter, weiter!
Eine Frau schaute von ihrem Handy auf. ,,Vorsicht!", schrie sie und ließ es fallen.
Leontien sah ihr Gesicht verzerrt in der aufgewühlten Pfütze unter ihr. Blonde nasse Haare umrahmten ihren Kopf, angestrahlt vom grünen Licht der Ampel. Ihre Hände umklammerten die Freundschaftsbändchen. Sie spürte, wie sich ein Körper von hinten auf sie warf, roch den Geruch von Axe Bodyspray.
Das Letzte, was sie wahrnahm, war die pure Geschwindigkeit von der Seite, quietschende Reifen und die Frontscheinwerfer des Autos, eine Millisekunde neben ihrem Kopf.
Dann der Aufprall, Lichtblitze, Dunkelheit.
Das Auto kam einige Meter weiter mitten auf der Kreuzung zum Stehen. Auch andere Autos, die aus derselben Richtung kamen, stoppten nur knapp dahinter. Die Frau hatte sich die Hand vor Entsetzen vor den Mund geschlagen, sie sah aus wie ,,Der Schrei" von Edvard Munch.
Doch da war kein Schrei in dieser Weihnachtsnacht, da war nur die Stille, das Trommeln des Regens und das Blut von zwei Personen, das sich mit dem kalten Regen vermischte und den Untergrund rot färbte.
Das letzte Sandkorn fiel durch die Einengung des Zeitenglases. Der Tod verstaute es in seiner Manteltasche und verschwand mit dem Einschlag des nächsten Blitzes.
Jetzt ist es geschehen ... Leontien ist tot und das richtige Abenteuer beginnt! Kleine Frage: Hätte ich auch diesmal ein Bild für den Chat einfügen sollen?
Ansonsten freue ich mich immer über Votes und Kommentare❤
▪️2093 Wörter
~Das Buch ist bis hier hin 60 Seiten lang~
Eure Jojo🔮
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