🌸 Kapitel 5 🌸
15.000 Euro und ein zerplatzter Quark
Piep!
Stechende Kopfschmerzen.
Piep!
Trockener Mund.
Piep!
Stickige Luft.
,Fröhliche Weihnachten!', wünschte Leo sich selbst, als sie mit der flachen Hand nach dem Plastikwecker schlug. ,Der Tag startet genauso perfekt, wie der Letzte endete!'
Mit einem beherzten Ruck schwang sie ihre Beine über die Bettkante. Sie war niemand von der Sorte ,noch 30 Sekunden'.
Die Bilder ihres Alptraums schwirrten immer noch wirr durch ihren Kopf: Der rotierende Zeiger, begleitet von der verstörenden Melodie über ihren Tod, der die Apokalypse auslösen solle.
Natürlich war das alles ausgemachter Unsinn, ein einzelner Tod konnte nicht das Schicksal der ganzen Welt in solch drastischen Maße beeinflussen - es sei denn, man war der oberste Kriegsminister und fiel beim Sterben ungünstig auf den Startknopf der Atombombenreserve.
Je länger sie darüber nachdachte, desto lächerlicher kam ihr ihre gestrige Reaktion vor. Es war doch offensichtlich, dass Madame Roswitha, alias verbitterte Hexe, ihr nur einen Schrecken hatte einjagen wollen. Menschen von diesem Schlag kamen eben nicht gut damit klar, wenn jemand sie nicht für voll nahm.
Leontien öffnete die Dachluke über ihrem Bett und lehnte sich auf den Rahmen des Velux-Fensters, um die morgendliche Luft zu inhalieren. Die kühle Brise hatte eine reinigende Wirkung und sofort verschwanden die wahnhaften Gedanken.
Die säuberlich gestutzten Hecken und peinlichst genau bemessenen Beete der angrenzenden Gärten sahen zu dieser Jahreszeit so farblos aus wie die subpolare Tundra. Der graue Himmel versprach Regen. Sie fröstelte. Quelle tristesse.
Leo versuchte sich an die letzte weiße Weihnacht zu erinnern, es war eine Ewigkeit her. Sie musste um die zehn Jahre alt gewesen sein. Das Gesicht Josephs blitzte auf, er stand in seinem schwarzen Wintermantel neben ihr. Sie hatte ihre pinken Fäustlinge an, die Anaïs immer als ,'äslische Dinger' bezeichnete. Zusammen schauten sie auf den zugefrorenen Rabensee, dessen Eisfläche in der Sonne perlmuttfarben schimmerte. Es war still. Es war friedlich. Heute würde er sie anrufen.
,,Na? Suchste das Christkind?"
Die Stimme von Herrn Kleinegge zerschnitt die kalte Luft und riss sie aus der intimen Erinnerung.
Er war gerade dabei ein albernes Plastikrentier in seinen Garten zu stellen. In der Nachbarschaft war im letzten Monat ein regelrechter Wettkampf darum entstanden, wer den Passanten am besten die Augen ausbrennen konnte. Herr Kleinegge hatte nicht vor, diesen Titel an seine Mitstreiter abzutreten. Mit seinen kleinen Schweinsäuglein blinzelte er zu ihr herauf, ein arroganter Zug lag in seinem Lächeln, einem reichen Steuerberater angemessen. Der Sportwagen reichte wohl nicht mehr zur Kompensation, ein 200-Watt-LED-Rentier musste her.
,,Nee, ich schaue mir bloß die schönen Cumulonimbuswolken an. Heute Abend sollen ja Windstärken von bis zu 40 Knoten auftreten. Vielleicht lernt ihr Rudolf ja dann fliegen!", antwortete Leo und schloss das Fenster.
,Das wird Herrn Kleinegge oder besser gesagt ,Herrn Kleingeist', noch lange beschäftigen', dachte Leo voller Genugtuung.
Den Vormittag packte Leo sorgfältig die Geschenke ein: Sie passte akribisch darauf auf, dass die Pfalz gerade und flach war, so dass die Päckchen aussahen, wie aus einem Werbespot für Toys 'R Us. Mit ihrer Kalligraphiefeder und goldener Tusche schrieb sie die Namen auf das rote Geschenkpapier und garnierte alles schließlich noch mit Geschenkband, das sie mit einer Schere kräuselte.
Basteln war neben Klavierspielen und Kochen eines ihrer liebsten Hobbys: Sie konnte sich stundenlang in Origamitechniken, Zeichnungen, Sudokuheftchen und Kreuzworträtsel vertiefen, ohne, dass ihr langweilig wurde. In diesen Momenten war sie ganz bei sich selbst und die Welt kam ihr ein kleines Stückchen umgänglicher vor. Sie wusste, sie musste nur der Anleitung folgen und man erhielt das gewünschte Ergebnis, war es nun ein Papierdrache, ein Linsencurry oder ein ausgefülltes Wortgitter. Wenn menschliche Interaktionen genauso einfach wären, hätte sie bestimmt längst eine richtige Clique, mit der man im Sommer mit den Fahrrädern zu einem Badesee fuhr oder Filmabende veranstaltete, mit Snacks und Trinkspielen. Nicht, dass sie so etwas je gewollt hätte.
Bei dem Wort Clique fiel ihr sofort wieder Jasper ein. Wegen ihrer gestrigen Übersprungshandlung hatte sie ihm kein Geschenk mehr besorgt.
,,Mal sehen ...", murmelte Leontien, ,,Irgendwas muss ich ja noch haben ..."
Sie stand vom Schreibtisch auf und lief an der Badezimmertür vorbei zu ihrem Kleiderschrank, der die ganze rechte Hälfte der Daube einnahm. Auf dem obersten Regalbrett hatte sie ein Notfall-Geschenke-Reservoir eingerichtet, gespeist aus ungewollten Geschenken, die sie selbst bekommen hatte. Leontien stelle sich auf ihren Schreibtischstuhl und tastete im Fach herum: Da war die nach Flieder duftende Handlotion, die ihre Oma ihr per Post aus Frankreich zugeschickt hatte, ein Buch über Intervallfasten von Anaïs, verschiedene Parfums und eine gefilzte Handyhülle von Noemi.
Sie entschied sich letztendlich für eine gelbe Schachtel, auf der in fetter Kursivschrift ,,das große Allgemeinwissen Quiz" stand.
Sie war sich zwar ziemlich sicher, dass es nicht auf Jaspers Wunschliste stand, aber am liebsten hätte sie ihm auch nichts weiter als einen verachtenden Blick geschenkt.
Gegen ein Uhr drangen die ersten Geräusche von unten zu ihr herauf. Die Neumanns waren da. Kaum fünf Minuten später klopfte es wild an ihre Tür.
,,Leo, Leo, Leo, Leo, Leo!", plärrte einer ihrer Brüder gleich einer Polizeisirene. Es musste Jan sein, Lukas war der Ruhigere der beiden Zwillinge.
,,Was ist!?"
,,Mama sagt, du sollst runter kommen und hallo sagen! Außerdem sollst du in der Küche helfen!", ertönte nun die Stimme des anderen Zwillings. Die beiden wirkten reichlich aufgekratzt.
,,Jörge hat Plätzchen mitgebracht und wir dekorieren gleich den Baum!"
,,Und Jasper hat uns erlaubt auf seinem Handy Stickman zu spielen!"
Als Leo keine Reaktion zeigte, hämmerten sie weiter auf die Tür ein, sie legten eine bühnenreife Percussion Session hin, bis Leontien den Riegel, der ungewollten Besuch fernhielt, zurückschob und die beiden Störenfriede in ihr Zimmer stolperten. Nur kleine Brüder schafften es, einen in so kurzer Zeit aus dem Zustand tiefster innerlicher Ruhe in einen Zustand rasender Genervtheit zu versetzten.
Jan Lukas und Lukas Jan trugen beide ihr ,Weihnachts-Outfit' bestehend aus Bundfaltenhose und pinkfarbenem Polo-Hemd von Ralph Lauren. Mit den gegeelten blonden Haaren und ihren blauen Augen sahen sie aus, wie Miniaturversionen ihres Vaters. Der Doppelname war Josephs Art von trockenem Humor, den Leo geerbt zu haben schien.
Lukas schaute sie skeptisch an: ,,Mama wird es nicht so toll finden, dass du deinen alten Hoodie von der Skifreizeit trägst ..."
,,Genau aus diesem Grund trage ich ihn! Und jetzt raus aus meinem Zimmer, bevor euer Kindergeruch alles verpestet!"
,,Wir sind keine Kinder mehr! Mit Zwölf kann man schon in die Pubertät kommen!"
,,Ja, das hat uns Frau Sonnenschein selbst gesagt!", beteuerte Jan.
Leo musste grinsen. Ihre Brüder waren zwar nervig, aber wenigstens nicht blöd und mindestens genauso stur wie sie. Ihre Wut sollte sich lieber auf ihre Mutter und deren Liebhaber richten. Sie zählte innerlich bis drei, dann sagte sie entschlossen: ,,Dann lasst uns mal nach unten gehen!"
♤♤♤♤♤
Das Haus war bis in den letzten Winkel dekoriert, Anaïs hatte schon früh angefangen, alles saisonal einzurichten. Beim Herabgehen konnte Leo nicht das Geländer anfassen, weil sich eine Tannengirlande darum schlang, auf der Kommode in der zweiten Etage stand eine Dekoschale voller silberner Kugeln und daneben dekorative Holzbuchstaben, die das Wort ,,Advent" bildeten. Im Erdgeschoss brauchte man gar nicht erst mit der Aufzählung anzufangen.
Leo straffte ihre Schultern; vor ihr stürmten Lukas und Jan ins Wohnzimmer. Sie schaute schnell in den Spiegel im Hausflur: Ihre Haare sahen nicht besonders frisiert aus, aber ihre grünen Augen und die bronzene Haut sorgten dafür, dass sie auch ohne Make-Up gut aussah. Sagte jedenfalls Noemi. Sie zwinkerte sich zu. ,Tu n'es pas que tes sentiments! Du bist nicht deine Gefühle!'
Beim Betreten des Zimmers drehte sich Jörge, der vor der Tanne stand und die Lichterkette anbrachte, zu ihr um und ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Was Anaïs an dem finden konnte, war Leo schleierhaft. Schöne blaue Augen und weiße Zähne hatte er ja, aber das half nichts, wenn man dank vieler Stunden auf der Sonnenbank die Hautfarbe eines Grillhähnchens angenommen hatte und auf dem Kopf genauso gerupft aussah.
,,Auch schon aus den Federn?", fragte er - thematisch passend zu ihren Gedanken.
,,Ich bin schon seit neun Uhr wach", entgegnete Leo.
,,Ja ähhm, also Anaïs hat mir erzählt, dass du dich jedes Jahr ums Essen kümmerst, nich?"
,,Ja."
Eine glatte Untertreibung - jedes Jahr! Eigentlich kümmerte sie sich immer um das Essen, wenn die Haushälterin nicht da war. Anaïs selbst ernährte sich von drei Tomaten und einem fettarmen Joghurt täglich und war so gut wie nie zu Hause. Man fand sie auf der nächsten Fashionshow, bei einem Interview über ihre Herbst-Collection oder auf schicken Feiern.
,,Das find ich ja klasse, also wirklich klasse find ich das!" Jörge klopfte Leontien kumpelhaft auf die Schulter.
Sie musste sich wirklich zusammennehmen. Schon allein die Art, wie er redete, war eine Belastungsprobe sondergleichen.
,,Ne kleine Kochmaus also! Nee echt klasse! Da könnte sich Jasper mal ne Scheibe von abschneiden, nich?"
Der Gemeinte hatte sich auf die beige L-Couch gepfläzt, als gehöre das Haus ihm. Sein rechtes Bein war ausgestreckt, sein Sneaker ruhte auf dem Glastischchen vor ihm und in seiner Hand hielt er sein iPhone. Jan und Lukas saßen wie hypnotisiert neben ihm und schauten auf das hellerleuchtete Display. Jasper hatte nicht einmal aufgeschaut, als Leo das Zimmer betreten hatte. Jetzt hob sich sein Blick und für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich ihre Augen. Leo fühlte sich unwohl.
,,Ich kann kochen!", sagte er arrogant, bevor er sich wieder dem Handy zuwendete.
,,Leontien! Kommst du jetzt?", rief ihre Mutter aus der Küche und sie war noch nie so glücklich über einen ihrer Befehle gewesen.
Die Anspannung in diesem Raum war kaum auszuhalten.
Konnte Jörge sich nicht einfach um seine Angelegenheiten kümmern und den Mund halten? Und Jasper bestätigte den ersten Eindruck, den sie von ihm hatte: Er war genauso, wie die Jungs aus ihrer Stufe. Arrogant, selbstsicher, rücksichtslos und dumm.
Sie schenkte ihrem Stiefvater ein gezwungenes Lächeln und wollte gerade in Richtung Küche flüchten, da sagte Jörge plötzlich: ,,Ach ja? Du kannst also kochen, Sohnemann? Also in dem Fall, da kannste ja dann auch der, ähhh, der lieben Leo zur Hand gehen, nich?"
,,Ach, das kann die schon ganz gut alleine, oder?", antwortete er und zwinkerte Leo künstlich zu, dabei schnalzte er mit der Zunge.
Ausnahmsweise war Leo derselben Meinung.
,,Ja, wie gesagt, ich mache das jedes Jahr. Außerdem weiß er ja nicht, wie man den Thermomix oder andere Geräte in unserer Küche bedient."
,Dafür musste man bekanntermaßen einen IQ über 80 aufweisen.'
,,Waru'm zeigst du es ihm denn dann nischt, Spatz?", flötete Anaïs, die in einem grauen Etuikleid ins Zimmer geschwebt kam. Wenn sie in der Nähe von Jörge war, erkannte man sie kaum wieder. Sie lächelte durchgehend und tadelte auch nicht jede von Leontiens Bewegungen oder Bemerkungen. Trotz ihrer scheinbaren Zugänglichkeit, lauerte in ihren Mundwinkeln ein harter Zug. Sie war ein Drache im Winterschlaf, den man nicht wecken sollte. Leo biss die Zähne zusammen.
,Ein- und ausatmen. Tu es forte.'
Sie war stark.
,,Klar. Dann komm mal mit in die Küche!"
Jasper warf seinem Vater im Aufstehen einen bitterbösen Blick zu. Leo hörte ihn ,,Nicht deren fucking Ernst!" murmeln und schaute zu ihrer Mutter, aber Anaïs überhörte den Kommentar geflissentlich, auch, wenn das Grinsen in ihrem operierten Gesicht noch eine Spur aufgesetzter wirkte.
♤♤♤♤♤
Sie waren nun alleine in der Küche. Aus dem Wohnzimmer schallte das unvermeidbare ,,I don't want a lot for christmas" und Leontiens Laune war so grau wie der Himmel vor den Fenstern.
Jasper lehnte am Kühlschrank und trommelte mit den Händen eine Melodie auf seinen Oberschenkeln. Seine Locken fielen ihm in die Stirn und er grinste sie frech an.
,,Ich hab eine super Idee: Du kochst, machst dein Ding. Ich setz mich derweil auf diesen Stuhl da drüben und spiele Clash of Clans."
Leo grinste ihn genauso frech zurück an, auch wenn ihr Körper innerlich zitterte. ,,Das kannst du vergessen!"
Mit einer schnellen Bewegung warf sie ihm eine Möhre zu, die er reflexartig auffing. Sein süffisantes Grinsen war verschwunden.
Die nächsten Minuten schnitten sie in kompletter Stille Möhren, Zucchinis und Auberginen. Die Luft war so dick, dass Leontien das Gefühl hatte, durch engmaschigen Stoff zu atmen.
Auch vor dem Fenster wurde es zunehmend ungemütlicher. Die Zweige der Eiche schüttelten sich unter den Windböen und die Wolkendecke war undurchdringlich und dunkel. Die einzigen Sätze, die zwischen ihr und Jasper fielen, waren ein gereiztes ,,Kannst du mir bitte nicht so auf die Finger schauen?" von Jasper, gefolgt von Leos Antwort: ,,Wieso? Mache ich dich etwa nervös?"
,,Nein", sagte Jasper betont ruhig und schloss dabei die Augen, ,,Ich brauche einfach meine Ruhe beim Schneiden!"
Er holte seine Kopfhörer aus der Bauchtasche seines schwarzen Kapuzenpullovers und steckte sie sich demonstrativ in die Ohren.
,Dieses Spiel können wir ruhig weiterspielen!', dachte Leo und mixte die Datteln für das Schichtdessert auf maximaler Stufe. Es war ein ohrenbetäubender Lärm. Jasper schnitt stoisch weiter, doch das Zucken seiner Augenbraue entging ihr nicht. Dann plötzlich: Etwas Unerwartetes: Er drehte sich zu ihr und nahm seinen rechten Kopfhörer aus dem Ohr, um etwas zu sagen. Leo schaltete den Mixer aus.
,,Was ist?"
,,Ey, dein Vater ruft an!!"
Leo ließ sofort alles liegen und stieß Jasper zur Seite, um ihr Handy von der Ablagefläche des Küchenschrankes zu nehmen. Unter dem grünen Hörer stand ,,Erzeuger". Da war er: Der jährliche Anruf. Es wäre ein Lüge gewesen, wenn Leontien behauptet hätte, dass sie sich nicht insgeheim über jeden seiner Anrufe freute. Vielleicht hatte er ihr ja den neuen Aquarellkasten gekauft, den sie sich schon so lange wünschte. Aber gleichzeitig hasste sie ihn auch dafür, dass er ihrer Mutter das Sorgerecht überlassen hatte. Dass er nur an Weihnachten und ihrem Geburtstag anrief und sie sich nur zu ganz besonderen Anlässen sahen.
,,Hallo, hier Leontien Schneider", sagte sie so professionell wie möglich, während sie in die Vorratskammer floh, um weder bei Jörge und Anaïs, noch bei Jasper, dem Schnösel, sein zu müssen.
,,Hohoho! Hier ist der Weihnachtsmann! Ich bin zu fett für den Kamin geworden, deswegen bin ich auf HomeOffice umgestiegen. Waren Sie denn auch brav, Frau Schneider?"
,,Lass doch den Unsinn, Joseph! Ich bin keine dreizehn mehr, auch wenn dir das vielleicht so vorkommt!"
,Zu dem Zeitpunkt hast du uns nämlich verlassen.'
,,Uiuuiui, welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen? Ich erkenne meine Tochter ja gar nicht wieder! Ist es der ganz normale Feriertagswahnsinn oder irgendwas anderes?"
Leontien überlegte kurz, ob sie es ihm sagen sollte.
,,Ich... Also, es ist einfach merkwürdig. Anaïs hat einen neuen Freund und jetzt feiern wir zusammen. Es kommt mir einfach vor, als würde alles auseinanderfallen. Es ist fast wie damals, als..."
,,Ja, das Thema hatten wir ja schon", fiel ihr Joseph ins Wort, ,,Aber heute wird kein Trübsal geblasen! Ich habe nämlich ein ganz besonders Geschenk für dich! Ich wollte dir sowieso schon längst sagen, wie stolz ich auf dich bin: Die beste Mathearbeit und eine Eins Plus in deiner Facharbeit über die menschliche Wahrnehmung! Gratulation!"
Leo lächelte und spielte mit den Fingern an der Kordel des Rollos, das das Fenster des Vorratsraums verdunkelte.
,,Danke", brachte sie heraus.
Hatte er ihr wirklich einmal zugehört und sich Gedanken gemacht? Würde sie den Aquarellkasten mit über 30 Farben bekommen? Sie hatte sich schon ausgemalt, wie sie mit der wässrigen Farbe zarte blaue Veilchen auf das Papier zaubern würde. War dieser Tag doch noch zu retten? Freude und Hoffnung blähten ihren Brustkorb zu doppelter Größe auf.
,,Ich habe dir 15.000 Euro für dein Studium überwiesen. Dann kannst du Ärztin werden! Vielleicht kann ich dir sogar ein Praktikum in meiner Klinik organisieren! Wie klingt das?"
Die ganze Freude fiel mit einem Schlag zusammen, wie ein Kartenhaus, umgefegt von einem Windzug. Natürlich. Wie dumm konnte sie nur sein, zu glauben, dass er sich geändert hatte. Das sich irgendwas geändert hätte.
,,Das ist großartig. Danke", würgte sie hervor.
An der anderen Seite der Leitung erklang eine Frauenstimme.
,,Ich muss jetzt auflegen! Und zieh keinen Flunsch, sondern mach das beste aus dem Tag! Es ist schließlich nicht jeden Tag Weihnachten. Bis bald mal!"
,,Ja. Tschüss", sagte Leo, aber Joseph hatte schon aufgelegt.
Als sie aus der Kammer kam, sah Jasper sie unverhohlen an. Sie konnte seine Miene nicht deuten.
,,Und? Hat Daddy dir ne Menge Weihnachtsgeld überwiesen?"
Leo ignorierte den Seitenhieb.
,Die Klügere gibt nach.'
Trotzdem hatte er mit traumwandlerischer Sicherheit ihre wunde Stelle getroffen. In ihrem Inneren brodelte es.
,,Gib mir mal den Quark für das Schichtdessert", sagte Leo.
,,Wie heißt das Zauberwort?"
,,Gib mir jetzt den vermaledeiten Quark oder ich schwöre bei Gott, dass du diese Küche mit einem Auge weniger verlassen wirst!"
Jasper zog die Augenbrauen hoch, ein Lächeln lag auf seinen schmalen Lippen.
,,Vermaledeit also! Du vergisst, dass ich Besitzer des braunen Judo-Gürtels bin. Bevor du auch nur in die Nähe meiner Augen kommen würdest, hätte ich dich schon mit einem gezielten O-soto-gari zu Boden gebracht!"
Leo verlor die Geduld. Ganz betont langsam und mit lichtgrün funkelnden Augen sagte sie:
,,Du gibst mir jetzt den Quark!"
Jasper bewegte sich nicht von der Stelle. Vor Wut zitternd ging Leontien auf ihn zu, um nach dem Paket zu greifen, im selben Moment hatte er sich auch dazu entschlossen, es ihr zu geben. Ihre Finger berührten sich. Draußen vor dem Fenster blitzte es, erleuchtete für einen Sekundenbruchteil die ganze Küche mit gleißendem Licht. Leo zog in Windeseile die Hand zurück. Der Quark fiel zu Boden. Es spritze, überall waren weiße Kleckse.
,,Fuck, pass doch auf, ey! Der Hoodie ist von Nike!"
,,Das wars. Ich mache den Rest alleine", sagte Leo und es war nur ihre Rationalität, die sie dazu brachte, ihm nicht in sein verdammtes, pickelfreies Gesicht zu schlagen. Im Rausgehen raunte er ihr ,,Psychopathin" zu.
Nun stand sie dort, inmitten des weißen Quarkmassakers. Ein kalter Wind wehte über ihren Nacken. Sie drehte sich ruckartig zum Fenster um. War es etwa offen? Als sie nach draußen blickte, formte sich ein Schrei in ihrer Kehle.
Unter der alten Eiche, die in der Mitte des Schotterplatzes vor ihrem Haus wuchs, stand ein dunkelhäutiger Mann in einem Umhang. Die Kapuze hing ihm tief ins Gesicht, sodass man es nur aus einem Schatten heraus erahnen konnte. Seine Finger waren knochenähnlich abgemagert. In ihnen hielt er einen länglichen Gegenstand in der Größe eines Stifts. Eine Sanduhr? Leontien blinzelte, doch als sie erneut durch die Scheibe sah, war er verschwunden.
Donner grollte.
Ich weiß, dass dieses Kapitel ziemlich lang ist😅 Ich hoffe, ihr habt euch nicht gelangweilt (es war ja auch nicht so viel Action - ich verspreche dafür aber, dass es sehr viel Spannung und Gänsehaut in Kapitel 6 und 7 geben wird!)
◾3029 Wörter
Lasst doch gerne Sternchen oder Kommentare da, wenn es euch gefallen hat☺️
Eure Jojo🔮
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