🌸 Kapitel 16 🌸

Jaspers Himmelfahrt

Jasper wusste selbst nicht genau, wie er es geschafft hatte, die Aufmerksamkeit der Gardisten zu unterwandern und das Totengericht ohne weitere Vorkommnisse zu durchlaufen. Hatte er Karteus mit seinem Würgegriff wirklich für so lange Zeit ausgeschaltet? Andererseits war es schwer, einzuschätzen, wie lange der Gerichtsprozess gedauert hatte. Vermutlich nur wenige Minuten, doch Jasper hatte in ihnen sein ganzes Leben noch einmal durchlebt. Man hatte ihn in der Mitte einer gigantischen Marmorhalle auf einen Stuhl gesetzt, der in das Holz einer Pappel geschnitzt worden war. Die Zweige des Baumes hatten sich um seine Arme und seinen Körper geschlungen wie Fesseln. Anders als erwartet, hatte ihm niemand Fragen gestellt, stattdessen wurde sein ganzes Leben im Schnelldurchlauf und für alle sichtbar auf einem Monitor ausgestrahlt. Jeder hatte den schrecklichen Moment, in dem er tatenlos neben seiner Mutter gestanden hatte, mitverfolgen können. Anschließend hatte ein ganzes Arsenal von Richtern, die auf Tribünen vor ihm und zu seinen Seiten saßen, darüber abgestimmt, ob er es verdient hatte, in den Himmel zu kommen, oder ob er seine restliche Existenz als Verdammter in der Unterwelt fristen müsse. Die Entscheidung war trotz einiger Einwände eines besonders hartnäckigen Bürokraten zugunsten des Himmels ausgefallen. Zeitgleich mit dem Urteil des obersten Totengottes wurde er aus der Halle geführt. Nun wartete er in einer weißen Leere auf seinen Guide.

Man hatte ihm gesagt, dass dieser Guide ihn in den Himmel begleiten und ihm dort alles Nötige erklären würde. Schön, toll, wunderbar! Aber konnte dieser allwissende Guide eventuell noch auftauchen, bevor Karteus seine angedrohte Rache einforderte? Wäre wirklich reizend. Außerdem hatte Jasper Durst und war müde. Mit genervtem Blick wollte er auf die Uhr an seinem Handgelenk schauen, eine alte Angewohnheit, aber natürlich war da nichts. ,Stimmt. Die haben sie mir ja abgenommen. Genauso wie mein Handy. Und meinen Lebenswillen wollten sie auch! Was kommt wohl als Nächstes: Meine Nase? Meine inneren Organe? Oder doch lieber meine Würde?' Verdriesslich verzog er den Mund und breitete seine Arme vor dem hellen Horizont aus. ,,Ja ja, kommt ruhig! Nehmt euch was ihr wollt, ich bin gerne eure menschliche Self-Service Station, nur keine falsche Scheu!"

,,Wie bitte?"

Jasper zuckte zusammen und drehte sich um. Aus der weißen Umgebung schälte sich ein Mädchen; geschätztes Alter 23, geschätzte Größe 1,65 Meter, Brille, zerzaustes blondes Haar, blaue Weste, blaues Hemd, graue Bügelhose. Sie kam auf ihn zugeeilt, ihre Stirn war schweißnass und unter ihren Achseln hatten sich kleine Flecken gebildet. Ihr hektischer Gang erinnerte Jasper an schlechte Comedyshows wie Mister Bean oder Stummfilme mit Dick und Doof. Lag es an der Erleichterung, den Fängen des Einstiegshelfers entflohen zu sein, oder an der Absurdität der Szene? Jasper wusste es nicht. Aber sein Verdruss schlug innerhalb von Sekunden in Belustigung um. Er konnte sein Lachen nicht mehr zurückhalten, es brach aus ihm heraus wie Lava aus einem Vulkan.

Die junge Frau war inzwischen bei ihm angekommen, stützte die Hände auf die Knie und wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn. ,,Tut ... mir ... leid ...", japste sie und richtete sich wieder auf. Als sie bemerkte, wie sich Jasper vor Lachen wie ein Wurm am Haken krümmte, schlich sich ein gekränkter Ausdruck in ihr Gesicht.

,,Mi-Mir tut's auch leid!", keuchte er, bevor die nächste Lacheruption sein Zwerchfell zusammenzog.

,,Sehe ich denn wirklich so lächerlich aus?", fragte das Mädchen mit sich langsam normalisierendem Atem und sah an sich herunter. Sie schien nun ihr ganzes Outfit zu hinterfragen und nestelte unsicher an dem silbernen Dreieck herum, das die Brusttasche ihrer blauen Uniformjacke zierte.

,,Nein, wenn du stehst, geht es!", presste Jasper hervor.

,,Was soll das denn heißen?"

,,Na ja, du bist so komisch gerannt", er biss sich auf die Innenseite seiner Wange und wischte sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel. Jetzt, da er die Blondine zum ersten Mal scharf sah, musste er sich eingestehen, dass sie auch genau das war: scharf. Besonders, wenn sie so empört zu ihm hochschaute. ,Eine solide Acht auf der Hotness-Skala', dachte er anerkennend.

,,Also hör mal! Ich renne wie ein normaler Mensch. Mit meinen zwei Beinen!"

,,Nein, du watschelst ... wie ... eine behinderte Ente!"

Sein Lachen brach sich wieder freie Bahn. Dem Mädchen wurde es nun langsam zu bunt und sie versuchte, Autorität auszustrahlen: ,,Dürfte ich erfahren, wer es sich erlaubt, mir so unverfroren ins Gesicht zu lachen?"

Dieser Satz reichte aus, um Jasper schlagartig wieder ernst werden zu lassen. Kurzer Bestandscheck: Er war tot, Leontien hatte ihn zurückgelassen und es konnte sein, dass ein wildgewordener Einstiegshelfer jeden Moment zu ihnen stieß. Nicht gerade der richtige Zeitpunkt für Albernheiten. Die Blondine deutete sein Schweigen als Erfolgserlebnis und wartete mit hochgezogenen Brauen auf seine Antwort.

,,Jasper Neumann", erbarmte er sich und streckte ihr die Hand entgegen. Doch in diesem Moment erstarrte das Mädchen, schaute an ihm vorbei und ihre Augen wurden so groß wie Untertassen. ,,Nein!", murmelte sie. ,,Nein, nein, nein bitte nicht!" Jaspers Puls war sofort wieder auf 180 und er fuhr wie ein gehetzter Hund herum, nur um auf einen endlosen Horizont zu blicken. Kein Karteus – nur weiße Leere. ,,Er bringt mich um! Ich bin so was von geliefert ...", redete der Guide unterdessen weiter vor sich hin. Als Jasper sich ihr wieder zuwandte, war sie damit beschäftigt, hastig durch verschiedene Anzeigen ihres Adiums zu wischen. Mit skeptischer Miene verschränkte Jasper seine Hände hinter dem Rücken und stellte sich hinter sie. ,,Wer bringt dich um? Ich dachte, man kann im Jenseits nicht sterben?" Die Blondine antwortete nicht, sondern blätterte weiter wie von einer Tarantel gestochen in den blauen, halb durchsichtigen Akten, die in der weißen Einöde noch schärfer umrissen waren. ,Danke für die Antwort! Kompetenz sieht anders aus', dachte Jasper und runzelte die Stirn.

Dann stieß sie einen spitzen Freudenschrei aus, der Jasper erneut zusammenzucken ließ: ,,Oh Gott, sei Dank! Da ist es ja. Ich dachte schon, ich hätte es im Guidance-Ausbildungscenter liegen lassen!" Genervt schloss Jasper die Augen. Als er sie wieder öffnete, hielt die junge Frau ihm ein schmales Metallband entgegen. Nervös schob sie sich ihre Brille auf den Nasenrücken und lächelte ihn verschämt an. ,,Dein eigenes Adiumentum. Bekommt jeder, der in den Himmel auffährt. Ist ab sofort sowas wie dein Ausweis und dein Handy gleichzeitig", erklärte sie und lachte verunsichert. ,,Nicht verlieren!"

Jasper nahm es schweigend entgegen und legte es an. Das war ja wohl das Mindeste, nachdem sie ihm Gegenstände im Wert von einem Gebrauchtwagen abgenommen hatten. Das Adium zog sich um sein gebräuntes Handgelenk zusammen und gab ein ,,Besitzer erkannt: Jasper Neumann. Bereit für die Standardeinstellungen" von sich.

,,Das kannst du später machen, bevor du in den Extractor gehst", sagte die Blondine und rieb sich den Nacken. ,,Übrigens sorry für die Verspätung! Und für die kurze Panikattacke. Du musst wissen, das ist heute mein erster richtiger Einsatz! Also ich war natürlich schon oft dabei, wenn Neutote vom ihrem Guide in den Himmel gebracht wurden, aber da musste ich ja nur zuschauen, und ich bin in der Theorie eh besser als in der Praxis. Und wenn ich jetzt auch noch dein Adium vergessen hätte, an meinem ersten Tag im Außendienst, da hätte mein Chef mir im wahrsten Sinn des Wortes die Hölle heiß gemacht ...", sie schnappte nach Luft, ,,Ich heiße übrigens Claire! Claire Gregory. Wurde in England geboren, bin vor etwas mehr als 22 Jahren gestorben und freue mich, dass du mein erster ,,Kunde" bist, Jenkins!"

,,Nicht Jenkins, Jasper!", korrigierte Jasper und seufzte leise auf. ,Sie ist nicht nur inkompetent, nein, sie ist auch noch verbal-inkontinent!', dachte er, ,Der absolute Wahnsinn! Es war so klar, dass ich einen Azubi als Guide bekomme. Aber wenigstens ist sie heiß ...' Er entschloss sich, das Beste aus der Situation zu machen. Also setzte er ein verschmitztes Grinsen auf, das seine spitzen Eckzähne betonte, und fragte neckend: ,,Oh, ich bin dein Erster? Was für eine Ehre!"

Claire schien die Anzüglichkeit seiner Worte nicht zu bemerken. ,,Wie lieb von dir!", sagte sie und drehte nervös an einem ihrer Erdbeer-Ohrstecker herum. Eine leichte Röte schlich sich auf ihre Wangen.

,,Ich hoffe, du bist nicht aufgeregt! Das erste Mal ist schließlich immer etwas ganz Besonderes!", flirtete Jasper weiter. Seine braunen Augen funkelten belustigt. Was für ein naives Dummchen. Sie erinnerte ihn an Penny aus ,,The Big Bang Theory", und es war kein Geheimnis, dass er von der Siebten bis zur Neunten auf sie gestanden hatte.

,,Ja, klar bin ich aufgeregt!", antwortete Claire, drückte sich die Brille auf die Nasenwurzel und wandte sich dann plötzlich wieder der Projektion zu. Mit konzentriert zusammengekniffenen Augen studierte sie eine Angabe am unteren Rand des Menüs. ,,Gleich müsste schon der Fahrstuhl ankommen!", sagte sie und ließ daraufhin die Projektion mit einem schnellen Wischen ihrer Hand verschwinden.

Gern hätte Jasper das inhaltsleere Gespräch über erste Male noch vertieft, aber seine Neugier siegte. ,,Ein Fahrstuhl? Um in den Himmel zu fahren, oder was? Ich dachte, hier regelt ihr alles mit diesen ... Portalen?", fragte er.

,,Das mit dem Fahrstuhl ist wohl eher eine Frage der Atmosphäre. Es wirkt halt feierlicher", antwortete Claire genau in dem Moment, in dem ein Ping hinter ihnen ertönte. ,,Ah, da ist er ja!"

Jasper folgte ihrem Blick und sah sich einem Aufzug gegenüber, der ihm seltsam bekannt vorkam. Goldene Stäbe bildeten ein Gitter aus Karos, die Kabine war holzvertäfelt und schummrig ausgeleuchtet. Über ihr befand sich eine altmodische Anzeige: Ein Halbkreis mit den Ziffern Null bis Vier und ein metallener Zeiger, der auf die Eins deutete. Das war genau der Aufzug, in dem sich Harry und Ron, getarnt als Angestellte des Ministeriums für Magie im letzten Teil der Harry Potter Saga, getroffen hatten. Sein Lieblingsfilm wohlgemerkt. Mit einem Katsching schnellte das Gitter nach rechts. Claire stieg unbeirrt in den Innenraum. ,,Ich sehe du bist ein Harry Potter Fan", sagte sie und drückte auf den zweiten Knopf von oben. ,,Das erste Buch ist in meinem Todesjahr erschienen, 1997! Lustiger Zufall, oder? Komm rein, meine DBZ ist nach der Verspätung eh schon im Keller."

Jasper betrat verwirrt die Kabine. Sofort schloss sich das Gitter und der Aufzug schoss ohne Vorwarnung in die Höhe. Er konnte sich gerade noch mit der linken Hand an einem von der Decke baumelnden Haltegriff festhalten.

,,Du fragst dich jetzt sicher, warum der Fahrstuhl so aussieht, wie er aussieht", fuhr Claire fort, während Jasper sich mit der Hand an der Holzwand abstützte, um nicht umzukippen. ,,Das hat was mit dem Charakter desjenigen zu tun, der mit ihm auffährt. Die über 30-jährigen sehen meist nur den stinklangweiligen Aufzug ihrer Arbeitsstelle, des Hauses, in dem sie wohnen, oder eines Hotels, in dem sie ihre Winterferien verbringen. Aber solche Modelle wie das hier sind auch relativ beliebt. Ich find's immer am Besten, wenn jemand den gläsernen Fahrstuhl aus ,,Charlie und die Schokoladenfabrik" bekommt. Du weißt schon. Der, der fliegen kann!"

Jasper konnte nur konsterniert nicken. Sein Blick fiel auf das Tableau des Aufzugs, auf dem sich fünf Knöpfe befanden. Unter dem Untersten stand in geschwungenen Lettern
,,0 – Hölle", darüber ,,1 – Empfangs- bereich", gefolgt von ,,2 – Abteilung für Neue Lebewesen (NL)". Dahin hätte Karteus seinen Lebenswillen schicken wollen. Darüber befand sich schon der Himmel, Etage Drei.

,,Ähm ... Claire?", fragte Jasper, ,,Wieso ist der fünfte Knopf nicht beschriftet?"

Claire schaute ihn verständnislos an. ,,Wie?"

,,Ja, da ...", er deutete auf den obersten Knopf, Etage Vier.

,,Ach das. Ja, keine Ahnung, wohin der führt ... Manche sagen, dass es dort zum Schöpfer persönlich geht, aber das ist Schwachsinn. In nomine dominis hat das bei einer Live-Übertragung vor ein paar Jahren selbst bestätigt. Er hat außerdem unter Höchststrafe verboten, dass jemand außer ihm Etage Vier betritt."

,,In nomine – wie bitte?"

,,Ach, tut mir leid, das kannst du ja noch gar nicht wissen! Metatron wird auch in nomine domini genannt, was soviel wie ,,im Namen des Herrn" heißt. Er ist der Einzige, der in direktem Kontakt zu Gott steht. Er spricht mit ihm und gibt dann sein Wort und seine Gebote an uns weiter. Deswegen ist er auch das Oberhaupt des ORDEN."

Orden ... Das Wort hatte Jasper schon einmal irgendwo gesehen. Nein, nicht irgendwo. Auf dem Formular, das er vor den Inspektionsräumen hatte ausfüllen müssen! Aber er brauchte gar nicht weiter nachfragen, was es mit dem ORDEN auf sich hatte, denn Claire fuhr bereits mit ausschweifenden Gesten fort: ,,ORDEN steht für ... warte, das wurde ich in der Guidance-Prüfung abgefragt. Oberster Rat dominis et ... Wieso vergesse ich solche Sachen immer so schnell?" Sie schlug sich mit der Hand vor die Stirn. ,,Autsch! Ach, jetzt weiß ich es wieder: Nuntius! Das heißt so viel wie ,,Rat des Herrn und seiner Boten". Der ORDEN ist so etwas wie unsere Regierung hier im Himmel!" Als Claire Jaspers verlorenen Blick bemerkte, tätschelte sie ihm ermutigend die Schulter. ,,Ist ein bisschen viel auf einmal, was? Mach dir keinen Kopf, ich blicke bei dem meisten Kram auch noch nicht durch. Und ich bin hier schon seit 22 Jahren ..."

Jasper zog einen Mundwinkel nach unten.

In diesem Moment ertönte wieder ein Ping! und eine freundliche Stimme verkündete: Sie haben ihr Ziel erreicht: Himmel. Bitte steigen Sie aus!

,,Wir sind da!", sagte Claire. ,,Willkommen im Oktagon!"

Heyho Sickerdoodles!
Wie fandet ihr Kapitel 16?
Die Jasper-Teile sind für mich immer besonders herausfordernd, weil sein Charakter meinem ziemlich widerspricht ...
Falls euch eine Unstimmigkeit aufgefallen ist, sagt bitte Bescheid, Kritik ist erwünscht!

Lasst doch gerne Votes und Kommentare da!❤

▪️2222 Wörter

Eure Jojo🔮

PS: Danke für die 400 Sternchen! Wer errät, was das Oktagon ist oder was als Nächstes mit Jasper geschieht, bekommt in Kapitel 17 eine Widmung😌

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