🌸 Kapitel 1 🌸
Amnesie und Armageddon
Wie ein dünner Wasserfilm lag die Kälte des Portals auf ihrer Haut. Sein überirdisch blaues Licht erhellte ihren Rücken und die Osterglocken und Tulpen zu ihren nackten Füßen. Leontien drehte sich um, die verschwommene Silhouette von drei Personen war wie durch einen Schleier auf der anderen Seite zu erkennen. Adrenalin strömte durch jede Faser ihres Körpers, ihre Pulsschlagader pochte im Takt ihres zu schnell schlagenden Herzens. Schreie und Verwünschungen hallten in ihren Ohren nach, ihr war schwindelig und übel. Das Portal wurde immer kleiner, die Schemen auf der anderen Seite bewegten sich hektisch, verschwammen bis keine klaren Linien mehr erkennbar waren und schließlich erstarb auch das fluoreszierende Blau.
Mit dem Schimmer war auch das Übernatürliche verschwunden und ließ sie allein und verwirrt zurück. Schweißperlen standen auf ihrer Stirn, ihre Hände zitterten und ihr Bauch rumorte. Abgesehen von der Übelkeit durchströmte Leontien ein merkwürdiger Cocktail aus Empfindungen. Gelb blubberndes Hochgefühl mischte sich mit erstickender blauer Sehnsucht, als hätte sie etwas Großes erreicht, ein Ziel auf das sie lange hingearbeitet hatte, aber dafür einen geliebten Menschen zurückgelassen.
Sie konnte diese Gefühle nicht einordnen, geschweige denn erklären. Könnte sie doch nur einen klaren Gedanken fassen!
Doch nichts Greifbares wollte durch die Nebelwand dringen, die ihren Geist umhüllte. Eine mentale Mauer blockierte sie.
Mit gehetztem Blick scannte sie ihre Umgebung ab:
Alles war menschenleer, still und unheimlich. Sie selbst stand auf der bepflanzten Anhöhe einer Verkehrsinsel und überblickte verlassene Straßen. Autos standen verwaist am Straßenrand, der rote Opel Corsa, der auf dem Lidlparkplatz zu ihrer Rechten abgestellt worden war, wirkte verloren wie eine Blume auf einem verdorrten Acker. Die Scheiben des Supermarktes waren eingeschlagen und an manchen Stellen notdürftig mit Pappe ausgebessert worden.
Was hatte sich hier ereignet?
Bei dem Anblick dieser Geisterstadt - ihrer Stadt - die sie etwas zu stark an ,,The Walking Dead" erinnerte, verflogen alle Glücksgefühle, die noch vor einigen Sekunden unerklärlicherweise aufgetaucht waren wie aufgescheuchte Krähen beim Schuss des Jägers. Nur die Verwirrung blieb. Leontien ballte die Fäuste zusammen, als ein stechender Schmerz durch ihre linke Wade fuhr.
Fluchend schleppte sie sich von der Verkehrsinsel und ließ sich mit dem Rücken an den grünen Metallzaun sinken, der den Parkplatz begrenzte. Ihr Atem ging immer noch stoßweise und ihre Lunge brannte, als hätte sie einen 400 Meter Sprint hinter sich. Immer wieder schaute sie nach rechts und links, um sicherzugehen, dass nicht doch noch ein Zombie hinter einer Ecke lauerte oder auf sie zuwankte, um seinen toten Körper an ihrem frischen Fleisch zu nähren.
Als sie an sich herabsah, um zu sehen, woher der Schmerz kam, fiel ihr ihre Kleidung auf:
Sie trug einen ockergelben Sack, jedenfalls augenscheinlich. Am Kragen des kratzigen Leinens waren kleine umgedrehte Kreuze eingestickt und statt Ärmeln hatte er Armschlitze an den Seiten. So etwas würde sie normalerweise nur anziehen, wenn ihre Mutter ihr mit einer saftigen Taschengeldkürzung drohen würde oder damit, dass sie sonst ihre kleinen Brüder babysitten müsse. Nein, eigentlich nicht mal dann. Doch das war nicht das Beunruhigendste: Große Risse klafften im Stoff, als wäre er von Krallen zerfetzt worden. Das Blut, das aus Kratzern an ihren Armen und drei fingerlangen Schnitten an ihrer Wade austrat war nicht rot, sondern silbrig-rosa, färbte sich aber mit jedem verstreichenden Moment dunkler.
Leontien schloss die Augen.
Was zum verfluchten Orakel von Delphi ging hier vor sich? Nein. Sie musste ruhig bleiben!
'Bleib ruhig Leo!', sagte sie sich, 'Hat Panik je irgendjemandem geholfen? Zwar weißt du weder, wie du hier hergekommen bist, noch was passiert ist, aber du weißt, wo du bist. In diesem Lidl bist du schon hundertmal einkaufen gewesen, zum Beispiel vor der Baumhausparty bei Noemi, weißt du noch?'
Der Gedanke beruhigte sie nur geringfügig. In ihrer Erinnerung waren die Scheiben des Supermarktes heil gewesen und spiegelten das Sonnenlicht, es wimmelte von Menschen, die Einkaufswägen schoben und Autos, die hupten.
Auch die Masten, die überall an den Straßen standen, waren ihr fremd. An ihren Enden waren trichterförmige Lautsprecher angebracht.
,,Jedes Geschehen hat seine Ursache", murmelte sie ihr Mantra, das Kausalitätsgesetz, das sie immer wieder daran erinnerte, dass jedes Rätsel eine Lösung besaß. Sie atmete tief die nach Schwefel und Verwesung stinkende Luft ein, in der Hoffnung, damit ihrem Gehirn Starthilfe zu geben. Aufgewühlt wie sie war, fiel es ihr sehr schwer, sich zu konzentrieren, aber der Wille war stärker als das ausgeschüttete Cortisol. Ihr kamen zwei mögliche Ursachen in den Sinn.
Möglichkeit Nummer Eins: Sie träumte. Das ließe sich schnell überprüfen. Es gab mehrere Reality Checks, mit denen man herausfinden konnte, ob man schlief. Sobald man sich dessen bewusst wurde, konnte man seinen Traum steuern, auch luzides Träumen genannt. Es erforderte viel Übung und die meisten Menschen hatten nicht das nötige Durchhaltevermögen, um sich den Wecker auf vier Uhr morgens zu stellen, nur um beim nächsten Einschlafen direkt in die REM-Phase überzugehen und so seine Chance luzid zu träumen zu erhöhen.
Aber die meisten Menschen waren auch nicht wie Leontien.
Sie hoffte inbrünstig, dass sie mit ihrem Verdacht Recht behielt, denn in diesem Moment wünschte sie sich nichts sehnlicher, als aus diesem Horrorszenario zu entkommen.
Sie öffnete die Augen. Die Wolken am Himmel ballten sich zu großen Gebilden zusammen, es wurde mit jeder Sekunde dunkler und ein Wind zog auf, der eine Plastiktüte neben ihr gegen den Zaun wehte, wo sie hängen blieb. Leo spürte, wie der Boden anfing zu vibrieren, als flögen gigantische Hummelschwärme unter dem Asphalt in unterirdischen Gängen umher. Ein Tropfen fiel von ihrer Stirn und erzitterte auf dem rauen Bürgersteigpflaster. Sie wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht und schob die hellen Strähnen, die sich aus dem Pferdeschwanz gelöst hatten, hinter die Ohren, dann schaute sie auf ihre zerkratzte kleine Hand. Fünf Finger. Sie zählte nochmal. Es stimmte.
Im Traum hatte man nie fünf Finger. Vier oder sechs vielleicht, aber niemals fünf. Zur Kontrolle hielt sich Leo die Nase zu und versuchte gleichzeitig durch sie Luft zu holen. Fehlanzeige. Sie träumte also nicht.
,,Das heißt, es bleibt nur noch Möglichkeit Nummer Zwei: Erinnerungsverlust! Ich leide an Amnesie!"
Leontien blieb keine Zeit mehr, alle ihr bekannten Informationen über Schädelhirntraumata, ihre Ursachen und Folgen aufzurufen, denn ein ohrenbetäubender Ton durchbrach die Stille. Er begann tief und steigerte sich dann zu einer hohen penetranten Frequenz, die einige Sekunden anhielt, bevor sie wieder abschwoll. Eine Sirene.
Zusch
Zusch
Zusch
Ihre Augen richteten sich nach oben. Kampfjets waren urplötzlich am immer dunkler werdenden Himmel aufgetaucht. Sie flogen tief und die hohen pfeifenden Geräusche mit denen ihre Triebwerke die Luft durchschnitten, waren selbst über die heulende Sirene wahrnehmbar.
Der Boden wackelte.
Das war alles so surreal.
Sie krallte sich an den Streben des Zauns fest. Leo wusste, sie musste dringend Deckung suchen, bevor die Wärmebildkameras der Jagdgeschwader sie erfassten, sonst wäre sie in wenigen Sekunden so durchlöchert wie der Maasdamer Käse, den ihre Mutter nicht ausstehen konnte. Tiefflieger waren immer mit Schusswaffen ausgerüstet, denn Jagdbomber konnten dank der neuesten GPS Technik auch aus großer Entfernung und über der Wolkendecke Sprengkörper abwerfen, das wusste sie noch von den Geschichten ihres Opas und dem Geschichtsunterricht in der Neunten.
Doch es war bereits zu spät. Noch bevor diese Gedanken richtig in ihrem Bewusstsein angekommen waren, schlug eine Kugel keine zwei Meter vor ihr entfernt in die Straße ein. Teerbrocken stoben aus der Einschlagsstelle in alle Richtungen. Leo zuckte zusammen, unfähig zu schreien und hielt sich die Arme schützend vor ihr Gesicht, um den Kieselregen abzuwehren, da erschütterte der nächste Schuss die Erde.
Der Alarmton der Sirenen war verstummt und in der Ferne konnte man das Pfeifen herabfallender Fliegerbomben vernehmen, gefolgt von einem Moment der Stille und der Detonation.
Das Stechen in ihrer Wade ignorierend, zog sich Leo auf die Beine und hechtete auf das nächstbeste Gebäude zu, um dem Beschuss zu entgehen: dem Supermarkt. Kaum hatte sie die ersten Meter in seine Richtung hinter sich, donnerte es und der Boden wurde rissig.
Leo stoppte nicht, obwohl die Erde unter ihr aufklaffte, wie eine aufreißende Wunde und es so finster wurde, als wäre es innerhalb von Sekunden Nacht geworden. Das hier konnte rein logisch betrachtet nicht passieren, aber alles fühlte sich so echt an: Der Wind, der metallische Geschmack in ihrem Mund, die Schmerzen, die Angst, der unter den nackten Füßen zerbröselnde Boden.
Die Risse waren nun schon mehrere Zentimeter groß und dehnten sich immer weiter aus. Die Tragpfeiler der Einkaufswagenüberdachung schwankten und brachen ein und die einzigen intakten Scheiben splitterten.
Leo sah ein, dass sie umdrehen musste. Würde ihre Kraft noch ausreichen? Dieser Alptraum sollte endlich enden! Wenigstens waren die Jets verschwunden. Aus den Schluchten, die aufbrachen, leuchtete es karmesinrot, als würden sie geradewegs in die Hölle herabführen.
Mit großen Sprüngen versuchte sich Leo zwischen den entstehenden Erdschollen voranzubewegen. Der grüne Zaun war bereits in eine der Spalten gestürzt. Sie erreichte den Kreisel und rannte weiter, auf die Allee zu, die geradeaus von ihm abführte. Über ihr taten sich die pechschwarzen Tintenwolken auf und drei Reiter erschienen.
Einer ritt auf einem lodernden Flammenpferd, in der Hand ein blutbeflecktes Breitschwert, der Zweite sah blass und kränklich aus, sein Pferd war ausgemergelt und dürr, der Dritte war von schwarzen Pocken übersäht und das Fleisch fiel von seinen Knochen und denen seines Hengstes. Ein dröhnender Stimmenchor ließ die Luft flimmern.
,,Es ist so weit! Darauf haben wir so viele Jahrtausende gewartet! Das Ende beginnt und damit das Schwarze Nichts, das unser endloses Leiden beendet!"
Ein Blitz erhellte die Dunkelheit und schlug am Ende der Straße ein, durch die Leo sprintete. Dort, wo er in die Erde gefahren war, stand nun ein Mann in einer dunkelblauen Kutte. Schatten umgaben ihn und sein Gesicht war unter der Kapuze nicht zu erkennen. Leo bremste ihre Schritte ab, die Haut an ihren Fußsohlen war schon wund und brannte.
,,Was willst du von mir? Ich habe nichts getan! Was passiert hier?"
Die Gestalt antwortete nicht. Leos Haut prickelte, sie drehte sich im Kreis, ihre Synapsen brannten durch. Sie wusste ansonsten immer genau, was zu tun war, diese Hilflosigkeit kannte sie nicht. Wenn sie sich wenigstens auf ihre Gedanken verlassen könnte. Ihr Instinkt sagte ihr, dass sie trotz der Angst nicht wegrennen durfte. Sie musste sich der Bedrohung stellen.
Um sie herum brach alles auseinander. Häuser stürzten ein und aus ihrem Innern klangen Schreie. Hinter den verschlossenen Jalousien hausten also doch noch Menschen.
Dann gab es einen Ruck, als wäre die Erdachse stehen geblieben. Es wurde ganz still, die Reiter am Himmel verwandelten sich in roten, weißen und grünen Rauch und vermischten sich mit der Luft, ihre Präsenz war deutlich in jedem Atemzug zu spüren.
Es war zu still. Die Atempause vor der endgültigen Zerstörung. Dann kam der Wind. Ein unglaublich starker Wind. Alles, was Leo sehen konnte, zuckte wie bei einem Computer, der sich aufgehängt hatte: Die Straße, die Gebäude, der Himmel. Alles flackerte und verschob sich blitzend, die Welt aus Einsen und Nullen begann einzustürzen, die Materie spielte verrückt. Auch Leo selbst spürte, wie die Atome ihres Körpers aus ihrer natürlichen Ordnung ausbrechen wollten. Als sie ihre Arme ansah wechselte die Blutfarbe an ihren Kratzspuren zwischen rot und silber.
Das Einzige, was Beständig wie ein Fels und ungetrübt wie ein scharfes Foto in allem stehen blieb, war der verhüllte Mann. Leo schrie, doch kein Ton verließ ihre Lippen.
Und kurz bevor ihr Körper zerfiel, bevor die Welt implodierte und sich die friedlich gleichgültige Decke des Nichts über allem ausbreitete, sah sie eine leuchtende Tür vor sich.
Sie griff nach dem Türknauf.
Ich hoffe, das Kapitel hat euch gefallen und ihr seid gespannt, wie es weitergeht! Über Kommentare, Votes und vor allem konstruktive Kritik würde ich mich unheimlich freuen!
Eure Jojo🔮
◾1941 Wörter
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