Violinenmusik
»Kaiton?«, fragte Val, kurz nachdem die Tür des Bordells hinter ihnen zuschlug und sie wieder auf der Straße standen.
Kaiton antwortete ihm nicht. Er drehte sich nicht einmal um.
Der Himmel brach auf und dicke Regentropfen platschten auf das Kopfsteinpflaster. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis Val komplett durchnässt war.
Eiligen Schrittes gingen sie durch die Straßen. Immer wieder versuchte Val, sich nach Kaiton auszustrecken, aber dieser schüttelte ihn jedes Mal ab.
Erst als Val den Schlüssel zu seiner Wohnung herauskramte, murmelte Kaiton: »Ich habe nicht vor, meinen Teil der Abmachung einzuhalten.«
Val drückte die Klinke hinunter und ließ erst ihn in die Wohnung, ehe er selbst folgte. Der Regen tropfte von seinen Locken und prallte gegen seinen Mantel.
»Wenn es ist, wie Redville meinte, werde ich sterben, sobald Aetherion besiegt ist«, sagte Kaiton und legte seinen Hut ab. »Dann muss ich Lidras Preis nicht zahlen.« Er zog seinen Mantel aus und hängte ihn an den Kleiderständer. »Oder ich sterbe nicht, aber in dem Fall werde ich die Stadt verlassen und nicht noch einmal zurückkehren.«
Val stockte. Er hatte sich bisher keine Gedanken darüber gemacht, was geschehen würde, sobald dies alles beendet war. »Du willst die Stadt verlassen?«
Kaitons Schultern hoben sich in einem tiefen Atemzug, aber er drehte sich nicht um. »Ich kam in erster Linie nur hierher, um meiner Familie das Handwerk zu legen. Nun hat es sich als eine größere Sache herausgestellt, aber ... es ändert nichts. Ich möchte nicht bleiben. Für eine begrenzte Zeit kann ich es aushalten, doch ich könnte hier nicht leben.«
Der Kloß in Vals Kehle blieb, auch als er versuchte, ihn hinunterzuschlucken. »Ich verstehe«, sagte er, seine Stimme zitterte. Er selbst hing nur an der Stadt, weil er hier geboren und aufgewachsen war. Seine beiden Schwestern hingegen hatten das Weite gesucht, sobald sich ihnen die Gelegenheit angeboten hatte.
»Aber ...« Kaiton drehte sich zu ihm und trat zögerlich an ihn heran. Weiterhin wich er seinem Blick aus. »Vielleicht könntest du mich begleiten ... wenn du möchtest.«
»Ich weiß nicht«, gab Val zu. »Ich habe nie wirklich darüber nachgedacht.«
Kaiton nickte und ein erschöpftes Lächeln legte sich auf seine Lippen. »Das Gute ist, zunächst müssen wir beide überleben.«
Die Worte trösteten Val nicht.
Eine leise Violinenmelodie drang durch die Wände. Sein Nachbar spielte schon seit vielen Jahren dieses Instrument. Während es an den Anfängen noch geklungen hatte, als würde er eine Katze quälen, entfaltete sich mittlerweile die ganze Schönheit der Musik.
Val legte seinen Mantel ab. Er hielt Kaiton seine Hand entgegen und machte eine leichte Verbeugung.
Kaiton entglitten sämtliche Gesichtszüge und er blickte erstarrt auf die Hand, die sich ihm anbot.
»Darf ich bitten?«, fragte Val.
»Ich kann nicht tanzen«, sagte Kaiton.
»Darum geht es dabei nicht.« Val schenkte ihm ein Lächeln, das Kaiton zögerlich erwiderte und der Schatten über seinen Augen lichtete sich leicht. Hatte er überhaupt je ehrlich gelächelt?
»Vertrau mir«, sagte Val.
Kaiton schluckte und legte seine Hand in Vals. Seine Miene hing zwischen Angst, Unsicherheit und Misstrauen. Nur selten ließ er es zu, dass seine Gefühle so offen lagen und Val nahm jede einzelne von ihnen auf.
Er zog ihn zu sich und legte eine Hand an dessen Taille, die Finger der anderen verschränkte er in Kaitons.
›Tanz‹ wäre wahrhaft ein zu starkes Wort. Sie wankten leicht hin und her, ließen manchmal den Takt der Melodie vollkommen außer acht.
Leichte Röte hatte sich auf Kaitons Wangen gelegt und sein Auge glühte in unregelmäßigen Abständen auf. Seine Finger hatten sich in Vals Schulter verkrampft und eine kleine Falte hatte sich zwischen seinen Augenbrauen gebildet.
»Vergiss nicht, zu atmen«, meinte Val mit einem Grinsen, erntete aber nur einen bitterbösen Blick von Kaiton.
Auch Vals Wangen hatten sich erhitzt, obwohl immer noch der kühle Regen von seinen Haaren tropfte und teilweise sein Gesicht streifte.
»Wie ist es draußen?«, fragte er. »Außerhalb der Stadt.«
»Schöner. Nicht so grau«, meinte Kaiton. Seine Stimme war gesenkt, sein Atem kribbelte auf Vals Haut. »Zuerst muss man zwar eine Wüste aus Müll passieren – die, in der wir gestern waren. Es dauert fast eine Tagesreise, um sie zu durchqueren, aber dann kehrt das Leben in die Erde zurück. Die Wolken lichten sich und lassen die Sonne hindurch, die Bäume grünen und Blumen erblühen. Es ist normal, dass Pflanzen aus dem Boden sprießen, und die Leute schätzen sie und zertrampeln sie nicht, wie es hier der Fall ist. Die Menschen sind freundlicher ... und zugleich naiver, aber es gibt nur wenige, die dies ausnutzen würden.«
Während er gesprochen hatte, waren seine Augen aufgestrahlt, doch gleichzeitig hatte sich Trauer in seinen Blick gelegt.
Val drückte leicht seine Hand. »Und wie hast du dort gelebt?«
Kaiton sah auf und seine Augen verengten sich. »Warum fragst du all das?«
»Du hast vorgeschlagen, dass ich dich begleiten könnte, wenn alles vorüber ist. Dann möchte ich auch wissen, worauf ich mich einlasse.« Val leitete Kaitons Hände vorsichtig in seinen Nacken und legte seine eigenen an dessen Taille, zog ihn leicht noch einige Zentimeter an sich.
Sein Herz beschleunigte sich und Kaitons Adamsapfel hüpfte auf und ab.
»Du musst mich nicht gleich so misstrauisch ansehen«, sagte Val.
»Das ist mein normaler Gesichtsausdruck.«
»Natürlich«, meinte er mit einem Lächeln und auch Kaitons Miene hellte sich auf.
Für einen Moment schwebten nur die Noten zwischen ihnen, fast greifbar in der Dunkelheit der Wohnung, denn Val hatte keine Lampe entzündet, als er eingetreten war.
Das Grau in Kaitons Haar hatte die Oberhand gewonnen. Val wollte ihm gern einen goldenen Schimmer zurückgeben, aber dann müsste er sich von Kaiton lösen. Ein zu großes, schier unüberwindbares Hindernis.
»Ich war nie lang an einem Ort«, sagte Kaiton. »Ich lebte größtenteils in Gasthäusern oder bei Familien, die so freundlich waren, mich für einige Nächte bei sich aufzunehmen. Ich ... Mein einziges Ziel war es, meine Familie aufzuspüren. Da musste ich immer in Bewegung bleiben.«
»Und mit Aetherions Tod sollte alles vorüber sein.«
»Ich hoffe es.« Kaiton seufzte leise und ließ seinen Kopf gegen Vals Brust sinken. »Und gleichzeitig stellt sich mir die Frage: Was wenn nicht?«
Val strich ihm sanft durch die Haare.
»Was, wenn es alles nur noch schlimmer macht?«, murmelte Kaiton. »Aetherion hat zwar jedes Recht zu leben – oder in was für einem Zustand auch immer er sich befindet – verwirkt, seit er sich von Menschen ernährt, aber ... wer wird nach ihm anführen? Jemand, der wirklich das Wohl der Bevölkerung im Sinn hat, oder jemand, der nicht besser ist?«
Val drückte ihn näher an sich. Das Hin- und Herwanken gab er auf. »Du hast solch hohe Ziele und bestrittest deinen Weg allein?«
Kurz spannte sich Kaiton bei der Umarmung an. »Es ... es gab immer Leute, die mich unterstützt haben.«
Wenn diese Leute denen ähnelten, die Kaiton in der Stadt umgeben hatten, dann konnte man es nicht als Freundschaft bezeichnen. Diese Leute hatten ihn töten wollen, nur weil er den falschen Nachnamen trug.
Er schloss seine Arme noch enger um Kaiton. »Ich bleibe an deiner Seite, wenn du möchtest«, flüsterte er in dessen Ohr. »Ich werde dich nicht allein lassen.«
»Danke«, murmelte Kaiton und sah auf. »Ich ... Ich wusste bis jetzt nicht, wie viel es mir bedeuten würde.«
Er war nur wenige Zentimeter von Val entfernt. Seine Hände zupften an den Locken, versuchten, ihm stumm einen Hinweis zu geben.
Val beugte sich zu ihm, bis sich ihre Nasenspitzen schon berührten. Doch es lag nicht an ihm, noch weiter zu gehen. Er hatte es immer so genommen, dass er zwar einen Großteil des Weges bestreiten konnte, doch dann wartete er stets, bis ihm sein Partner entgegenkam.
Der unvergessliche Geruch von Frühling ummantelte Kaiton, der als ständiger Begleiter an seiner Seite blieb. Der Duft von neu erblühten Blumen, von seichtem Nebel, von Tau am Morgen.
Kaitons Hände in seinem Nacken drückten ihn sanft die letzten Zentimeter zu sich. Ihn durchfuhr ein Schauer, als ihre Lippen aufeinandertrafen, und nachdem dieser vorüber war, blieb ein leichtes Zittern.
Val zupfte Kaitons Hemd aus seiner Hose und schlüpfte mit den Fingern hinunter. Er entlockte Kaiton ein leises Keuchen. Hitze durchströmte dessen Körper, Vals Hände hingegen waren kühl.
Eine Note von Kaffee lag auf seiner Zunge, leichte Bitterkeit in einer Fülle an Süße. Er hätte nie erwartet, dass er diesen Geschmack mal so lieben würde.
Val strich aufwärts. Ein Klacken erklang, als seine knöchernen Finger gegen die stählernen Rippenbögen stießen. Er entlockte Kaiton ein leises Summen.
Vals Hände wanderten zu seinem Rücken und strichen über jeden einzelnen der Wirbel. Er schob Kaiton sanft zurück, bis dieser gegen den Küchentresen stieß. Er löste sich von ihm, doch nur, um ihn anzuheben und auf den Tresen zu setzen, sodass sie nun auf Augenhöhe waren.
»Ich bekomme Nackenschmerzen, wenn ich mich so lang runterbeugen muss«, sagte er mit einem Zwinkern. Rauheit lag in seiner Stimme, obwohl er versuchte, sie zurückzuhalten.
Kaiton rollte mit den Augen, aber seine Mundwinkel zuckten. In dem Grau seines Auges glomm ein Glitzern, das all den Kratern und Sprenkeln mehr Tiefe gab.
Warmer Atem prickelte auf Vals Wangen. Er beugte sich vor, drückte einen sanften Kuss auf Kaitons Mundwinkel, auf seinen Kiefer, seinen Hals.
Leichtes Ziehen in seiner Kopfhaut verriet die Anspannung in Kaitons Griff.
Vals eigenes Herz trommelte eine Melodie, die nicht zu den langsamen Klängen der Violine aus dem Nebenraum passte. Seine eine Hand strich wieder unter Kaitons Hemd, und entlockte ihm ein leises Keuchen, nun nicht länger durch einen Kuss gedämpft.
Das Geräusch verursachte eine warme Gänsehaut in Vals Nacken, dort, wo Kaitons Hände lagen. Ihm selbst entkam ein kehliges Brummen, als sich Kaitons Griff nur weiter anspannte und sein Gesicht in dessen Halsbeuge drückte.
Die andere Hand legte Val auf Kaitons Oberschenkel, zeichnete kleine Kreise mit dem Daumen.
»Deine Haare sind nass«, hörte er leise Worte an seinem Ohr.
»Hm?«
»Mir ist gerade ein kalter Wassertropfen den Rücken hinuntergerannt.«
Val hob seinen Kopf an und strich seine Locken auf die andere Seite. Er hatte sich schon daran gewöhnt, dass ständig Tropfen von ihnen fielen und sich in seinem Hemd aufsogen, das an den Schultern schon völlig durchnässt war.
Er beugte sich mit einem Grinsen vor und stupste Kaitons Nasenspitze mit seiner eigenen an. »Du musst nur sagen, wenn du mich noch einmal küssen willst.«
Sicherlich wäre Kaiton noch roter angelaufen, wäre es ihm möglich gewesen. Er schloss die Augen und zog Val wieder zu sich.
Wärme berührte Vals Hals und er brauchte einen Moment, bis er bemerkte, dass es Kaitons Finger waren, die anfingen, sein Hemd zu öffnen. Zitterig rutschten sie von den Knöpfen ab.
Val löste sich kurzerhand von Kaiton und streifte sich das Oberteil eigens über den Kopf. Achtlos ließ er es auf den Boden fallen. So musste er sich zumindest keine Gedanken mehr darübermachen, dass seine Locken es durchnässten. Nun tropfte der Regen kalt auf seine unbekleidete Haut.
»Darf ich?«, fragte Val und legte seine Hände an Kaitons Kragen.
Kaiton nickte hastig. Seine Augen ruhten auf Vals, während er das Hemd aufknöpfte und es ihm auszog.
Zwar hatte Val das Metall und die Narben bereits ertastet, aber nicht mit eigenen Augen gesehen. Die stählernen Rippenbögen und eine Vorrichtung, die in seinen Körper eingefasst war, stützten ihn.
Val strich über einen langen Schnitt, der an Kaitons Hals begann und über seinen Oberkörper führte. Ein kleiner weißer Halbmond zeigte sich an seinem Bauch. Eine Narbe verschwand im Hosenbund.
Val schluckte. Die Narbe brachte ihn auf einen Gedanken, der ihm vorher noch nicht gekommen war. Er zog mit zwei Fingern die blasse Linie nach, blieb aber über der Gürtellinie.
»Funktioniert ...« Er räusperte sich. »Funktioniert bei dir eigentlich alles, wie es soll?«
Nun nahmen Kaitons Wangen doch noch ein tieferes Rot an. »Ich ... Ich denke schon«, stammelte er. Seine Hand in Vals Nacken verkrampfte sich. »Warum?«
»Nur aus Interesse«, sagte Val und schenkte ihm ein Lächeln, das er nur zögerlich erwiderte. Sein Daumen zog wieder Kreise auf Kaitons Oberschenkel. Er beugte sich vor und drückte ihm einen zarten Kuss auf die Wange.
»Wollen wir vielleicht ins Schlafzimmer gehen?«, flüsterte er Kaiton ins Ohr.
Kaiton spannte sich an. Seine Finger verkrampften sich in Vals Locken. »Val, ich ...«, setzte er an. Heiserkeit belegte seine Stimme, doch nun war auch ein leichtes Zittern dazu gekommen.
Val hob eine Hand und strich über Kaitons Wange. »Ich werde nichts machen, was du nicht möchtest«, sagte er. »Ich dachte nur, vielleicht ist mein Bett bequemer als der Küchentresen. Und alles andere können wir beschließen, wenn es so weit ist.«
Kaiton wich seinem Blick aus. Das rote Auge glühte in unregelmäßigen Abständen auf. Dann nickte er.
Val nahm seine Hand und drückte seine Lippen auf die Knöchel, ehe er ihm von dem Tresen hinunter half und mit sich in das Schlafzimmer führte.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top