Verlorene Söhne
Der graue Tag wurde zum Abend und letztlich zur Nacht. Der Regen ließ nach und hing nur noch als Nebel in der Luft.
Das Summen der Straßenlaternen begleitete ihren Weg, bis sie in eine unbeleuchtete Gasse einbogen. Diesmal gingen sie nicht frontal auf die Mauer zu, diesmal hatte Kaiton etwas anderes erdacht.
Val rümpfte die Nase, als er in einer Pfütze aufkam. Die Luft um ihn herum war schwer und trug den Geruch von Urin und Fäkalien. In der Dunkelheit piepsten Ratten auf. Ihre kleinen Krallen scharrten über den Stein, als sie aus dem Weg huschten.
Der Moment, in dem Val bereute, seine Hilfe zugesichert zu haben, war früher gekommen, als er erwartet hatte.
Kaitons Stiefel platschten neben ihm in die Kanalisation. Das aufspritzende Wasser verströmte beißenden Gestank. Er entzündete die Öllampe in seiner Hand.
Das warme Licht schimmerte auf dem feuchten Stein an Wänden und Boden, bis es sich in der endlosen Schwärze des Korridors vor ihnen verlor.
Fast wäre es Val lieber gewesen, er müsste den Weg in vollständiger Dunkelheit beschreiten, denn nun kam er nicht umhin, sich Gedanken darüber zu machen, was das für Stückchen waren, die in dem Strom neben ihnen schwammen. Zuerst hatte er es für das gehalten, was man in einer Kanalisation erwartete, doch im Licht blitzte weißer Knochen auf. Finger, die aus dem Wasser ragten. Arme, die aufstiegen und wieder untergingen.
Val verzog das Gesicht und wandte sich ab. Seine Kehle schnürte sich zu. Eine Maßnahme, damit sein Mageninhalt blieb, wo er hingehörte.
Kaitons Miene blieb nüchtern. Durch die schummerigen Lichtverhältnisse glühte sein Auge nur leuchtender. »Wir müssen dort entlang«, sagte er und deutete mit der Lampe in einen der dunklen Gänge.
Ihre Schritte hallten laut von den Wänden wider. Besonders das Geräusch von Kaitons klobigen Stiefeln. Im Licht glänzten die Schnallen, während das schwarze Leder jede Flamme verschluckte.
An einer Leiter, die nach oben führte, blieb Kaiton stehen. »Dort drinnen sollten wir leise sein.«
»Das hätte ich mir gerade noch selbst zusammenreimen können«, entgegnete Val.
Kaiton warf ihm einen Blick zu und blendete Val mit dem roten Auge, sodass er sich abwenden und mehrfach blinzeln musste, bis er wieder sehen konnte.
»Wir werden nicht direkt in dem Anwesen ankommen, sondern in dem ... Lagerhaus«, sagte Kaiton, ohne auf Val einzugehen. Ein Schatten huschte durch sein Gesicht, als er die Lampe löschte und an den Rand der Leiter stellte. Sein Auge war nun die einzige Lichtquelle. Es warf Röte auf seine Wangen und dämmte sich immer dann, wenn er blinzelte.
Doch dies erlosch ebenfalls, als er nach der Leiter griff und hochkletterte. Val folgte ihm. Der Geruch der Kanalisation blieb, haftete an seiner Kleidung. Anschließend würde er sie gründlich waschen müssen ... vielleicht sogar verbrennen.
Ein Quietschen erklang über ihm und schummeriges Licht fiel auf ihn hinab. Kaiton hatte die Falltür über ihnen geöffnet. Er wartete, bis Val ebenfalls aus dem Loch geklettert war, ehe er die Luke leise wieder schloss.
Der Raum, in dem sie angekommen waren, ähnelte einem Lagerraum, die Wände und der Boden bestanden aus aneinandergeschraubten Metallplatten. Kisten sammelten sich um sie herum, aus denen ein süßlich-beißender Geruch strömte und für einen Moment Vals Sinne benebelte, ehe er sich schüttelte und die Bilder von Anthony aus seinem Kopf verbannte.
Er zählte mindestens fünfzig dieser Behälter, die sich bis unter die Decke stapelten. Die Trengroves handelten mit Leichenteilen, doch so viele hatte Val nicht erwartet.
Kaiton ging zu der einzigen Tür in dem Raum. Seine Schritte nun leise wie die einer Katze. Er spähte durch das Schlüsselloch und drückte die Klinke hinunter – verschlossen. Aus seinem Ärmel holte er einen Dietrich hervor und nur wenige Sekunden später klickte das Schloss.
Außen grenzte ein langer, schmaler Korridor an, ohne Verstecke, doch glücklicherweise nährte sich ihnen auch niemand. Sie passierten mehrere Türen, aber keine schien Kaiton zu interessieren, bis er letztlich stehenblieb und eine öffnete.
Wieder stapelten sich Kisten und wieder stach Val der beißende Gestank in die Nase. Der Markt für Leichen musste groß sein. Wie hatte er nie etwas davon bemerken können? Er hatte vom Handel mit lebendigen Menschen gehört und war auch mehrfach schon für Aufträge solcher Art angefragt worden, hatte diese jedoch immer abgelehnt. Wer aber würde so viele Leichen haben wollen?
Kaiton hatte keinen Blick auf die Kisten geworfen. Er rümpfte nur die Nase und steuerte ein Gitter in der stählernen Wand an. Er kniete sich davor, holte ein Werkzeug hervor, mit dem er sogleich die Schrauben löste, und offenbarte den Schacht dahinter.
»Schieb ein paar Kisten davor«, flüsterte er, ohne sich umzudrehen.
Val kam der Anweisung nach. Er hob einige Behälter an – eine dumme Idee, denn nun war er dem Leichengeruch viel näher, als er ihm je hatte sein wollen – und stellte sie so, dass die Öffnung hinter dem Gitter von der Tür aus verborgen war.
Kaiton deutete ihm an, zu folgen, und kroch in den Schacht.
Erst einen tiefen Atemzug später kam Val dem nach. Die metallischen Wände boten kaum Platz für ihn, seine Schultern schleiften gegen den Stahl.
Ruhig atmen, sagte er sich. Einfach ruhig atmen.
Einige Meter vor ihm hob sich der Schacht senkrecht in die Höhe. Er kroch dorthin, richtete sich auf und sah gerade noch Kaitons Stiefel an der Kante verschwinden. Warum hatte er Kaiton nicht einfach ›lebe wohl‹ sagen und die Sache damit abschließen können?
Er griff nach der Kante und zog sich an ihr hoch. Oben war der Schacht breiter, wenn es auch nur einige Zentimeter waren, die Vals Schultern von den Wänden trennten.
Kaiton hatte weniger Schwierigkeiten voranzukommen. Er warf nur einen Blick zurück und kroch weiter, als er Val hinter sich bemerkte.
Erst verursachte Vals Knochenhand noch ein leises Klacken auf dem Metall, ehe er seinen Ärmel über die Prothese fallen ließ, um das Geräusch zu unterbinden.
Nach einer gefühlten Ewigkeit hielten sie an. Weißes Licht fiel durch ein Gitter in den Schacht und Worte drangen zu ihnen.
»Der Junge ist wieder aufmüpfig geworden?« Ein Mann mit heiserer Stimme. Mehr Hauch als Ton kam aus seinem Mund.
»Immer noch«, kam die Antwort.
Val schob Kaiton zur Seite und quetschte sich neben ihn, um ebenfalls durch das Gitter sehen zu können. Ein Mann war über den Schreibtisch gebeugt. Die kurzen grauen Haare schimmerten weiß in dem elektrischen Licht. Vor ihm stand die Frau, die sie am vorherigen Tag begrüßt hatte, ihre Miene eine Maske aus Bitterkeit.
»Das war doch abzusehen«, fauchte sie. »Er hat sich damals schon immer so verhalten und es ist mit den Jahren nur schlimmer geworden. Es wird Zeit, dass wir ihn endlich ausfindig machen und es zu Ende bringen.«
Kaitons Herz trommelte gegen Vals Brust. Äußerlich wirkte er zwar ruhig, als hätte er schon tausende Einbrüche begangen, aber offenbar pumpte trotzdem Adrenalin durch seine Adern.
Sein warmer Atem traf gegen Vals Haut und kribbelte auf seinen Wangen. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, so nah an ihn heranzurücken.
»Und diesmal müssen wir sichergehen, dass er auch tot bleibt«, sagte Irene. »Das, was damals geschehen ist, darf sich nicht wiederholen.«
Wieder einmal bemerkte Val, wie hart Kaitons Knochen waren, selbst durch den Mantel gepolstert. Kaitons Körper spannte sich an und er hielt den Atem an.
Der Mann schüttelte den Kopf. »Er ist unser Sohn. Wie kannst du überhaupt so von ihm sprechen?«
Dies war vermutlich nicht der richtige Augenblick, dass Val auffiel, wie gut Kaiton roch – nach Frühling und dem Tau auf einer Wiese, über der noch der Nebel schwebte.
»Er ist missraten«, antwortete nun die Frau. »Und alles, was nicht läuft, wie es soll, wird aussortiert.«
Ein Schatten durchzuckte Kaitons Gesicht. Vielleicht aber auch nur eine Illusion, durch das Licht aus dem Zimmer unter ihnen.
»Ist die Lieferung mittlerweile losgeschickt worden?«, fragte sie, nachdem ihr Mann nichts mehr antwortete. »Den Kaiser lässt man nicht warten.«
Er nickte. »Wie er wollte, war diesmal das meiste noch lebendig. Die Frage ist nur, was wir nun mit den ganzen vorgefertigten Teilen machen wollen. Es wäre schade, sie einfach verrotten zu lassen.«
»Schick sie an den Schlachter. Er freut sich immer über billiges Fleisch.«
Wieder antwortete er mit einem Nicken. »Die neue Fuhre ist übrigens angekommen. Wir sollten schon mal die besten für Aetherion heraussuchen.« Er kam hinter dem Schreibtisch hervor und hielt der Lady die Tür auf. Sie rümpfte die Nase und trat hinaus.
Kaiton wartete noch einen Augenblick, ehe er sich von Val loskämpfte. Er holte erneut das Werkzeug hervor und löste die Schrauben, die er sogleich in irgendeiner Manteltasche verschwinden ließ. Das Gitter platzierte er neben sich in dem Schacht.
»Bleib hier«, flüsterte er, seine Stimme trug einen seltsam blechernen Klang. Er sprang in das Studierzimmer, seine Landung leichtfüßig, lautlos jeder Schritt. Er eilte zu dem Schreibtisch und zog einige Schubladen auf. Blätter flogen ihm entgegen, aber offenbar war nichts das, was er suchte.
Sein Blick schweifte über das Regal, seine Hände fuhren über Buchrücken. Nichts. Etwas durchzuckte seine Miene, das wieder verschwunden war, ehe Val es ganz greifen konnte.
Kaiton nahm eine Schatulle in die Hand, in ihr brach sich das Licht. Ein Tresor, kaum faustgroß. Er drehte an kleinen Rädchen und die Tür öffnete sich.
Er zog einige Papierbögen und Briefe hinaus, überflog das Geschriebene. Die meisten von ihnen legte er zurück, zwei behielt er.
Auf die Entfernung konnte Val nichts Genaues erkennen, nur dass eines der Schriftstücke ein großes rotes Siegel in der Ecke hatte.
Kaiton steckte beides ein und stellte den Tresor zurück, ehe er wieder zur Öffnung im Schacht kam. Er streckte eine Hand in die Höhe und runzelte die Stirn, als Val sie nicht ergriff.
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