Unfreiwillige Gastgeber II
Val war bis auf die Knochen durchnässt, als er an der Spelunke ankam. Ohne dem Wirt oder einem der Gäste einen Blick zuzuwerfen, ging er sofort in das Hinterzimmer.
Eine Krähe schrie auf, als er die Tür öffnete. »Shh, meine Hübsche«, erklang eine kratzige Stimme. »Ich werde dich vor jeder Gefahr schützen.« Der Krähenmann krauelte das Gefieder des schwarzen Vogels auf seiner Schulter, ehe sich sein Hut in Vals Richtung drehte. Seine Augen blieben im Schatten.
»Ihr sucht den Lordling«, sagte er. »Doch leider ist er ausgeflogen und ich denke nicht, dass er heute noch zurückkehren wird. Vielleicht wird er auch gar nicht mehr zurückkehren. Seine Familientreffen sind schwer vorherzusehen ... so blutig und nicht selten verliert jemand dabei ein Bein oder ein Auge.«
Val verschränkte die Arme vor der Brust. »Wo ist er?«
»Bei den Sklavenhaltern«, krächzte der Krähenmann. »Sucht nach einem Leben, das schon lang verloren ist, nach einem Vater, der nicht mehr lebt, und einer Mutter, die ihn in den Tod stieß.«
»Er ist bei den Trengroves?«, fragte Val. Das waren die ersten und einzigen, die ihm bei dem Begriff ›Sklavenhalter‹ in den Sinn kamen.
»Ihr seid klüger, als Ihr ausseht. Wollt Ihr ihm folgen, tiefer in sein Innerstes vordringen, bis er Euch mit jeder Faser seines Körpers hasst?«
Ebendies juckte Val in den Fingern, aber er würde Kaiton nur mehr Probleme machen, wenn er ihm nachsetzte. Er wusste ja nicht einmal, wo genau sich dieser im Anwesen der Trengroves aufhielt, falls der Krähenmann überhaupt die Wahrheit sagte.
»Wenn jedoch nicht«, sprach dieser, »dann schlage ich vor, dass Ihr geht und zu einem späteren Zeitpunkt zurückkehrt, wenn der junge Lord hier ist. Falls er denn je zurückkehrt.«
»Er hat gesagt, ich soll ihn hier treffen«, meinte Val. Kaiton hatte ihn zwar erst zum folgenden Tag eingeladen, aber das musste er nicht sagen.
Die breite Hutkrempe neigte sich zur Seite. »Dann habe ich wohl keine andere Wahl, als Euch einzulassen«, meinte er. »Fangt mir nur keinen Streit an, wenn Ihr nicht als Futter für die Krähen enden wollt.« Weiße Zähne blitzten im Schatten des Hutes auf.
Val hielt einen Schauer des Ekels zurück und trat auf eine Handbewegung des Krähenmannes hin durch die Tür.
Der lange Korridor dahinter führte ihn in den Hauptraum. Diesmal erstarben die Stimmen nicht, als er eintrat, aber es war ihm auch recht, nicht die gesamte Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Er hielt sich zurück, seinen Blick durch den Raum schweifen zu lassen. Falls sich Sam hier aufhielt, könnte er sich vielleicht nicht abhalten, ihr das Genick zu brechen, aber seine Vernunft sagte ihm, dass dies nicht der geeignete Ort dafür war.
Er manövrierte sich am Rand der Wand entlang und durch die Tür auf der anderen Seite des Raumes, hinter der sich ein weiterer Flur erstreckte. An dessen Ende fand er das Zimmer, in dem er letztes Mal mit Kaiton gesessen hatte.
Er entzündete die Öllampe in der Mitte des Raumes. Das Bett war ungemacht und auf dem Boden daneben stapelten sich Kaffeetassen. Die Dielen waren übersät mit Zetteln und Briefen.
Im Nachhinein kam es Val gar nicht mehr wie eine so gute Idee vor, ohne Kaiton in dessen Zimmer zu sein. Er würde ihm den Kopf abreißen, wenn er ihn hier sah.
Er zog seinen nassen Mantel aus und hängte ihn an den Kleiderständer neben der Tür. Das Hemd darunter war nur geringfügig weniger durchnässt. Warum hatte er nur auf seine Mutter hören und mitten im Regen durch die Stadt spazieren müssen? Er hätte doch auch abwarten können. Kaiton war ohnehin nicht hier.
Das Bett knarzte leise, als er sich darauf setzte. Sein Blick schweifte über die zahllosen Zettel, die auf dem Boden verstreut lagen, und blieb dabei an einem hängen. Das rote Siegel der Trengroves prunkte an dem oberen Rand. War dies das Schriftstück, das Kaiton aus dem Tresor entwendet hatte?
Er klaubte es vom Boden auf, doch ehe er es lesen konnte, wurde die Tür aufgerissen.
»Was tust du hier?«, fragte Kaiton. Er sah den Brief in Vals Hand und riss ihn ihm aus den Fingern. Ohne lang abzuwarten, öffnete er die Klappe der Öllampe und stopfte den Zettel hinein, der sofort in Flammen aufging.
»Was ist das?«, fragte Val.
»Nichts«, antwortete Kaiton nur und wiederholte dann: »Was tust du hier?«
»Du hattest gemeint, dass ich herkommen soll.«
»Morgen«, sagte Kaiton. »Ich wollte, dass du morgen herkommst.«
Val zuckte beiläufig mit den Schultern. »Das muss ich überhört haben.«
Kaiton antwortete mit einem Schnauben, ehe er seinen Hut absetzte und an den Kleiderhaken hängte. Er ließ seinen Blick über den Boden schweifen und begann, die Zettel notdürftig auf einen Haufen in der Ecke des Raumes zu schieben. »Du hast dir keinen guten Zeitpunkt ausgesucht, herzukommen«, meinte er. »Ich war wieder im Anwesen der Trengroves und sie haben mich gesehen. Sie durchkämmen gerade die Stadt und werden jede verdächtige Gestalt anhalten. Dich haben sie auch schon einmal im Blick gehabt und sie wissen, dass du Kontakt zu mir hast.«
»Dann bleibe ich noch hier.« Für Val kein Problem, doch Kaitons Augen verfinsterten sich und er schnalzte verärgert mit der Zunge.
Er gestikulierte Val an, zur Seite zu rutschen, und setzte sich neben ihn. »Das war also deine Mutter?«
»Mach dir keine Gedanken darüber. Sie spricht mit Geistern.« Val hatte sich schon daran gewöhnt, dass sie jeden neuen Menschen auf ihre ... charmante Art begrüßte.
»Sie nannte mich hinterhältig.«
»Das willst du doch hoffentlich nicht abstreiten.«
Kaiton presste die Lippen zusammen und schwieg.
»Weshalb wolltest du, dass ich herkomme?«, durchbrach Val die Stille.
»Weil wir noch nicht zu Ende gesprochen hatten und wir hier ungestörter sind«, sagte Kaiton. »Ich habe Pläne, aber ich bezweifle, dass ich sie allein ausführen kann.«
»Was sind das für Pläne?«
Kaiton strich sich durch die Haare. Der Ausdruck in seinen Augen aber blieb nüchtern und zeigte nichts von der Verlegenheit, die seine Geste widerspiegeln sollte.
Val würde nicht so weit gehen und sagen, dass er diese Durchtriebenheit niedlich fand, doch er konnte nicht bestreiten, dass sie in ihm ein gewisses Interesse weckte. Weshalb war Kaiton nur der Meinung, ihn auf diese Art manipulieren zu müssen?
»Ich will in die Oberstadt«, sagte Kaiton und wich seinem Blick aus. »Ich möchte wissen, was sich in dem Thronsaal abspielt, und weshalb Aetherion Handel mit den Trengroves treibt.«
»Und du willst meine Hilfe?« Val kannte die Antwort schon, aber ein Einbruch in die kaiserliche Residenz war keine Kleinigkeit.
»Ich weiß, dass ich viel verlange.« Kaitons Ton war leiser geworden. »Aber ich weiß auch, dass es zu gefährlich ist, um es allein durchzuziehen.«
Val seufzte leise. »Na schön.« Was konnte schon dabei schiefgehen, wenn man in die Residenz des Kaisers einbrach? Er erinnerte sich an das metallische Konstrukt, das er durch Matthews Augen gesehen hatte.
»Danke«, sagte Kaiton. »Ich schätze das wirklich sehr.«
Val warf einen Blick auf ihn. Das Licht der Öllampe schimmerte auf seiner Haut, doch über seinen Augen lag ein Schatten, der jede Emotion dahinter verbarg.
»Wir sollten aber erst morgen gehen«, sagte Kaiton. »Momentan werden wir vorher von den Trengroves aufgegriffen.«
»Dann sollte ich wohl aufbrechen und wir treffen uns morgen wieder?«
»So gern ich dich auch hinauswerfen würde«, sprach Kaiton, »du musst hierbleiben. Wenn du jetzt gehst, dann könnten die Wachen zu diesem Versteck geführt werden, und das kann ich nicht zulassen.«
»Das heißt ...«
»Mhm«, brummte Kaiton nur. »Mir wäre es anders auch lieber.« Zwar hatte er bereits einmal bei Val geschlafen, doch die Wohnung war größer gewesen und hatte zwei Schlafmöglichkeiten enthalten. Kaiton besaß nur ein Bett.
Er erhob sich. »Ich hole dir ein Handtuch. Du tropfst immer noch.« Er durchquerte den Raum und öffnete einen Schrank.
»Willst du dann nicht deinen Mantel ausziehen?«, fragte Val und bekam dafür ein Stoffstück in das Gesicht geschleudert. Er nahm es an und trocknete sich die Locken. »Ich meine ja nur«, sagte er. »Ich weiß es ohnehin schon und wenn ich hier schlafen soll, dann ...«
Kaitons verfinsterter Blick ließ ihn verstummen. Doch anschließend tat er etwas, nach dem Val zwar gefragt, das er aber keineswegs von ihm erwartet hatte. Er knöpfte sich den Mantel auf, mit finster zusammengeschobenen Augenbrauen und aufeinandergepressten Lippen.
Darunter trug er ein schwarzes Hemd mit einzelnen braunen und beigen Flicken. Auf der einen Seite seines Körpers lag es eng an, auf der anderen zeigten sich leichte Ausbuchtungen, dort, wo seine Rippen waren, ehe der Stoff durch ein Holster bis fast zur Wirbelsäule eingeschnitten wurde.
Beide Hosenbeine steckten in den Stiefeln, die sogar bis über sein Knie reichten. Er gab sich alle Mühe, zu verbergen, dass ihm einige Teile fehlten.
An seinem Hals schnitt sich eine tiefe Kerbe ein, die im Kragen verschwand. Val war schon aufgefallen, dass Kaiton viele Narben auf der Haut trug – allen voran diejenige, die sich durch seine rechte Gesichtshälfte zog und er nicht so leicht verbergen konnte. Doch er fragte nicht nach, woher sie ihren Ursprung nahmen. Er wollte die Zeit, in der er hierbleiben musste, nicht Kaitons Abneigung im Nacken spüren.
»Du musst mich nicht so ansehen, als würdest du mich essen wollen«, sagte Kaiton, aber Val wandte sich nicht von ihm ab.
Dafür erhielt er nur ein Schnauben von Kaiton, ehe dieser das Schulterholster und anschließend einen Waffengürtel mit Pistole und Degen ablegte.
»Wir sollten dann auch möglichst schnell schlafen gehen«, sagte er.
»Und das nicht nur, weil du möchtest, dass es rasch vorbei ist?«, fragte Val nach.
»Doch«, brummte Kaiton. Er setzte sich auf das Bett und machte sich daran, die Schnallen seiner Stiefel zu öffnen. Mit einem Ausdruck in den Augen, als würde er Val lieber umbringen, als ihm die Prothesen zu zeigen.
Er zog erst den linken Stiefel aus. Das Bein darunter war vollkommen heil.
Dann machte er sich an die Schnallen des rechten. Seine Hände zitterten, verkrampften.
»Warum ist es für dich so eine große Sache?«, fragte Val. »Es gibt so viele Leute, die Prothesen haben.«
»Vielleicht eine, aber nicht ...« Kaiton gestikulierte an sich auf und ab. Dann presste er die Lippen zusammen und widmete sich wieder dem Stiefel.
Was hatte Val getan, dass Kaiton ihm so misstraute? Sicher, ihr erstes Aufeinandertreffen war nicht glimpflich gelaufen, aber seitdem war schon einige Zeit vergangen und sie arbeiteten doch schließlich zusammen.
Ein anderer Gedanke grub sich hervor: Vertraute Kaiton sich überhaupt irgendjemandem an?
»Lass mich dir helfen«, sagte Val, nachdem Kaiton nur noch an den Schnallen riss, sie aber mit schierer Gewalt nicht zu öffnen vermochte.
Kaiton brummte etwas Unverständliches, ließ dann aber von seinen Stiefeln ab und erlaubte die Hilfe.
Geschickt öffnete Val die Schnallen und darunter kam Metall zum Vorschein, in Ansätzen ähnlich geformt wie die Knochen von Bein und Fuß. Das Hosenbein war kurz über dem Knie abgetrennt und die Vorrichtung, die die Prothese hielt, war noch von dem Stoff verdeckt.
»Warum Metall?«, fragte Val. Viel geläufiger waren Knochen oder eine Mischung aus Knochen und Metall – wie es bei ihm selbst der Fall war.
»Ich will kein Teil eines Toten an mir haben«, brachte Kaiton zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und erhob sich. »Ich gehe mich umziehen, bleib du einfach hier und rühr nichts an.« Mit diesen Worten verschwand er in einem angrenzenden Raum.
Val zog sich ebenfalls die Stiefel aus. Liebend gern würde er sich auch aus seiner nassen Kleidung schälen, doch ihn beschlich die leise Ahnung, dass Kaiton es nicht begrüßen würde.
Sein Blick schweifte durch den Raum, aber ehe er etwas Interessantes finden konnte, kehrte Kaiton schon zurück. Diesmal trug er nur eine dunkle Stoffhose und ein Oberteil, unter dem sich seine Konturen noch stärker abzeichneten.
Sein Blick verdunkelte sich, als er Vals Musterung bemerkte. »Ich habe leider nur eine Decke, deshalb ...« Er brach den Satz ab, schüttelte nur den Kopf und konnte sich nicht dazu bringen, die Worte auszusprechen. Stumm löschte er die Öllampe auf dem Tisch und tauchte den Raum in Dunkelheit. Nur das Licht aus Kaitons Auge spendete noch einen rötlichen Schimmer.
»Bleib einfach auf deiner Seite«, murrte er, aber der Nachdruck in seiner Stimme fehlte.
»Ich mach doch gar nichts«, sagte Val.
Von Kaiton kam ein Schnauben. »Und ich schlafe an der Innenseite, also rück ein Stück.«
»Das hätte ich nicht von dir erwartet.« Val tat, wie geheißen, und Kaiton stieg an ihm vorbei, um sich dann unter der Decke zu vergraben. Wenigstens besaß er die Güte, Val einen Zipfel zu lassen. »Ich dachte, du würdest im Notfall lieber sofort aufspringen und fliehen wollen.«
»Ich hab Angst, aus dem Bett zu fallen«, brummte Kaiton nur. »Und jetzt sei still und schlaf.« Er wandte sich von ihm ab und das Licht aus seinem Auge erlosch. »Und wehe, du bist morgen nicht mehr auf deiner Seite.«
Val seufzte leise, aber auf seinen Lippen lag ein Lächeln. »Gute Nacht, Kaiton.«
»Gute Nacht, Valentine.«
Vals Lächeln erstarb.
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