Unfreiwillige Gastgeber I

Es verging eine Woche, in der Val nichts von Kaiton gehört hatte. Nach den ersten Tagen hatte er schon überlegt, ob er in die Spelunke zurückkehren sollte, um sich bei ihm zu entschuldigen. Er hatte zu tief nachgebohrt, hatte zu viele Geheimnisse, die Kaiton gehütet hatte, aufgedeckt.

An dem Tag, den er dafür auserkoren hatte, prasselte der Regen in Strömen gegen seine Scheiben und der Wind jaulte durch die Ritzen in den Fenstern, sodass die Vorhänge leicht wehten. Und da Val nicht unbedingt danach war, wie ein nasser Hund auszusehen, wenn er zurückkehrte, blieb er in seiner Wohnung. Eine Decke lag über seinen Schultern und in den Händen hielt er ein Buch. Eine Geschichte von einer Prinzessin und einem Bauernmädchen, die alle Unterschiede ihrer Stände überwanden, um zusammen zu sein.

Mrs. Richardson hatte ihm den Roman gegeben und gemeint, ihm würde ein wenig Fröhlichkeit in seinem Leben gut tun. Sie liebte solche Geschichten – diejenigen, die ein glückliches Ende hatten, in denen die Liebenden alle Gefahren bestritten und sich ihre Liebe nur festigte. Es lenkte davon ab, dass die Welt verregnet war und der Tod niemanden verschonte.

Ein Klopfen drang durch das Haus, aber da es nicht an Vals Wohnungstür war, bewegte er sich nicht unter seiner Decke hervor. Hinter der Violinenmusik, die von seinem Nachbarn kam, konnte er das Geräusch noch zu gut ausblenden.

Schritte hallten durch den unteren Flur und die Eingangstür wurde geöffnet. Stimmen wanderten gedämpft zu ihm und er machte sich auch nicht die Mühe, genauer zu lauschen. Sicherlich bekam seine Vermieterin nur Besuch.

Er nahm einen Schluck von seinem Tee, ehe er sich wieder dem Buch widmete. Lang versank er aber nicht. Die Tür unten wurde geschlossen und ein Paar Schritte knarrte auf den Treppenstufen, die zu seiner Wohnung führten.

Val schob die Brauen zusammen. Er legte das Buch auf den Tisch und kroch unter seiner Decke hervor. Wer hatte sich denn durch den Regen zu ihm gewagt?

Bevor sein Besuch an der Tür angekommen war, öffnete er sie bereits.

Wasser tropfte von der Krempe an Kaitons Hut und er hatte den Kragen hochgeklappt, sodass die untere Hälfte seines Gesichts verborgen war. Dunkle Flecken umrahmten die Flicken an dem Mantel. Ein weiterer war dazu gekommen. Ein schmutzig blauer Fetzen bedeckte nun das Einschussloch, das eine Kugel vor einigen Tagen in der Kanalisation hineingerissen hatte.

»Guten Abend«, begrüßte er Val und neigte den Kopf leicht nach vorn, sodass ein Schwall Wasser auf den Dielen vor ihm landete. Kurz beäugte er die Pfütze, ehe er wieder aufsah.

Wortlos ließ Val ihn in die Wohnung und schloss die Tür hinter ihm. »Ich habe dich nicht erwartet.« Er selbst trug eine schwarze Hose und ein einfaches beiges Hemd mit dunklen Flecken, weil er es getragen hatte, als er bei seiner Mutter die Tapete neu angebracht hatte. Nicht einmal Socken bedeckten seine Füße.

»Ich sagte doch, dass ich herkommen werde, wenn ich bereit bin, die nächsten Schritte zu besprechen«, meinte Kaiton. Er nahm seinen Hut ab und hängte ihn an den Kleiderständer. Seine Haare darunter waren zerzaust und einzelne Regentropfen schimmerten im Licht der Öllampe golden.

»Aber es regnet«, merkte Val an.

»Und?«

Für einen Moment stand Stille zwischen ihnen. »Ich habe mit Sam gesprochen«, sagte Kaiton, als er keine Antwort erhielt. »Als sie bei den Trengroves eingebrochen war, hat sie erfahren, dass Anthony mit ihnen zusammengearbeitet hat, aber nicht, was genau gehandelt wurde oder wie lange die Zusammenkunft schon bestand.«

»Willst du dich vielleicht setzen?«, fragte Val und deutete auf die Couch.

»Ich möchte deine Möbel nicht volltropfen«, antwortete Kaiton und fuhr fort: »Ich denke aber, dass Anthony schon länger mit ihnen Kontakt hatte. Sie sprachen von Schulden, die er begleichen sollte.«

»Du kannst den Mantel auch ausziehen«, meinte Val.

Kaitons Blick verfinsterte sich. »Hast du mir überhaupt zugehört?«

»Natürlich, aber mein Gastgeberherz sagt mir, dass wir vielleicht nicht mitten im Raum stehen bleiben sollten. Du kannst den Mantel auch anbehalten. Ich habe kein Problem mit Regen auf meinen Möbeln.«

Kaiton stieß ein Schnauben aus, folgte dann aber der Deutung und setzte sich auf das Sofa. Val ließ sich auf dem Sessel gegenüber nieder und schielte nur verstohlen zu seiner warmen Decke, in die er sich kurz zuvor eingewickelt hatte, die nun jedoch außerhalb seiner Reichweite lag.

»Hat Anthony je davon gesprochen, dass er Schulden hatte?«, fragte Kaiton.

Val schüttelte den Kopf. »Normalerweise haben ... hatten Leute eher bei ihm Schulden zu begleichen.«

Ein Klopfen drang durch das Untergeschoss, aber er ließ sich nicht ablenken. Diesmal war es sicher nicht für ihn.

»Und du hattest nie einen Auftrag, der dir merkwürdig vorkam?«, fragte Kaiton.

»Ich habe meistens eher an Krankenhäuser und Ärzte geliefert«, sagte Val. »Ab und zu auch an die Adelshäuser, aber ich dachte, dass es dabei darum ging, irgendwem eine Prothese anzubauen und dort ebenfalls Ärzte involviert waren.«

Kaiton wich seinem Blick aus. »Dann ...« Sein Kiefer mahlte, die nächsten Worte wollten kaum seine Lippen verlassen. »Dann vertraue ich dir. Du kannst Sam ...«

»VALENTINE!«, schallte es durch das Haus. Val stockte.

»Valentine?«, fragte Kaiton und seine Mundwinkel zuckten.

»Niemand nennt mich so«, entgegnete Val. »Und das aus gutem Grund.«

Er ging zur Tür und öffnete sie. Keinen Augenblick später taumelte er einige Schritte zurück, da sich eine Gestalt in seine Arme geworfen hatte. Sie war ein Stück kleiner als er und die schwarzen Locken waren schon von grauen Strähnen durchsetzt.

»Du hättest dich nicht vorher ankündigen können?«, fragte Val.

»Dann bist du doch immer extra nicht zuhause.« Seine Mutter löste sich von ihm und hob den Blumentopf an, den sie für die Begrüßung neben sich gestellt hatte. »Ich glaube, ihr geht es schon wieder nicht so gut. Kannst du da etwas machen?«

Val seufzte leise und betrachtete das kleine Pflänzchen, das traurig die Blätter hängen ließ. »Ich werde mal schauen, was ich tun kann«, sagte er und trat zur Seite, um sie einzulassen. »Und ich habe gerade Besuch, also bitte erschrecke ihn nicht.«

»Besuch oder Besuch?«, fragte sie. »So, wie du aussiehst, hoffe ich, dass es ersteres ist.«

Val konnte nur erneut seufzen. »Mutter, das ist Kaiton«, stellte er beide miteinander vor, denn Kaiton war mittlerweile ebenfalls aufgestanden und hatte sich zu ihnen gesellt. »Kaiton, das ist ...«

»Mein Name ist Meya«, unterbrach sie ihn und streckte eine Hand aus. »Und du bist bestimmt Valentines neuer Freund.«

»Das ist nicht unbedingt die Bezeichnung, die ich genutzt hätte«, sagte Kaiton, ergriff aber die Hand.

Meya erstarrte und zog ihn in ihre Richtung. Von Vals Lippen floss ein leises Seufzen. Hatte er ihr nicht gerade gesagt, sie möge ihn bitte nicht verschrecken?

»Du erinnerst mich an jemanden, der mir in meinen Träumen kam«, sagte sie. Mattheit dämpfte das Strahlen ihrer Augen. »Jemand, mit dem ich oft sprach. Zwar trägst du mehr Hinterhältigkeit im Blick, aber dahinter ist die Klarheit seines Geistes. Und sein Geruch haftet an dir. Norwood war sein Name. Mr. Norwood.«

Kaiton entzog seine Hand und Meya blinzelte mehrfach, bis das Licht in ihre Augen zurückkehrte. Ein Lächeln zierte erneut ihr Gesicht. »Ich freue mich so, dass Valentine endlich nicht mehr allein ist. Es wäre schön, wenn er an Weihnachten mal in Begleitung auftauchen würde.«

»Sicherlich.« Kaiton schob sich langsam in Richtung Tür und nahm dann seinen Hut von dem Kleiderhaken, ehe er sich an Val wandte. »Ich werde mich auf den Weg machen. Komm doch morgen zu mir. Dann können wir weiterreden. Und ich sorge dafür, dass Sam da ist.« Er nickte beiden zu und setzte seinen Hut auf. »Einen schönen Abend noch.«

»Bis morgen«, verabschiedete sich Val. Er hatte ihm die Tür öffnen wollen, aber Kaiton war schneller. Val konnte ihm nicht verdenken, dass er der Situation entfloh.

Er drehte sich zu seiner Mutter, als die Tür hinter Kaiton ins Schloss fiel. »Du musst wirklich damit aufhören.«

»Ich habe mich doch nur vorgestellt,« sagte sie. »Vermutlich hat deine Ungastlichkeit ihn verschreckt. So wie du aussiehst, hätte ich auch sofort die Flucht ergriffen. Ich hoffe, du hattest nicht vor, ihn ins Bett zu bekommen. Ich sehe hier nicht einmal Kerzen.«

Val rollte nur mit den Augen. »Gib mir die Blume«, sagte er und hielt den Topf kurz darauf in der Hand. Die Blätter hingen herab und waren mit braunen Flecken übersät. Er hatte schon Pflanzen, die in viel schlimmerem Zustand waren, neues Leben eingehaucht.

»Oh, er trinkt Tee?«, fragte Meya mit einem Blick auf die Tasse, die neben der Couch stand. »Du hast also mal eine verwandte Seele gefunden.«

»Das ist mein Tee«, sagte Val. »Er trinkt lieber Kaffee.« Er stellte die Pflanze in das Waschbecken und goss Wasser hinein.

»Dann ... dann hast du ihm nicht einmal etwas zu trinken angeboten?« Meya stemmte die Hände in ihre Hüften. »Ich habe dich doch wirklich besser erzogen.«

»Er ist gerade erst angekommen«, sagte Val und kramte in einem seiner Schränke. »Ich hätte ihm schon noch etwas zu trinken angeboten.« Er holte eine gläserne Kugel mit einem langen Rohr an einer Seite hervor und befüllte sie mit Wasser.

»Und dann hättest du auch Kerzen angezündet.«

»Zwischen ihm und mir ist das nicht so.« Er steckte das Röhrchen in die Blumenerde.

»Aber du würdest gern, dass es so wäre?« Meya trat zu ihm und stützte die Ellenbogen auf den Tresen, um dann das Kinn in ihre Hände zu betten.

»Ich kenne ihn erst seit einer, vielleicht anderthalb Wochen.«

»Das hat nichts zu bedeuten und war nicht die Antwort auf meine Frage.« Sie betrachtete ihn für einen Moment. In ihrem Blick glomm ein Fünkchen Trauer auf. Ein Ausdruck, der stets erschien, wenn er zu lang bei seiner Mutter war. Er hatte die Augen seines Vaters, hatte sie ihm früher oft gesagt.

»Er ist niedlich«, sagte sie.

»Gerade hast du ihn noch hinterhältig genannt.«

»Das eine muss das andere nicht ausschließen«, sagte Meya. »Ich kenne dich, du kannst mir nicht sagen, dass du ihn nicht niedlich findest.«

Val stellte den Blumentopf auf den Tresen und schob ihn zu ihr. »Achte darauf, dass die Kugel immer mit Wasser gefüllt ist, dann sollte die Pflanze es schon schaffen. Hast du sie überhaupt je blühen sehen?«

»Sie kann blühen?«

»Es ist übrigens auch nicht normal, dass die Blätter braun sind und herabhängen.«

»Es kann doch nicht jeder gut mit Blumen zurechtkommen. Einige Leute bevorzugen die Gesellschaft von Menschen.«

Val ließ sich nicht auf ihre Sticheleien ein. »Sie kann wirklich schön blühen, wenn man sie lässt. Und sie ist eigentlich auch nicht pflegeintensiv. Ein wenig Wasser und gutes Zureden reichen normalerweise aus.«

»Danke«, sagte sie und nahm den Blumentopf wieder in die Hand. »Übrigens ...« Ihre Tonlage hatte sich verändert. Zuvor war sie noch heiter gewesen, doch nun wurde sie von Bedrückung bedeckt. »Ich würde mich freuen, wenn ich wieder öfter von dir hören würde. Die Stadt hat schon so manche gute Seele verschlungen und jedes Mal, wenn ich dich eine Weile nicht gesehen habe, dann habe ich Angst, dass du der nächste geworden bist.«

»Tut mir leid«, sagte er. »Es war in letzter Zeit nur ein wenig stressig.«

»Das verstehe ich. Das Leben raubt einem jede Zeit. Ich würde mich trotzdem freuen, wenn du ab und an vorbeischauen würdest.«

Val nickte nur leicht. »Ich werde es versuchen.«

Sie schenkte ihm ein Lächeln und stellte die Pflanze auf den Tresen, um ihre Arme auszubreiten, in die er sich sogleich begab. Ihre Umarmungen waren stets warm und herzlich, wie eine schützende Decke, die jedes Unheil von ihm fernhalten wollte.

Sie klopfte auf seinen Rücken, ehe sie sich von ihm löste. »Und nun los mit dir. Geh deinem Freund nach.«

»Ich weiß nicht, ob er es begrüßen würde«, gab Val zu.

»Würde er. Zieh dir aber zuerst etwas anderes an. Ich bleibe einfach bei Jolie, bis der Regen nachlässt.«

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