Im Schatten der Nacht
Einige Minuten lang gingen sie nur in Schweigen gehüllt nebeneinander her. Val achtete darauf, immer einen halben Schritt hinter Kaiton zu bleiben, um sicherzustellen, dass dieser ihm kein Messer in den Rücken rammen konnte.
Der Mond versteckte sich hinter dichten Wolken und leichter Regen lag in der Luft. Nicht stark genug, um das Tragen einer Kapuze zu rechtfertigen, doch trotzdem lag er Val in den Augen und schmiegte sich an seine Wangen. Straßenlaternen erhellten den Weg und kaltes, weißes Licht spiegelte sich auf dem feuchten Kopfsteinpflaster.
»Wie hast du Anthony kennengelernt?«, durchbrach Kaiton die Stille.
Der Versuch einer Unterhaltung prallte gegen Val wie ein Vogel gegen eine Fensterscheibe. »Hat dich nicht zu interessieren«, knurrte er nur.
Kaiton zuckte zusammen und schwieg für einige Momente, ehe er es ein weiteres Mal versuchte. »Mir ist deine Hand aufgefallen. Ist –«
»Hat dich ebenfalls nicht zu interessieren«, unterbrach Val ihn. »Ich will keine Freundschaft knüpfen und du solltest es dir auch aus dem Kopf schlagen.«
Nur das Geräusch der Schritte auf dem nassen Stein und das Platschen, wenn einer von ihnen in eine seichte Pfütze trat, hallte zwischen den Häusern wider, bis Kaiton meinte: »Das klingt einsam.«
»Ich bin lieber einsam als tot«, entgegnete Val.
»Das eine schließt das andere nicht aus«, murmelte Kaiton. »Irgendwann wird der Tod jeden holen, ungeachtet, wie er die Zeit bis zu dem Moment genutzt hat.« Er runzelte die Stirn und schien noch mehr sagen zu wollen, blieb aber still.
»Anthony hatte schon gemeint, dass du von außerhalb kommst«, sagte Val. »In einigen Wochen wirst du verstehen, was ich meine.« Wenn er bis dahin nicht gestorben war.
Kaiton blieb abrupt stehen. Sein Auge glühte rot auf. »Da kommt jemand.«
»Kannst du mit dem Ding durch Wände sehen?« Val suchte in der Dunkelheit schon nach einem Fluchtweg.
»Wärme«, antwortete Kaiton. »Und gleich kommt da hinten jemand mit einer Fackel in der Hand um die Ecke. Es ist aber so hell, dass ich nicht mehr erkennen kann.«
»Vermutlich eine Wache«, sagte Val. »Hier entlang.« Er griff ihn am Ärmel und zog ihn in eine Seitengasse. Dort ließ er ihn wieder los, deutete ihm aber an, weiterhin zu folgen.
Kaiton holte zu ihm auf. »Warum weichen wir einer Wache aus?«
Welpe. Val rollte mit den Augen und antwortete: »Sie wird uns ausfragen, weshalb wir mitten in der Nacht unterwegs sind. Du kannst ihr ja gern erzählen, dass wir schmuggeln, aber ich werde dich dann nicht vor den Konsequenzen bewahren. Und ich werde auch vor Anthony alle Schuld auf dich schieben.«
»Ich hab es verstanden«, murmelte Kaiton.
»War mir nicht sicher, ob du dazu überhaupt in der Lage bist«, gab Val zurück. »Und jetzt sei still.«
Ein Dröhnen schoss durch seinen Kopf und er hielt in der Bewegung inne. Helle Blitze entzündeten sich vor seinen Augen, die als weiße Punkte in der finsteren Nacht verblieben. Er stützte sich an der Wand ab. Seine Knie zitterten, seine Atmung drang kaum durch das Pulsieren in seinen Ohren.
Finsternis breitete sich von den Rändern seines Sichtfeldes aus. Sie nahm es mit jeder verstreichenden Sekunde weiter ein, bis ihm gänzlich schwarz vor Augen wurde.
Der Geruch von Wein stieg ihm in die Nase. Leise Klaviermusik klang aus einem Schallplattenspieler und füllte den gesamten Raum mit einer ruhigen Melodie an. Zwar waren die Vorhänge noch zugezogen, aber unter ihnen kroch schon das Sonnenlicht hervor.
Er saß auf seinem Bett. Die Laken waren mit schwerem Rot bezogen und inmitten dieses roten Meeres lag eine blonde Gestalt. Weit breiteten sich die Haare über dem Stoff aus und nahmen die Hälfte der Matratze ein. Dieser Anblick erinnerte ihn stets an einen Engel, obwohl keine weißen Schwingen dem unbedeckten Rücken entsprossen.
Ein leises Seufzen zog sich von seinen Lippen. Er musste sich von dem Bild losreißen und sich erheben.
Es wurde Zeit, dass er aufbrach. Schon bei dem Gedanken, dass er wieder einmal dem Kaiser gegenüberstehen würde, kribbelte sein Handgelenk, bis es zu einem leichten, doch nicht weniger unangenehmen Brennen wurde.
»Matthew?«, erklang eine Stimme hinter ihm. Sein Engel war erwacht.
Val fand sich in der Gasse wieder. Der Nebel lag auf seiner Haut und kreierte eine dünne Schicht aus Tropfen in seinem Gesicht.
Er strich sich die Locken von der Stirn und versuchte seine Atmung, die flach und unregelmäßig durch das dumpfe Pochen in seinen Ohren drang, zu beruhigen. Bitterkeit lag auf seiner Zunge und blieb auch, nachdem er auf den Boden der Gasse gespuckt hatte.
»Alles gut?«, erklang eine Stimme neben ihm und erst da bemerkte er den leichten Druck auf seiner Schulter.
»Fass mich nicht an«, knurrte er – der Ton schwächer, als er beabsichtigt hatte, kratzig und wie aus weiter Ferne gesprochen.
Sofort hob Kaiton seine Hand an. »Tut mir leid«, murmelte er.
Val antwortete ihm nicht. Er nahm sich noch einige weitere Sekunden, bis das Zittern in seinen Beinen nachließ, ehe er sich aufrichtete und aufhörte, sich an der Hauswand abzustützen.
»Wir müssen weitergehen.« Seine Stimme enthielt noch einen rauen Unterton. Er schüttelte die letzten Reste der Benommenheit von sich und machte sich auf den Weg.
Schritte folgten ihm.
In Gedanken erschien ihm erneut das Bild der blonden Gestalt und die weiche Stimme hallte weiterhin nach. ›Matthew‹ hatte sie ihn genannt.
Eine halbe Stunde später erhoben sich Mauern in den finsteren Nachthimmel und versteckten dahinter das Anwesen der Familie Trengrove. Ein dickes, stählernes Tor trennte das Innere von der restlichen Stadt. So verschanzte man sich nur, wenn man etwas zu verbergen hatte oder sich vor der Außenwelt schützen wollte. Oder beides.
»Überlass das Reden mir«, zischte Val Kaiton zu und trat an das Tor.
»Bleibt stehen!«, rief jemand von oben. In der Dunkelheit war kaum mehr als ein menschlicher Umriss am Rand der Mauer zu erahnen.
»Wir kommen mit einer Lieferung von Anthony Rye«, meinte Val und deutete auf das Paket in Kaitons Händen.
Ein roter Punkt leuchtete in der Dunkelheit auf und wanderte über sein Gesicht. Jeder Muskel in seinem Körper spannte sich an und wollte ihn davon überzeugen, aufzuspringen und zu fliehen, bevor er im Inneren der Mauern eingeschlossen war. Er zwang sich, ruhig zu verharren und tief durchzuatmen.
Lang genug war er schon in dem Geschäft, sodass er oft erkannte, wann wirklich eine Gefahr drohte und wann lediglich die Angst vor der Gefahr seinen Körper zu so einer Reaktion brachte.
Der Punkt schweifte zu Kaiton weiter. Er hatte den Kopf leicht gesenkt und seine Augen lagen im Schatten der Hutkrempe.
»Ihr dürft eintreten«, sagte die Wache. »Bringt das Paket zur Eingangstür. Dort werdet Ihr erwartet. Aber wir beobachten Euch.«
Mit etwas anderem hatte Val auch nicht gerechnet. Niemand, der etwas auf sich hielt, würde Fremde auf sein Grundstück lassen und anschließend ignorieren.
Das Tor knirschte über den Boden, als es sich öffnete. Ein Flügel war dicker, als Vals Unterarm lang war, und überragte ihn bei weit mehr als seiner doppelten Höhe. Der Weg im Inneren war gepflastert und von weißem Licht erhellt. In der Stille der Nacht summte leise ein Generator.
Am Ende der Straße türmte sich ein Bauwerk vor ihnen auf und davor erstreckte sich ein Garten aus Stein. Keine Pflanze schlängelte sich durch das Pflaster, kein Grün brach in das Grau der Stadt.
Auf der einen Seite des Weges hob sich eine stählerne Wand an – eine Lagerhalle, aus der mechanisches Schleifen und Pfeifen und Klicken drangen. Auf der anderen standen Wachen mit Degen und Gewehren, die jeden ihrer Schritte beobachteten. Tiefes Knurren kam von Hunden in Käfigen.
Die Eingangstür des Herrenhauses öffnete sich, als sie sich näherten. Dieses Gebäude war aus Stein errichtet und von Türmen umsäumt, als versuchte man, ihm den Anschein eines Palastes zu geben. Nur wenige Lichter erhellten die Fenster.
Aus der Tür trat eine Frau mittleren Alters, die grauen Haare zu einem strengen Zopf hochgesteckt. Sie trug eine dunkelgraue Bluse und eine enganliegende lederne Hose in derselben Farbe. Ein schwarzer Gehrock lag über ihren Schultern, aber dieser konnte weder die Pistole noch den Degen an ihrem Gürtel verbergen.
»Anthonys Leute?«, fragte sie und gab Val einen stechenden Blick aus ihren grauen Augen. Es geschah nur selten, dass er sich klein fühlte, doch diese Frau stand erhöht auf Stufen und war es außerdem gewöhnt, ihre Knechte herumzukommandieren.
Irene Trengrove hieß sie. Das Oberhaupt der Familie. Anthony hatte gemeint, dass es unwahrscheinlich war, sie hier anzutreffen, da sie hauptsächlich außerhalb der Stadt ihre Geschäfte abwickelte. Doch offenbar stattete sie ihrer Familie heute einen Besuch ab.
»Hätte mir denken können, dass er nicht selbst hier angekrochen kommt, um seine Schulden zu begleichen«, sagte sie.
Anthony hatte nie etwas von Schulden gesagt. Vals Miene blieb nüchtern, als sich eine kalte Hand in seinen Nacken legte und eine Stimme ihm das leise Wort des Verrates ins Ohr flüsterte.
»Ich bin nur hier, um Euch etwas zu bringen«, meinte er. »Alles Weitere könnt Ihr mit Anthony besprechen.« Er deutete Kaiton an, nach vorn zu treten.
Lady Trengroves graue Augen huschten zu ihm. Sie neigte den Kopf leicht, um unter die Hutkrempe zu schauen. »Du hast dich verändert, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe«, sprach sie und legte eine Hand an ihren Revolver. »Nenne mir nur einen Grund, weshalb ich dir nicht sofort den Schädel wegblasen sollte.«
Kaiton erwiderte ihren Blick, ohne zurückzuweichen. Seine Mundwinkel waren zwar leicht erhoben, doch der Ausdruck in seinen Augen verdüstert. Der Schatten, den der Hut auf ihn warf, wirkte nun noch finsterer und wurde nur von einem leicht roten Glühen durchbrochen.
Val zwang sich, jeden Fluchtinstinkt im Keim zu ersticken, sodass er nur einen Schritt zurücktrat. Zuvor hatte er ihn noch für einen Welpen gehalten, aber die Maske hatte er nun abgelegt und offenbart, dass sich etwas Dunkleres darunter verbarg.
»Nur den Offensichtlichen«, antwortete Kaiton, sein Ton nicht nur nüchtern, sondern eisig. »Nur die Tatsache, dass i–« Splitterndes Glas unterbrach ihn. Neben der Lady klirrte es auf den kalten Stein.
Vals Blick schoss nach oben. Eine Gestalt in Schwarz sprang von dem Sims im zweiten Stockwerk und schlitterte über das Vordach. Im nun glaslosen Fenster tauchte eine Wache auf. »Dieb!«, rief sie und hob das Gewehr an.
Ein Knall hallte durch die Nacht, aber der Dieb wich aus und sprang leichtfüßig auf das Dach der Lagerhalle.
»Ihr wart nur eine Ablenkung«, zischte Lady Trengrove und zog ihren Revolver.
»Scheiße«, brachte Val gerade noch hervor, bevor sich ein Schuss löste.
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