Im Licht des Engels
»Gibt es hier einen Hinweis auf Anthonys Unschuld?«, fragte Val.
»Was erwartest du?« Kaitons Ton war scharf. »Ein Dokument, auf dem steht: ›Wir haben nicht mit Anthony gearbeitet‹?«
Val knirschte mit den Zähnen. Es klang töricht, wenn Kaiton es so formulierte, aber er konnte nicht einfach so gehen, ohne zumindest versucht zu haben, nach etwas zu suchen.
»Und jetzt hilf mir hoch.« Der Befehl schnitt sich wie ein Messer in seine Gedanken.
Val ergriff Kaitons Hand und zog ihn zurück in den Schacht. Dieser manövrierte sich auf die andere Seite und schraubte das Gitter wieder an.
»Wir werden hier nichts mehr finden«, sagte er schließlich. »Entweder wir schauen in dem Herrenhaus nach, denn da bewahren sie die Verträge mit Händlern und Kunden auf – ein zu gefährliches Unterfangen, nachdem Sam gerade gestern erst dort eingebrochen ist, und vermutlich hat sie gefunden, was wir nun suchen und es mit sich genommen. Oder wir kehren in Anthonys Wohnung zurück.«
Die Anspannung löste sich aus Val. Er bemerkte erst jetzt, wie fest er die Zähne aufeinandergebissen hatte, und dumpfes Pochen drang durch seinen Kiefer. Kaiton hatte Vals Anliegen nicht vergessen, selbst wenn er sein eigenes verfolgte.
»Und wir werden mit Sicherheit bei Anthony mehr finden als hier«, sagte Kaiton. »Deshalb sollten wir zurück.«
Val nickte nur. Er wollte noch nicht ganz wahrhaben, dass die Spur sich hier im Sand verlor, aber wenn er ehrlich war, musste er Kaiton recht geben.
Doch auf dem Rückweg zeigte sich für Val ein Problem, über das er sich zuvor kaum Gedanken gemacht hatte. Er konnte sich nicht umdrehen. Und so musste er sich langsam rückwärts über den Stahl schieben, bis seine Füße in der Luft hingen. Er kletterte über die Kante und landete in dem engeren Schacht.
Eine halbe Ewigkeit und mehrere Fast-Panikattacken später standen sie wieder in dem Abstellraum. Der Geruch nach Tod und Verwesung hatte in dem Schacht nachgelassen und wirkte nun umso stärker.
Ein Kribbeln durchschoss seinen Kopf, wurde schmerzhafter wie tausend kleine Nadeln, wie ein Blitz, der sich endlos in seinem Verstand entfaltete. Seine Knie zitterten und gaben nach. Ein Griff an seinem Handgelenk, dann ummantelte ihn Dunkelheit, noch ehe er auf dem Boden aufkam.
»Seine Majestät erwartet Euch bereits.«
Matthew warf dem Wachmann nur einen flüchtigen Blick zu. Ein übermenschengroßes Gebilde aus Messing und Stahl hatte seinen menschlichen Vorgänger ersetzt. Man hatte es sogar gelehrt, zu sprechen.
In der letzten Ratssitzung hatten sie überlegt, ob es besser wäre, diesen Wachen einen Menschen zur Seite zu stellen, der sie beaufsichtigte, doch bisher hatte sich nichts geändert. Es dauerte oft Monate oder sogar Jahre, bis Änderungen vonstatten gingen.
Er stieß die Tore auf. Sonnenlicht flutete die Eingangshalle und der Marmor badete sich in den Strahlen. Weitere Stahlmännern flankierten den Teppich, der Matthew zu einer hohen Flügeltür führte.
Bevor er eintrat, holte er tief Luft. Das Kribbeln an seinem Handgelenk war mittlerweile ein Stechen geworden und pulsierte seinen Arm hinauf bis in die Schulter.
Er richtete seinen Gehrock, doch länger konnte er der Ratssitzung nicht ausweichen.
Die Klinke traf kühl seine Fingerspitzen, als er sie hinunterdrückte.
»Ihr seid spät«, drang eine tiefe Stimme durch den Saal, doch sie glich keinem Menschen und trug stattdessen einen mechanischen Klang in jeder Silbe.
»Verzeiht«, sagte Matthew und senkte seinen Kopf. »Ich wurde aufgehalten.« Er erwiderte den Blick des Kaisers nicht und behielt den seinen weiterhin zu Boden gerichtet, während er zu seinem Sitz an der Tafel ging.
Belustigtes Schnauben und höhnisches Lachen begleiteten ihn auf seinem Weg. Er hatte versucht, seine Verbindung zu Will so geheim wie möglich zu halten, doch trotzdem hatten einige sie bemerkt.
Ein Senator sollte den Kaiser als einzigen Lebensinhalt besitzen. Und auch ihm allein sollte ein Senator bedingungslose Treue schwören. Nur ihm sollte ein Senator gehorchen.
Matthew hatte all diese drei Grundsätze verletzt. Es grenzte an ein Wunder, dass Aetherion ihn noch nicht ausgeschlossen hatte.
Er stieg die Stufen zu seinem Sitz nach oben. Fünf an der Zahl, aus dunklem Holz gefertigt und mit Messing verstärkt. Falls sich einmal ein gewöhnlicher Mensch für ein Bittgesuch in ihre Mitte verirrte, wollten sie schließlich über ihm stehen.
Sein Stuhl selbst glich fast einem Thron. Ineinander verschlungene Zahnräder bildeten die Lehne, roter Samt die Sitzfläche.
Er setzte seinen Zylinder ab und legte ihn neben ihn auf den Tisch.
Die Senatoren führten den Rat fort, aber ihre Stimmen vermischten sich zu einem undeutlichen Brummen und Matthews Gedanken schweiften ab. Zurück zu der blonden Gestalt und den blauen Augen, die ihn kummervoll betrachtet hatten, als er gegangen war. Was hätte er dafür gegeben, den ganzen Morgen – den ganzen Tag sogar – bei ihm zu sein, anstatt nun hier im Senat zu sitzen.
Das Rattern von Zahnrädern riss ihn aus seinen Gedanken. Ein kleines Männchen aus Messing, kaum so groß wie eine Hand, fuhr auf einer Schiene zu ihm hinüber. In einer Vorrichtung über seinem Kopf trug es eine Kanne mit Tee.
»Guten Morgen, Senator Brigham.« Die Stimme war blechern und verzerrt. Beim Sprechen leuchteten die Lampen, die in seinen Augen lagen, auf. »Ich hoffe, Ihr habt gut geruht.«
Matthew gab ihm nur ein knappes Nicken.
Das Männchen kannte dieses Zeichen. Es kippte seinen Kopf nach vorn und füllte die Tasse vor Matthew. »Es ist immer eine Freude, Euch hier zu sehen«, sagte es noch, ehe es auf den Schienen zu dem nächsten Senator fuhr.
»Die Pest hat mittlerweile einen zu großen Teil der Bevölkerung ausgelöscht und viele weitere Menschen infiziert«, ergriff eine Frau am anderen Ende der Tafel das Wort. »Und wir haben immer noch keine Heilung gefunden.«
»Wir sollten die Kranken zusammentreiben und ausrotten«, schlug einer der Senatoren vor. »So können wir verhindern, dass sich die Seuche ausbreitet.«
»Das ist barbarisch«, meinte ein anderer. »Es sind die Einwohner unserer Stadt. Wir sollten sie schützen.«
»Schützen, indem wir dafür sorgen, dass sich die Krankheit nicht ausbreitet.«
Matthew nahm seine Tasse und nippte an ihr. Er wusste genau, weshalb er nur selten – nur, wenn der Kaiser ihn zwang – an den Senatssitzungen teilnahm. Sie kamen nie zu einem Entschluss und am Ende befahl ihnen irgendein ... Ding, was sie tun sollten, ungeachtet, was sie unter sich ausgemacht hatten.
Sein Blick wanderte zu der Maschine, die in der Mitte des Tisches schwebte. Zahnräder klickten in ihrem Inneren. Jedes Metallteil glänzte im Licht wie pures Gold und war durch dünne Streben miteinander verbunden. Auf Kreisen, die sich um die Mitte herumdrehten, leuchteten kleinere und größere Scheinwerfer. Einmal hatte Matthew versucht, sie zu zählen, als sie ein besonders langweiliges Thema in der Sitzung behandelt hatten. Dadurch, dass die Augen sich ständig bewegten, war ihm jedoch schwindelig geworden und er hatte bei zweihundert abbrechen müssen.
Nur selten hatte Matthew einen Blick auf das Innere der Maschine werfen können, meist nur dann, wenn er im Vertrauten in den Saal gerufen worden war. Eine Uhr tickte unter all dem Metall, doch zeigte sie nie die aktuelle Zeit an.
Aetherion. So nannte er sich. Der Himmlische. Unter der Bevölkerung war er nur als der Kaiser bekannt. Matthew bezweifelte, dass überhaupt einer der gewöhnlichen Leute wusste, dass es sich bei dem Regenten über die Stadt nicht um einen Menschen handelte.
Eine Maschine war nicht von menschlichen Schwächen behaftet. Deshalb hatten sie Aetherion in erster Linie eingesetzt. Am Anfang hätte niemand ahnen können, zu was er sich entwickelt.
»Wir könnten für eine bessere Wasserversorgung sorgen«, sprach die Senatorin, die zuerst das Wort ergriffen hatte. »Das hat sich in der Vergangenheit schon als hilfreich herausgestellt.«
»So hilfreich, dass wir erneut mit einer Seuche zu kämpfen haben.«
»Es ist einen Versuch wert.«
»Wenn wir noch lange warten und nur versuchen, wird die Stadt tot sein, bevor wir eine Lösung haben. Ist das Euer Ziel?«
Matthew seufzte leise. Dafür war er heute aufgestanden? Es war doch offensichtlich, dass sie nicht einfach die halbe Bevölkerung auslöschen konnten. Sie hatten bereits Boten in andere Teile des Landes geschickt, um zu erfragen, ob jemand Erfahrung mit der Pest gemacht und eine Heilung gefunden hatte.
Bis eine Nachricht zurückkam, sollten sich die Kranken in Quarantäne begeben. Damit wäre das Problem zumindest eingedämmt. Noch mehr Tote in der Stadt verrotten zu lassen, würde niemandem helfen.
Er öffnete den Mund, um seinen Vorschlag zu unterbreiten, doch eine andere Stimme trat an seine Stelle. »Es ist entschieden«, sprach Aetherion. Die Kreise drehten sich langsam, hypnotisch. »Bringt die Kranken hinter die Stadt. Dort sollen sie Ihr Ende finden.«
Matthews Tasse knallte auf den Tisch. »Das könnt Ihr nicht tun!«, rief er. »Es sind Menschen. Ihr könnt sie nicht einfach behandeln wie ... wie Müll.«
Die Scheinwerfer wandten sich zu ihm und blendeten ihn mit weißem Licht. Die Ringe zuckten erst in die eine, dann wieder in die andere Richtung.
Binnen einer Sekunde schoss Aetherion zu ihm und hob sich über ihm an, sodass er den Kopf in den Nacken legen musste, um in die Lichter blicken zu können.
»Ihr fügt Euch unserem Entschluss nicht?«, fragte er, die Stimme dröhnte laut in seinen Ohren. In all der Zeit, die Matthew schon im Senat war, hatte niemand je gewagt, dem Kaiser zu widersprechen.
Ein Brennen schoss durch seinen Arm. Er ballte die Hand zur Faust. In seinen Ohren klingelte immer noch die blecherne Stimme nach.
»Ich werde nicht zulassen, dass wir Menschen wie Dreck behandeln«, brachte er zwischen zusammengebissen Zähnen hervor. »Ich werde nicht zulassen, dass wir die halbe Stadt auslöschen.«
Das Klicken der Räder in Aetherions Innerem beschleunigte sich, die Lichter zuckten hin und her und Matthews Handgelenk schien Feuer gefangen zu haben, aber er zwang sich, den Blick weiterhin auf dem Kaiser zu behalten.
»Ihr wart einst so vielversprechend«, sprach Aetherion.
Ein metallischer Arm sprang aus der Tischplatte und griff nach Matthew. Der Kragen seines Hemdes riss auf und die kalten Finger bohrten sich in seine Haut kurz unter seinem Schlüsselbein. Ein leises schmerzerfülltes Keuchen verließ seine Lippen, ehe er die Zähne zusammenbiss. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn – die Scheinwerfer, die auf ihn gerichtet waren, brannten auf seiner Haut.
»Doch seht nur, was aus Euch geworden ist«, fuhr der Kaiser fort. »Ihr seid schwach, weich. Unwürdig unserer Energie.«
Die Hand zog sich aus Matthews Haut zurück. Er atmete auf, nur widerwillig füllte Luft seine Lungen. An seinem Kragen hatte sich auch das Abzeichen befunden, das ihn als Senator kennzeichnete. Nun klirrte es auf den Boden, blutig war das Gold.
»Wir nehmen Euch all Eure Ränge und all Eure Vergünstigungen«, sprach Aetherion. »Ihr werdet aus dem Senat ausgeschlossen, bis Ihr Euch wieder besonnen habt.«
Matthew stieß ein Schnauben aus. Seine Kehle schmerzte, Blut strömte aus seinem Hals und fing sich in seinem Hemd auf. »Wenn, Euch blind zu folgen, Besinnung ist, dann will ich lieber dem Wahnsinn verfallen.«
Er nahm sich seinen Zylinder, erhob sich und stieg die Stufen hinunter. Der Blick des Kaisers kribbelte in seinem Nacken, bis er seine Hand auf die Klinke legte.
»Brigham«, hielt Aetherion ihn auf. »Vergesst eines nicht: Ihr gehört mir.«
Als würde es auf die Worte hören, begann Matthews Handgelenk zu pulsieren, aber er drehte sich nicht noch einmal um.
Erst als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, tastete er nach seinem Hals. Die Wunde war eher oberflächlich. Der Kaiser hatte ihn nicht verletzen und ihn nur seines Standes berauben wollen.
Er verzog das Gesicht und machte sich auf den Weg zurück in sein Haus. Er hatte schon viel zu lange den Befehlen einer Maschine gehorcht. Es wurde Zeit, dass sich jemand ihr entgegenstellte.
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