Grauer Regen
Val wandte sich ab und polterte die Treppe hinunter. Es gab nur eine Erklärung, was Anthony widerfahren war. Gestern noch hatten die Trengroves von Schulden gesprochen und nun hatten sie sich geholt, was ihnen zustand. Er würde sie nicht damit davonkommen lassen. Sie mussten dafür bezahlen.
Das Messing an seinen Fingerknöcheln spannte sich, so fest ballte er seine Hand zur Faust.
»Val!«
Er ignorierte die Stimme, die ihm nachrief. Die Schritte, die ihm folgten.
»Warte!«
Er hielt nicht ein. Nicht einmal, als er schon auf der Straße stand und sich der Himmel über ihm öffnete. Regen kroch in seinen Kragen und unter seinen Mantel. Binnen weniger Sekunden war sein Hemd vollends durchnässt, aber die Kälte konnte ihm nichts anhaben, so heiß brodelte die Wut in seiner Brust.
Eine Hand griff nach seinem Ärmel. Er wirbelte herum und riss sich los.
»Ich weiß, was geschehen ist«, sagte Kaiton. Der Regen rann in Wasserfällen an seinem Gesicht hinab. »Tu nichts Unüberlegtes.«
Val stieß ein kehliges Knurren aus und wandte sich ab. Er würde nichts Unüberlegtes tun. Er würde genau überlegen, wie er jedem Einzelnen der Trengrove-Familie die Haut von den Knochen schälte.
Ein Schatten landete vor ihm in der Gasse. Etwas blitzte auf, aber er brachte seine knöcherne Hand zwischen sich und die Klinge, ehe diese ihn treffen konnte.
Ein kalter Blitz fuhr durch seinen Arm, aber weder ließ er los, noch wich er zurück.
»Du bist also sein Komplize«, zischte die Gestalt vor ihm. Unter ihrem Umhang war sie zierlich gebaut und einen Kopf kleiner als er. Tropfen glitzerten in den rabenschwarzen Strähnen, die unter der Kapuze hervorlugten. »Dreckige Menschenhändler.«
Vals Blick wanderte von der Frau zu ihrer Klinge. Sie hatte eine dünne Kerbe in seinen Knochen geschlagen. Rotes Pulver schabte sich von dem Stahl ab. Getrocknetes Blut.
»Du hast Anthony getötet«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Die Stimme in seinen Ohren klang nicht wie seine eigene. Fremd, verzerrt.
Seine Hand schloss sich nur fester um den Stahl.
»Die Welt ist ohne Leute wie ihn und dich besser dran«, spuckte sie ihm entgegen. Sie ließ ihren Dolch los und zog einen Revolver.
Val rammte seine Faust in ihre Rippen und schlug ihr die Waffe aus der Hand. Die Pistole prallte — glücklicherweise noch gesichert — gegen die Steinmauer und schlitterte über den Boden. In einer Pfütze vor Kaitons Füßen blieb sie liegen.
Die Frau taumelte zurück, wich aus, als Val zu einem erneuten Hieb ausholte und schlug ihm stattdessen ins Gesicht. Ihre Bewegungen so schnell, dass er sie kaum wahrnehmen konnte, doch es steckte kaum Kraft hinter ihrem Angriff.
»Wartet«, rief Kaiton und machte mit erhobenen Händen einen Satz zur Seite, als Val der Frau auswich. »Ich kann alles erklären.«
Val achtete nicht auf ihn und auch seine Gegnerin antwortete ihm nur mit einem Schnauben. Er griff nach ihrer Kehle, um sie auf Abstand zu halten.
Sie holte ein weiteres Messer hervor und holte aus. Sein Griff löste sich, ehe sie ihm die Klinge in den Arm rammen konnte.
Doch nun hatte sie wieder die Oberhand und er musste ausweichen. Die Klinge zerschnitt den unerbittlichen Regenfall und trennte das Leder seines Mantels auf. Sie traf den Knochen seiner Prothese und hinterließ eine Kerbe.
Kälte fuhr seinen Arm hinauf. Taubheit prickelte wie tausend kleine Nadeln in seinen Fingerspitzen. Er biss die Zähne zusammen und schüttelte das merkwürdige Gefühl ab.
Sein nächster Schlag traf nur die Wand. Der Stein splitterte unter dem Aufprall und einige Brocken rieselten zu Boden. Als Val seine Hand anhob, verblieb ein Krater in der Mauer.
In Momenten wie diesen bereute er, dass er nie auf Anthonys Angebot, ihm einen Revolver oder einen Flammenwerfer in die Prothese zu bauen, eingegangen war.
Zwar trug er Waffen bei sich, aber die Frau würde ihm keine Chance geben, diese zu ziehen. Zu viel Zeit würde er brauchen, sie erst unter seinem Mantel hervorzukramen.
Doch ...
Er machte einen Satz nach hinten, als eine Klinge auf ihn niederfuhr, und brachte genug Abstand zwischen sich und die Gegnerin, dass er seine Knochenhand anheben und auf sie richten konnte.
Der Haken schoss hervor, doch im selben Augenblick rammte etwas gegen Val und riss ihn zur Seite. Sein versuchter Angriff prallte gegen die Wand und kaltes Metall legte sich von hinten an Vals Hals.
Er fror in der Bewegung ein. Seine Gegnerin witterte die Gunst der Stunde. Sie stürzte auf ihn los, aber ehe sie bei ihm ankam, wurde er herumgewirbelt.
Ein »uff« erklang und ihre Schritte, die in eine Pfütze platschten. Als er wieder herumgedreht wurde, war die Frau einige Meter zurückgetaumelt. Dunkle Augen funkelten ihn unter der Kapuze an, aber sie wagte keinen erneuten Angriff.
»Hört auf, euch zu bekämpfen«, sagte Kaiton.
»Lass mich los«, knurrte Val. Er hob seine Knochenhand und wollte sie an die Klinge legen, doch die Kälte schnitt in seinen Hals ein und warmes Blut quoll hervor.
»Nicht bewegen«, raunte Kaiton, die Worte so nah und ruhig an Vals Ohr gesprochen, dass ihm ein Schauer über den Rücken fuhr.
»Du verbündest dich mit dem Feind«, ergriff nun die Frau das Wort. Sie spuckte Blut auf den Stein und wischte sich mit dem Ärmel über den Mund. Leichte Röte blieb trotzdem auf ihren Lippen. »Er ist einer von ihnen.«
»Ist er nicht«, entgegnete Kaiton. »Er wusste nichts von all dem.« Mit gesenkter Stimme richtete er das Wort an Val. »Die Trengroves handeln mit Menschen und ihren Körperteilen. Wir fanden heraus, dass Anthony mit ihnen Geschäfte macht ... machte.«
»Also habt ihr ihn einfach umgebracht?« Vals Stimme glich nur einem tiefen Knurren. Sein Herz pumpte weiterhin Adrenalin in seinen Körper und versuchte, ihn zu überzeugen, dass er es notfalls auch mit Kaiton und der Unbekannten auf sich nehmen könnte. Als hätte er nicht in der vorherigen Nacht gesehen, zu was Kaiton fähig war.
»Das war nicht abgesprochen gewesen«, zischte Kaiton.
»Wozu lang warten, wenn wir doch wissen, dass er mit ihnen unter einer Decke steckt?«, entgegnete sie und zuckte mit den Schultern. Sie drehte ihr Messer weiterhin in ihrer Hand, als würde sie nur auf das Kommando warten, Val die Klinge in den Hals zu rammen.
»Darum geht es nicht.«
»Sie hat ihn einfach dort hängen lassen«, brachte Val hervor. »Damit die Krähen ihn fressen. Wer tut so etwas?«
Die Mörderin schnaubte. »Jemand wie er hat es nicht anders verdient.«
»Schlampe!«, spuckte Val ihr entgegen.
»Wichser.«
»Sam!« Kaitons Stimme schnitt sich zwischen sie. »Lass es gut sein.«
Sie stieß ein weiteres Schnauben aus, erwiderte aber nichts. Der Regen prasselte unerbittlich auf das Kopfsteinpflaster und erfüllte die Stille zwischen ihnen mit Rauschen.
Bis Kaiton erneut das Wort ergriff. »Geh«, sagte er an Sam gerichtet.
»Ich soll gehen?«, fragte sie. »Das –«
»Geh!« Diesmal hatte sein Ton jede Ruhe und Milde verloren. »Wenn du mir nicht gehorchst, dann habe ich keine Verwendung für dich.«
Sams Miene zuckte. Sie gab ihm ein Knurren, wandte sich dann aber tatsächlich ab und hastete aus der Gasse.
Erst nachdem ihre Schritte verklangen, verschwand das Messer an Vals Hals. »Es tut mir leid.« Kaitons Stimme ging fast in dem Rauschen unter. »Ich hatte nicht gewollt, dass es dazu kommt.«
Val achtete kaum auf ihn. Nun, da die Mörderin fort war und der Regen auf ihn einschlug, in seine Kleidung drang und sich bis auf seine Haut kämpfte, kühlte die flammende Glut in seinem Inneren und zurück blieb nur die Frage: Hätte er es verhindern können?
Kaiton hatte schon in der Nacht darauf bestanden, zu Anthony zurückzukehren, aber Val hatte nicht auf ihn gehört.
»Du hast davon gewusst?«, fragte Val, seiner Stimme fehlte jeglicher Klang. Salzige Flüssigkeit legte sich beim Sprechen auf seine Zunge.
»Nicht direkt«, meinte Kaiton. »Es ... es tut mir leid.« Das leichte Zittern gab den Worten einen ehrlichen Klang ... Vielleicht prasselten die Tropfen aber auch nur zu laut auf das Kopfsteinpflaster und verbargen die Falschheit.
»Ich muss allein sein«, sagte Val und setzte sich in Bewegung, ohne sich einmal umzudrehen. Die Welt um ihn herum verschwamm. Die Gassen, die Straßen, die Häuser, alles nur grauen Schlieren.
Keine Schritte folgten ihm.
Er war allein, als er seine Wohnung betrat. Hinter der Tür blieb er stehen, der Regen tropfte von seinem Mantel und sammelte sich in einer Pfütze unter seinen Sohlen.
Eigentlich sollte er zurückkehren, Anthony von dem Kronleuchter holen und begraben. Oder Sam suchen und töten. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, aber je mehr er versuchte, das Bild zu vergessen, desto deutlicher hob es sich hervor.
Anthony ...
Er verharrte. Die Kälte fraß sich durch seine Haut, sodass jede Bewegung ihm unmöglich erschien. Seine Muskeln gehorchten ihm nicht, nur seine Fingernägel bohrten sich in seine Handfläche.
Seine Wohnung erstreckte sich vor ihm. Normalerweise wies er das Grau von sich und zündete eine Lampe an, die warmes Licht ausstrahlte. Doch an diesem Tag ließ er es ein.
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