Gänseblümchen I
Ohne das Mondlicht oder die Sterne am Himmel hüllte sich die Nacht in Finsternis. Stille ließ jedes Geräusch, jeden Schritt umso lauter erklingen und in der Ferne schrie eine Krähe auf.
Sie waren nur kurz bei Val gewesen. Kaiton hatte sich bewaffnet und seinen Hut zurückgelassen. Trotzdem war der Schatten über seinen Augen keinen Hauch heller. Feine Regentropfen verwoben sich in seine Haare, saugten das Grau in sich auf und verdunkelten jede Strähne.
Die Mauern, die das Anwesen der Senatorin umgaben, hoben sich hoch in den Nachthimmel.
»Was willst du eigentlich wirklich dort?«, fragte Val.
Kaiton schüttelte leicht den Kopf. »Ich habe nur einige Ideen.« Diese Ideen beinhalteten Tote und auch die Senatorin wird nicht unbeschadet davon kommen.
Val schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter. Sein Blick wanderte an der Mauer hinauf. Er bräuchte vermutlich zwei Ansätze mit seinem Haken, um an den Wehrgang zu gelangen.
»Wie hättest du es gemacht, wäre ich nicht dabei?«, fragte er. Beim Sprechen legte sich der Nebel auf seine Lippen und seine Zunge. Nebel, der jedoch nicht frisch, sondern abgestanden schmeckte.
Kaiton gab nur eine vage Antwort, indem er mit den Schultern zuckte. »Wir sollten los«, sprach er dann.
Val nickte. Er suchte die Mauer nach einem Anhaltspunkt ab. Und fand ihn. Sein Arm schloss sich um Kaitons Körper und er hob seine knöcherne Hand. Der Haken schoss hervor. Das Seil verhakte sich in der Schießscharte und riss beide nach oben.
Ehe sie ganz angekommen waren, zog Val den Haken zurück. Er nutzte das Momentum aus und stieß sich von der Wand ab, während er im selben Augenblick das Seil erneut warf. Diesmal erreichte es die obere Kante der Mauer.
Kaiton löste sich schon von ihm, kurz bevor sie auf dem Boden landeten. Im Sprung noch zog er ein Messer.
Val taumelte, als er aufkam. Er war früher, kurz nachdem er die Prothese bekommen hatte, oft auf diese Art gereist. Einerseits, weil das Adrenalin im Flug dafür gesorgt hatte, dass er sich nach dem Unfall wieder lebendig gefühlt hatte. Andererseits, weil er die Grenzen der Knochenhand hatte austesten wollen.
Doch vor einigen Monaten war er allein gewesen und musste nicht noch einen zweiten Mann mit sich herumtragen.
Die Wache vor Kaiton fiel zu Boden. Blut spritzte aus ihrem Hals.
Er zog das Messer hinaus und schleuderte es auf den Wachmann, der gerade den Mund zu einem Schrei geöffnet hatte, um seine Kollegen zu benachrichtigen. Tief bohrte sich die Klinge in seinen Rachen. Er tastete nach ihr, versuchte, sie aus seinem Mund zu ziehen, doch seine Augen rollten zurück, ehe es ihm gelingen konnte, und er klappte auf dem Boden zusammen.
Manchmal glaubte Val, dass Kaiton ihn gar nicht brauchen würde, doch er war unsicher, ob es ihn traurig stimmen sollte oder nicht. Es hieß nur, dass es einen anderen Grund gab, weshalb Kaiton ihm seine Gesellschaft schenkte.
Kaitons Miene zuckte, ehe sie wieder Nüchternheit annahm. Er wischte sich durch das Gesicht und verschmierte damit das Blut auf seiner Wange. »Weiter.«
Der Innenhof bestand aus kaltem Stein, auf dem sich im Licht der weißen Scheinwerfer Nässe spiegelte. Kümmerliche Bäume, aus Metall geformt, dienten als ›Verschönerung‹ für den tristen grauen Garten.
Auf der anderen Seite ragte das Herrenhaus in die Höhe. Kaum eines der abertausenden Fenster, die wie Augen in das Nichts starrten, war erleuchtet. Nur eines.
Kaiton nickte und Val verstand.
Der Wehrgang war ruhig, als sie ihn entlangschritten. Die meisten der Wachen standen im Innenhof, einige trugen kleine Lichter auf der anderen Seite der Mauer umher.
Ihre Seite hingegen war finster und leer. Trotzdem hielt Kaiton bei jedem Schritt seine Nase wie ein Bluthund in den Wind.
Sie wurden nicht aufgehalten, als sie über den Wehrgang schlichen. Kaiton deutete auf einen stählernen Balkon, der um das Herrenhaus herumführte. »Da hin«, sagte er und rückte an Val heran.
Val schloss einen Arm um ihn und hob seine knöcherne Hand in die erwünschte Richtung. Nur einen Moment später, kamen sie mit einem Klonk auf dem Balkon auf.
Eine Hand schloss sich um Vals Kragen und zog ihn nach unten.
»Was war das?«, ertönte die Stimme einer Wache im Innenhof. »Ich glaube, hier schleicht jemand umher.«
»Hm?«, machte eine andere. »Das hast du dir sicher nur eingebildet. Langsam wirst du echt paranoid.«
»In diesen Zeiten müssen wir vorsichtig sein. Hast du nicht gehört, dass jemand bei den Trengroves eingebrochen ist?«
»Ihr eigener Sohn. Der wird sich schon nicht hierher verirren. Was sollte er überhaupt bei Senatorin Redville wollen?«
Von der anderen Wache kam nur ein Murren zurück. Kaitons Finger lösten sich langsam von Vals Kragen.
»Hör auf zu schmollen«, meinte nun die eine Wache wieder. »Es war sicher nur der Wind.«
Kaiton beugte sich zu ihm. »Hilf mir hoch«, flüsterte er, jedes Wort kribbelte an Vals Ohr. Er sah auf.
Direkt über ihnen war das beleuchtete Fenster.
Val nickte und verschränkte seine Finger ineinander, sodass Kaiton mit dem Stiefel hineintreten konnte. Er hob ihn hoch und ...
Glas klirrte und rieselte auf ihn nieder, verfing sich in seinem Mantel und schnitt in sein Gesicht. Das Gewicht in seinen Händen verschwand.
Dieser ... Val schüttelte den gedanklichen Fluch aus seinem Kopf. Das war so nicht abgesprochen gewesen. Zugegeben, sie hatten nichts abgesprochen, aber das am allerwenigsten.
»War das etwa auch der Wind?«, rief eine Wache. Schritte folgten.
Grelles Licht blendete Val und er hob seine Hand, um es abzuschirmen. Er war doch nur ein einfacher Schmuggler, der sich eigentlich gar nicht mit solchen Dingen beschäftigen sollte.
Dumpfes Schlagen kam von oben, metallisches Schleifen. Was zur Hölle, Kaiton!
Val ließ seinen Arm nach oben schnellen, sodass der Haken hervorkam, und im nächsten Augenblick stand er schon im Raum.
»Ihr seid doch wahnsinnig«, spuckte die Senatorin Redville aus. Das flackernde Licht der Kerzen tanzte über das Blut, das von ihrer Lippe und ihrer Schläfe floss. In den hölzernen Tisch vor ihr war eine splitternde Delle geschlagen. Über den roten Teppich lagen Notizen verteilt, einige blutverschmiert, andere zerrissen.
Vor der Senatorin stand Kaiton, ein Messer an ihren Hals gelegt. Blut floss schon aus einem schmalen Schnitt.
»Kaiton«, wies Val ihn zurecht. »Du kannst doch nicht einfach alle Heimlichkeit aufgeben.«
Er erhielt nur ein leises Knurren.
»Und wer ist das?«, fragte die Senatorin. Sie schenkte ihm wenigstens einen Blick, wenn er auch voll von Abscheu war. »Er stinkt nach Gosse und Armut.«
Val ignorierte ihre Worte. Er hatte schon schlimmere Beleidigungen gehört, wenn er mit Adeligen zu tun hatte. Er durchschritt den Raum, nahm einen Stuhl auf, der lieblos auf den Boden geworfen worden war, und klemmte ihn unter die Türklinke.
»Seid vorsichtig, was Ihr sagt«, zischte Kaiton. Das Messer schnitt in ihren Hals. »Und nun kommen wir wieder zu meiner Frage.«
Val verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen die Wand. Der Boden erbebte von all den Schritten, die im Haus unterwegs waren. Es würde nicht lange dauern, bis die Wachen hier waren. Und ein Stuhl würde sie auch nicht ewig aufhalten.
»Ihr könnt den Kaiser nicht töten«, die Senatorin lehnte sich nach hinten, um der Klinge zu entkommen, aber Kaiton packte ihren Nacken.
»Ich glaube Euch nicht.« Seine Worte waren leise gesprochen, doch trugen in jeder Silbe seine Tötungsabsicht.
»Hört Euch doch nur einmal an.« Redville schnaubte. »Ihr wollt Kaiser Aetherion töten. Ihr wart schon immer arrogant, aber noch nie so größenwahnsinnig.«
»Es muss einen Weg geben«, sagte Kaiton. »Ansonsten seid Ihr für mich unbrauchbar.«
»Wartet!«, rief Redville.
Die Schritte wurden lauter, die Erschütterung stärker. Sie mussten mittlerweile in diesem Stockwerk angekommen sein.
»Sein Tod würde Schrecken über uns bringen«, sagte Redville schnell. »Er brachte uns die Technologie. Nur durch ihn besteht sie weiterhin. Alles wird zusammenbrechen, wenn er nicht mehr existiert, und Ihr ... Ihr werdet sterben.«
Jemand rüttelte an der Tür. Ein Schuss ertönte im Korridor und das Holz an der Klinke splitterte.
Val zog seinen Revolver und entfernte sich ein wenig von der Tür, um nicht von einer fehlgeleiteten Kugel getroffen zu werden.
»ÖFFNET DIE TÜR!«
Kaiton stieß ein Schnauben aus. Seine Klinge fuhr in einem Ruck über Redvilles Hals und er entließ sie aus seinem Griff. Sie brach zusammen, ein Gurgeln entkam ihrer Kehle.
»War das wirklich notwendig?«, fragte Val.
»Schau dir ihr Handgelenk an«, meinte Kaiton und hob ihren Arm an. Der Ärmel rutschte zurück und entblößte eine schwarze Kette, die sich in ihre Haut gebrannt hatte. »Ich habe sie befreit. Und jetzt los. Lass uns gehen.«
Die Tür splitterte und der Stuhl unter der Klinke brach in sich zusammen. Einen genaueren Hinweis brauchte Val nicht.
Er hastete zum Fenster und sprang hinaus. Seine Knie würden ihn irgendwann hassen, aber wenigstens würden sie ihn jetzt nicht umbringen. Kaiton landete neben ihm.
»Senatorin!«, rief jemand von oben. Schritte. »Senatorin Redville!«
Val ließ sich keine Zeit. Er rannte los.
Eine Kugel prallte neben ihm an einer Metallstrebe ab und flog an seinem Knie vorbei. Er würde seinem Schutzengel für all die Arbeit, die er in der letzten Zeit leistete, einen Kaffee ausgeben müssen.
Er griff nach Kaiton und warf den Haken auf die nahe Mauer. Kaum, dass er aufkam, bebte die Erde unter schweren Schritten.
Er taumelte kurz, bis er seinen Halt wiederfand. Kaiton hingegen schien die Erschütterung nicht beeinträchtigt zu haben. Er blickte starr auf die Gestalt, die sich vor ihnen weit über ihre Köpfe hinweg erhob.
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