Finstere Lügen I

Val öffnete die Augen, er blinzelte. Dunkelheit. Er versuchte, sich aufzurichten, aber sanfter Druck auf seiner Brust hielt ihn davon ab.

»Dies ist nicht der beste Ort, um das Bewusstsein zu verlieren.« Warmer Atem traf bei jedem Wort gegen sein Ohr und schickte ihm einen Schauer über den Rücken.

Langsam klärte sich das Bild vor seinen Augen auf und die Gerüche nach Verwesung und Tod kehrten zurück.

Er war in dem Schacht, mit dem Rücken gegen Kaiton gelehnt. Offenbar hatte dieser ihn wieder hineingezogen, nachdem er bewusstlos geworden war.

»Bist du ganz zurück?«, fragte Kaiton. Jedes Wort leise gesprochen, sodass die Stimme einen leicht rauen Klang erhielt.

Val nickte nur schnell und der Druck auf seiner Brust verschwand.

»Dann los. Wir waren schon viel zu lang hier.«

»Wie lange war ich weg?«, fragte Val. Dem Kratzen seiner Stimme und den Schmerzen in seinen Schultern zu urteilen, eine Weile.

»Zu lange«, antwortete Kaiton nur und Val musste sich damit begnügen. Er setzte sich in Bewegung und kroch durch den engen Tunnel in den Abstellraum.

Kurz nach ihm tauchte Kaiton auf. Er schraubte das Gitter zurück vor den Schacht und deutete Val dann mit einer Handbewegung an, ihm zu folgen.

Zurück in die Kanalisation. Val konnte nicht sagen, welcher Gestank der schlimmere war.

Kaiton hob die Öllampe am Fuße der Leiter auf, aber er stockte, ehe er sie entzünden konnte. Sein Auge glühte auf.

Stimmen hallten an dem kalten Stein wider. Ein Lichtschein flackerte um die nächste Ecke herum.

»Natürlich wurden wir wieder hierhin geschickt«, sagte der eine. »Es ist fast, als hätte seine Lordschaft etwas gegen uns.«

»Halt die Klappe«, antwortete ihm jemand. »Stell dir nur vor, wenn sie wirklich durch die Kanalisation eingedrungen sind und wir es herausfinden. Dann werden wir befördert und wir müssen nie wieder im Dreck kriechen.«

Val wollte sich abwenden, aber Kaiton meinte: »Zu spät.« Die beiden Wachen bogen um die Ecke.

»HEY!«, rief eine. »SIE SIND HIER!«

Val zog seine Pistole aus dem Holster, doch ehe er sie heben konnte, knallten schon zwei Schüsse wider. Eine Kugel schlug kurz hinter Kaiton auf, einer der Wachmänner kippte rückwärts zu Boden. Die Lampe, die er trug, zerschellte auf dem Stein und die Tunnel hüllten sich in Dunkelheit.

Rotes Licht blitzte auf, dann ertönte ein weiterer Schuss, gefolgt von dem dumpfen Poltern.

Die Öllampe in Kaitons Hand entzündete sich und enthüllte zwei Körper am anderen Ende des Ganges. Zwei schwarze Schatten des Lebens.

»Geht es dir gut?«, fragte Val.

Kaiton schnalzte mit der Zunge – ob, weil er von der Frage genervt war, oder weil sie gefunden worden waren, konnte Val nicht sagen. »Ich wurde nicht getroffen«, antwortete Kaiton letztlich auf die Frage. »Wir müssen weiter.«

Bitterkeit legte sich auf Vals Zunge, aber er schluckte sie hinunter und versuchte, sie zu ignorieren. Erstmal mussten sie in Sicherheit gelangen.

Doch, als er hinter Kaiton ging, bemerkte er am Rande des Mantels ein kleines Loch, das zuvor noch nicht dort gewesen war. Insgesamt machte er jedoch nicht den Eindruck, als wäre er getroffen worden, aber ...

Val presste die Lippen zusammen und bezwang das Jucken in seinen Fingerspitzen, das ihn überzeugen wollte, Kaitons Mantel aufzuknöpfen und einen genaueren Blick auf ihn zu werfen.

»Ich kenne einen Ort in der Nähe, an dem wir erst einmal unterkommen können, bis sich die Lage beruhigt hat«, sagte Kaiton.

Einige Straßen weiter steuerte Kaiton ein Gebäude an. Eine Spelunke, den Betrunkenen vor dem Eingang und dem stechenden Geruch von billigem Alkohol nach zu urteilen. Vals Nase war an diesem Tag wohl noch nicht ausreichend bestraft worden.

Kaiton manövrierte sich geschickt an den Leuten vorbei, Val jedoch stieß mit den Schultern gegen den ein oder anderen. Einer drehte sich zu ihm, pöbelte irgendwelche lallenden Worte, aber nachdem er einen Blick auf Val – und vor allem die Tatsache, dass er den Mann um einige Zentimeter überragte – warf, schluckte er die Anschuldigungen hinunter.

Qualm stob aus dem Inneren, als Kaiton die Tür öffnete und sie für Val hielt. Drinnen war es genau so angefüllt von Menschen. Gläser klirrten, Grölen drang durch den gesamten Raum. An der einen Seite stürzten zwei Männer um die Wette ihre Krüge in die Rachen, auf der anderen Seite spielten einige Leute Karten.

Lange blieben sie nicht in dem Hauptraum. Kaiton nickte dem Wirt zu und ging dann in ein Hinterzimmer, von dem aus eine Treppe in den Keller führte.

Eine Krähe schrie auf, als sie den Raum betraten. Von den steinernen Wänden hallte das Geräusch laut wider. Im ersten Moment sah Val nur einen Hut, doch als sich dieser bewegte und anhob, erkannte er, dass sich darunter eine Gestalt in Schwarz verbarg. Im Schatten der Krempe blitzten zwei schwarze – gänzlich schwarze – Augen hinter runden Gläsern auf. Ein Lächeln lag auf den Lippen, weder freundlich noch warm, sondern ein wenig zu breit, sodass es an ein Zähnefletschen erinnerte.

»Sieh an, sieh an, wer sich wieder hierher wagt.« Die Stimme kratzig und rau. Er streckte eine Hand zu der Krähe aus, die auf einem Ständer neben ihm mit den Flügeln schlug, und strich ihr durch das Gefieder. »Keine Sorge, meine Liebe«, flüsterte er ihr zu. »Der Lordling wird dir nicht nahe kommen.«

Der Hut drehte sich wieder in Kaitons Richtung. »Ich hatte mich schon darauf gefreut, Euch von der Straße kratzen zu müssen.«

»Hat Sam nichts gesagt?«, fragte Kaiton. Etwas in seinem Ton war anders. Meist, wenn er mit Val sprach, trug seine Stimme eine Leichtigkeit, eine kleine, mal stärker, mal schwächer ausgeprägte Melodie. Doch nun erklang nur Härte und Kälte.

»Sie hat gesagt, dass Ihr mit einem sehr unsympathisch aussehenden Mann unterwegs seid.« Die schwarzen Augen wanderten zu Val. »Ich kann nicht sagen, dass sie gelogen hat.«

Val verschränkte die Arme vor der Brust. »Ernsthaft?«

Sein Gegenüber zuckte mit den Schultern. »Nur die Wahrheit.«

»Ich lebe noch«, lenkte Kaiton die Aufmerksamkeit zurück auf sich. »Und ich habe einige interessante Dinge in dem Anwesen der Trengroves erfahren. Lasst mich ein.«

Der Krähenmann deutete auf die Tür hinter sich. Der Ringfinger fehlte der Hand. Sein Mantel war gespickt mit Löchern und Rissen und hatte weite Ärmel, die tief angenäht waren, sodass man sie für Flügel halten könnte.

»Ich würde Euch doch nie aufhalten.« Er neigte leicht den Kopf und tippte sich gegen die Hutkrempe. »Einen schönen Abend noch, Eure Lordschaft.«

Kaiton rollte mit den Augen und ging ohne eine Antwort an ihm vorbei. Val musterte den Krähenmann noch kurz, folgte dann aber.

Hinter der Tür erstreckte sich ein weiter Korridor. Der kalte Stein war zu warmen Holz geworden und kleine Flammen in Lampen erhellten den Weg.

»Eure Lordschaft?«, fragte Val.

Kaiton zuckte beiläufig mit den Schultern. »Er hat mit ›Eure Majestät‹ angefangen. Dagegen ist ›Eure Lordschaft‹ schon ein Fortschritt.«

Val nickte es zwar ab, doch leichte Bitterkeit legte sich auf seine Zunge. Die leise Ahnung, dass Kaiton nicht war, was er vorgab zu sein. Sein Blick fiel auf das Einschussloch in dem Mantel, aber er hielt seine Frage zurück. Gerade konnte er es nicht gebrauchen, dass Kaiton ihn hochkant hinauswarf.

Irgendwann – das nahm er sich vor – würde er jeden einzelnen Satz auf die Grundmauern schleifen und die Wahrheit prüfen. Er würde jede einzelne Lüge aufdecken, denn er war sich sicher, dass sich Kaiton in viele von ihnen hüllte.

Doch vorerst musste er sich zurückhalten. Vorerst durfte er nur beobachten.

Kaiton stieß die Tür am Ende des Korridors auf. Ein Stimmenmeer schwappte ihnen entgegen, erstarb aber, als er den Raum betrat. An der anderen Seite prasselte ein Feuer im Kamin und nasse Mäntel hingen über Stühlen davor. Mehrere Menschen – Männer und Frauen verschiedenen Alters – saßen an Tischen und hatten sich offenbar bis vor einer Sekunde noch unterhalten.

Val erkannte Sam. Ihre Kapuze hatte sie abgelegt und so zeigte sich ihr wildes rabenschwarzes Haar. Sie erwiderte den Blick und drehte ein Messer in ihrer Hand. Ein schiefes Lächeln legte sich auf ihre Lippen, aber kein Strahlen erreichte ihre Augen.

Die Bilder von Anthony flammten erneut in Val auf, aber er zwang sich, seinen Zorn hinunterzuschlucken. Irgendwann würde er sie in die Finger bekommen, wenn niemand ihrer Kameraden bei ihr war, um sie zu retten. Bis dahin musste er sich gedulden und die Stimme in seinem Kopf, die nach Rache schrie, ignorieren.

Seine Hand ballte sich zur Faust. Die Gelenke bewegten sich nur langsam, widerstrebten jedem Befehl und leichte Spannung legte sich auf das Messing in seinen Knöcheln.

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