Familienangelegenheiten
Zwei Tage vergingen, in denen Val hauptsächlich damit beschäftigt war, Fleischreste aus seiner Knochenhand zu pulen und seine blutige Kleidung zu waschen.
Der Abend traf schon fast auf die Nacht. Regen prasselte gegen die Fensterscheiben und ein leises Trommeln erfüllte den ganzen Raum. Nicht einmal das Violinenspiel seines Nachbarn kam dagegen an.
An genau diesem Abend klopfte es an Vals Tür.
Als er sie öffnete, fiel sein Blick auf Kaiton, der einen Lederkoffer in der Hand trug. Wasser tropfte von seinem Hut und dem Saum seines Mantels und sammelte sich auf den Dielen. Der Größe der Pfütze nach zu urteilen, hatte er schon einige Zeit dort gestanden, bevor er sich durchgerungen hatte, zu klopfen.
Er ließ seinen Kopf gesenkt, sodass die Hutkrempe seine Augen verbarg. »Wäre es möglich, dass ich für eine Weile hierbleibe?«, fragte er.
»Natürlich.« Val trat zur Seite und ließ ihn ein.
Kaiton nahm seinen Hut ab und ging mit hängenden Schultern an ihm vorbei. Sein Auge war gerötet und unter beiden lagen tiefe Ringe. Weitere Regentropfen glitzerten golden in seinen Haaren.
»Deine Gruppe hat also herausgefunden, dass du ein Trengrove bist?«, fragte Val, nachdem er die Tür wieder geschlossen hatte.
Kaitons Blick schoss nach oben, hing zwischen Erschrockenheit und Angst, ehe jede Emotion wieder hinter einem Schatten verschwand. Ein unsicheres Lächeln legte sich auf seine Lippen. »Dann hast du es herausgefunden?«
»War nicht allzu schwer«, meinte Val. »Die Worte der Senatoren und deine Reaktion darauf waren sehr eindeutig.«
Kaiton schnaubte und zog seinen Mantel aus. »Nachdem du danach nichts gesagt hattest, dachte ich schon, du wärst noch dümmer, als du aussiehst.« Vermutlich sollte Schärfe in seiner Stimme liegen, doch die Erschöpfung ermattete sie.
Ein leises Seufzen schwebte aus Vals Brust. Wie könnte er Kaiton nicht niedlich finden?
Doch seine Miene gefror, als ihm etwas anderes bewusst wurde. »Hast du mich deshalb geküsst?«, fragte er. »Um dir eine Alternative zu schaffen, sollten sich deine Leute gegen dich stellen.«
»Nein«, sagte Kaiton schnell und wich einen Schritt zurück. Die Erschrockenheit in seiner Miene wirkte echt, doch Val konnte nicht sagen, ob es daran lag, dass er Kaitons Plan durchschaut hatte, oder weil er die Wahrheit gesprochen hatte.
Val verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich an die Wand. »Es kümmert mich wirklich nicht, welchen Nachnamen du trägst, und ich kann verstehen, dass du ihn mir nicht verraten hast. Und ich habe auch nichts dagegen, dass du mich küsst, aber wenn du es tust, dann solltest du es ehrlich meinen.«
Kaiton presste seine Lippen zusammen und blickte gen Boden. Er verlagerte sein Gewicht von einem Bein auf das andere und schwieg.
Val stieß sich von der Wand ab. Wahrscheinlich hatte Kaiton den Kuss nicht ernst gemeint und nur sein Überleben sichern wollen. Er zürnte ihm nicht einmal, er fragte sich nur, wann er ihm das Gefühl gegeben hatte, dass solche Schritte notwendig waren.
»Setz dich«, sagte er und deutete auf das Sofa.
Kaiton folgte der Weisung und ließ sich auf die Couch fallen. Er strich sich die nassen Haare aus dem Gesicht und entblößte damit eine kleine Narbe auf seiner Stirn. Sie war blasser als der Rest. Eine ferne Erinnerung aus einer Zeit, als er noch ein anderer war.
Er war als Sohn einer Adelsfamilie aufgewachsen und hatte sich von ihnen gelöst. Er hatte Menschenhandel als alltägliches Geschäft kennengelernt und sich doch dagegen gestellt.
Und Val hatte ihm einst vorgeworfen, dass er nicht verstehen würde, was es hieß, in der Stadt herangewachsen zu sein. Dass man blind für das Leid anderer würde, dass Krankheit und Tod unausweichlich waren und man sich nicht gegen die Obrigkeit wehrte.
Val durchquerte den Raum und setzte sich zu ihm. »Was hast du nun vor?«
Kaiton hob die Schultern. »Ich weiß nicht«, gab er zu. »Meine Leute haben noch nicht herausgefunden, wer ich bin, aber ich wollte nicht dort bleiben, bis sie es erfahren. Schon jetzt gab es Gerüchte und es wurde getuschelt, sobald ich den Raum betrat. Bald hätten die Ersten meine Sachen durchwühlt und irgendwann wären sie mir aufgelauert, um mich umzubringen.«
Für einen Moment schwieg er, ehe er weitersprach: »Eigentlich weiß ich, was zu tun ist, nur weiß ich nicht, wie. Nachdem ich gesehen habe, wie Aetherion die Senatoren an seinen Fäden tanzen lässt, kann ich meine Augen nicht davor verschließen, aber mir sind die Hände gebunden, um etwas zu verändern.«
Er hatte es nicht direkt ausgesprochen, aber es war nur zu deutlich, was sein neues Ziel war. Wenn er die Trengroves besiegte, würden neue Menschenhändler ihren Platz einnehmen. Er wollte das Problem an der Wurzel packen. Er wollte den Kaiser töten.
Val hatte immer nur niedere Ziele verfolgt – er hatte überleben und dafür sorgen wollen, dass seine Vertrauten sicher waren. Kaiton hingegen wollte die Welt verändern.
»Vielleicht sollten wir es für heute ruhen lassen«, schlug Val vor und legte eine Hand auf Kaitons Schulter.
Dieser versteifte sich kurz unter der Berührung, doch ließ die Anspannung mit einem schweren Seufzen von sich abfallen. »Ich wünschte nur, ich hätte schon eine Lösung.«
»Lösungen kommen doch nie, wenn man nach ihnen sucht«, sagte Val und drückte noch einmal Kaitons Schulter, ehe er sich erhob. »Morgen werden wir weitersehen.«
»Wir?«
»Natürlich wir. Du glaubst doch nicht etwa, dass ich dich den Kaiser allein töten lasse?«
»Und ich dachte, dass ...« Kaiton schüttelte den Kopf und lächelte erschöpft. »Nichts.«
Val wartete noch für einen Moment, falls sich sein Gegenüber doch entschloss, ihn an seinen Gedanken teilhaben zu lassen. Aber das geschah nicht.
»Du kannst auf der Couch schlafen«, sagte Val letztlich. »Du weißt ja, wo du alles findest. Gute Nacht.«
Er nickte ihm zu und wandte sich ab. Doch als er eine Hand auf die Klinke zu seinem Schlafzimmer legte, hielt Kaiton ihn auf.
»Val«, meinte er. »Der Kuss, das ...« Er brach ab, presste kurz die Lippen zusammen, ehe er den Mund wieder öffnete und den Satz zu Ende brachte. »Der Kuss war kein Trick.« Leiser ergänzte er: »Zumindest nicht nur.«
Val schenkte ihm ein Lächeln. Ein Teil von ihm wollte zurückkehren und Kaiton in seine Arme schließen, doch der andere Teil war lauter, der ihm riet, dass er sich zurückhalten sollte.
»Das freut mich«, sagte er, drehte sich um und betrat sein Schlafzimmer.
»Mr. Norwood, tretet bitte ein. Ihr werdet bereits erwartet.«
Will ging an dem Diener vorbei und Matthew folgte ihm in das Gebäude. In der Eingangshalle füllten tausende Bücher hohe Regale an und in jedem Raum, den sie passierten, stapelten sich weitere. Schwere Vorhänge hingen vor den Fenstern und sperrten das wenige Sonnenlicht aus, das durch die Wolken drang.
Dort sollte sich einer von Wills Kontakten befinden, der wüsste, wie man den Kaiser ausschalten konnte. Aetherion war nicht wie ein einfacher Mensch zu besiegen, aber auch eine Maschine hatte ihre Schwachstellen und einen Ort, von dem aus sie gesteuert wurde.
Vor einer Tür blieb Will stehen. Er klopfte an, wartete aber nicht, bis er hineingebeten wurde, und stieß sie stattdessen sofort auf.
Eine Krähe schrie auf und schlug mit den Flügeln.
Inmitten von Büchern stand ein Schreibtisch und an diesem saß ein Mann. Die langen schwarzen Haare trug er ordentlich zusammengebunden. Der dunkle faltenfreie Gehrock war bis unter das Kinn geschlossen.
Er hob den Blick und musterte sie hinter einer runden Brille. Seine Augen ähnelten der Nacht, glanzlos und schwarz.
Neben ihm auf dem Schreibtisch stand eine Stange, auf der eine Krähe saß. Der schwarze Vogel beruhigte sich, als der Mann eine Hand hob und ihr durch das Gefieder fuhr.
»Mr. Norwood, Lord Brigham«, begrüßte er sie. Seine Stimme war kratzig und rau. »Ich habe Euch bereits erwartet.« Er erhob sich, um auf die beiden Stühle vor sich zu deuten. »Setzt Euch.«
Beide kamen der Anweisung nach.
»Mir kam zu Ohren, dass Ihr einen Weg sucht, den Kaiser zu besiegen«, sprach der Mann. »Ein nobles, wenngleich gefährliches Unterfangen, das Ihr Euch gesucht habt.« Seine Worte waren langsam gesprochen, als erwarte er nach jedem Satz Applaus.
»Wie sagtet Ihr, ist Euer Name?«, fragte Matthew, ehe der Fremde weitersprechen konnte.
Ein etwas zu breites Lächeln legte sich auf die Lippen seines Gegenübers. »Ich habe mich nicht vorgestellt. Doch, wenn Ihr darauf besteht, dann dürft Ihr mich Corak nennen.«
Matthew hakte nicht nach, ob er auch einen Nachnamen erhielt.
»Aber meine Wenigkeit ist hier nicht von Interesse«, fuhr Corak fort. »Ihr wollt Aetherion töten und dafür gibt es einen Weg. Er ist eine Maschine und jede Maschine hat einen Antrieb. Eine Kraft, ohne die sie nicht existieren kann.«
Ein kalter Schauer fuhr an Matthews Rücken hinab. Jedes Härchen auf seinem Körper stellte sich auf. Er wusste, was Corak sagen würde, noch ehe dieser den Mund öffnete.
»Er ernährt sich von den Armen, den Unerfahrenen, den Törichten. Er ernährt sich von Leben. Zunächst waren es nur Pflanzen, doch bald konnte er nicht mehr genug Energie aus ihnen ziehen, sodass er anderes zu sich nehmen musste. Menschen.«
Corak lachte leise. »Doch all dies ist Euch schon bekannt. Ihr seid nur hier, da Ihr hofft, es gäbe einen anderen Weg.«
Eine Schlinge zog sich, schwer wie eine Eisenkette, um Matthews Kehle. Sein Handgelenk brannte. Die nächsten Worte verschwammen in seinem Kopf. Nur das Echo eines gleichförmigen Dröhnens hallte im Raum wider.
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