Eine neue Welt I

Die Sonne hielt sich hinter den schweren Wolken versteckt, doch der Regen hatte nachgelassen.

Kaiton führte den Weg an. Seine Schritte waren schnell, seine Miene finster. Weniger, weil Sam noch am Leben war, sondern weil sich der Krähenmann gegen ihn gestellt hatte, vermutete Val.

Sie wichen den geschäftigen Straßen aus und blieben in den Seitengassen. Der Geruch von Moder lag in der Luft. Hier und da bewegte sich ein Lumpenhaufen, wenn sie an ihm vorbeigingen, und bat um Geld, doch nichts brachte Kaiton dazu, seine Geschwindigkeit zu drosseln.

Bald waren sie gezwungen, auf die Hauptstraße zu treten. Menschen hasteten hin und her, aber niemand hatte ein Auge für den anderen. Sicherlich versuchten sie, vor dem nächsten Regen ihre Geschäfte abzuschließen. Einige husteten und der schwere Geruch von Blut und Rauch lag in der Luft.

Durch eine Ritze im Pflasterstein spross ein Blümchen, das in Gelb erblühte. Ein Farbklecks im Grau der Stadt.

Ein schwaches Lächeln legte sich auf Vals Lippen, als er vorbeiging. So sehr auch versucht wurde, die Natur einzudämmen, sie fand stets ihren Weg, selbst in die Tiefen der Stadt.

»Mama, schau mal«, hörte er ein Kind hinter sich, dass ebenfalls die Blume entdeckt hatte.

»Fass es nicht an!«, folgte der scharfe Befehl einer Frau. »Das ist schmutzig.« Das Klacken eines Absatzes, der auf Stein traf, hallte durch die Straße.

Val drehte sich nicht um. Sein Lächeln verblasste und ein schweres Seufzen formte sich in seiner Brust, trat aber nie über seine Lippen.

Kaiton hingegen warf einen Blick zurück. Seine Miene verhärtete sich und er stieß ein Schnauben aus. Nach einigen weiteren Schritten knurrte er: »Barbaren.«

Eine Brücke trennte die Oberstadt von dem Rest. Und unter dieser Brücke ... endloser Abgrund. Manchmal, an einem sonnigeren Tag, glänzte in den Tiefen Wasser.

Nur zwei Eingänge führten in das Viertel der Adeligen, beide an gegenüberliegenden Seiten. Eine Vorsichtsmaßnahme, falls erneut eine Seuche ausbrach oder sich die Bevölkerung für eine Revolution entschied. Dort drinnen waren alle sicher ... oder eingesperrt.

Kaiton steuerte zielsicher die Brücke an. Val hinter ihm folgte zögerlicher, denn ein metallisches Konstrukt bewachte die Überführung und ragte hoch über ihnen auf. Im entferntesten Sinne glich es einem Menschen, doch er bestand aus Rüstung und nur ein Scheinwerfer glühte als Auge auf sie hinab. Beulen und dunkelrote Flecken trug er wie Kriegsbemalung auf dem Stahl.

»Keinen Schritt weiter.« Erst jetzt bemerkte Val die Wache, die neben dem Metallwächter stand.

»Ich habe das Recht einzutreten«, sagte Kaiton in kühlem Ton und zeigte den Ring mit ineinander verschlungenen Zahnrädern vor. »Fürst Trengrove ist mein Vater.«

Val warf ihm einen Blick zu. Kaiton log so gut, dass es wie die Wahrheit klang.

Die Wache kniff die Augen zusammen und musterte ihn. Er selbst blieb ruhig vor ihr stehen und hob das Kinn leicht an. Der Wind brachte seinen Mantel zum Flattern. Da Wolken über den Himmel zogen und keinen einzigen Sonnenstrahl hindurchließen, hatte das Grau seine Haare fast vollends eingenommen.

Der stählerne Wächter trat auf ein Nicken der Wache hin vor.

Vals Hände wurden schwitzig, aber er wich nicht zurück, denn er war nicht das Ziel.

Weißes Licht schien auf Kaiton nieder und er legte den Kopf in den Nacken, um direkt in den Scheinwerfer zu blicken. Er wich nicht zurück, er zuckte nicht, er blinzelte nicht einmal, bis die Lampe nach einigen Sekunden wieder erlosch.

»Ihr dürft eintreten, Lord Trengrove«, sagte die Wache und nickte ihm zu.

Kaiton schnaubte und wandte seinen Blick ab. Er ging an ihr vorbei, doch als Val ihm folgen wollte, hielt sie ihn auf.

»Er begleitet mich«, fiel Kaiton ihr ins Wort, gerade als sie den Mund öffnete. »Und Ihr habt Euch nicht gegen mich zu stellen.« Ein Hauch höfischer Arroganz, die kalt jeden Untertanen lähmte, schwang in den Worten mit. Die Bestimmtheit eines Befehlshabers, wenn er mit einfachen Soldaten sprach.

Die Wache sah an Val auf und ab. Ihr Blick verfinsterte sich, aber sie ließ ihn durch.

Er holte schnell zu Kaiton auf. »Lord Trengrove darf ich dich nun also nennen«, meinte er mit gesenkter Stimme, aber er erhielt nur ein Schnauben als Antwort.

Das Tor hinter der Brücke stand offen und dahinter erstreckte sich eine neue Welt.

Die Sonne zeigte sich am strahlend blauen Himmel und schickte Licht und Wärme in die Oberstadt. Am Straßenrand sprossen Bäume, wenn auch in Käfigen gehalten. Farbige Vorhänge zeigten sich in den Fenstern, Blumentöpfe mit roten, gelben und orangen Blüten auf den Fensterbänken. Die Menschen trugen Kleidung ohne Flicken und aus bunten Stoffen und niemand lag am Straßenrand und verrottete.

Val warf einen Blick zurück. Außerhalb der Tore war der Himmel bedeckt und ein Grau lag über der Welt.

»Nur der Schein«, sagte Kaiton. »Hier ist die Verderbnis nur innen, aber die Oberfläche glänzt weiterhin ... Bis irgendwann alles in sich zusammenfällt und die Wahrheit ans Licht kommt.« Er schnaubte. »Widerlich.«

Ihnen wurden immer wieder abgeneigte oder verwunderte Blicke zugeworfen, als sie durch die Straßen gingen. Kein Wunder. Es war, als würden sie ein Teil des Graus von außen in die Oberstadt mit sich führen, als wäre ihre flickenbesetzte Kleidung eine Beleidigung für jedes Auge.

In der Mitte eines großen Platzes plätscherte ein Brunnen, auf der eine Statue stand. Sie blickte auf jeden nieder, der sie passierte. In der einen Hand trug sie ein Schwert, doch es war gen Boden gerichtet, denn mit der anderen hob sie eine Schriftrolle an und schien jeden Moment aus ihr vorlesen zu wollen.

Marktschreier riefen durcheinander, priesen Speisen, Obst und Gemüse an, von dem Val zuvor noch nie gehört hatte. Andere stellten Gemälde von Künstlern vor, deren Namen er sich nicht merken oder sie auch nur aussprechen konnte. Und wieder andere führten die neusten Technologien vor – elektrisches Licht, das nicht wie zuvor weiß und kalt war, sondern stattdessen in einem kerzenähnlichen Orange glühte.

»Mach wenigstens deinen Mund zu«, sagte Kaiton. »Du siehst aus wie ein Kind, das zum ersten Mal Spielzeug bekommt.«

Val klappte seinen Kiefer zu. »Warst du schon einmal hier?« Er konnte sich nicht vorstellen, dass Kaiton so kalt auf alles reagieren würde, wenn er es zum ersten Mal sehen würde.

Die Antwort war nur ein vages Schulterzucken.

»Aufschlussreich wie immer«, meinte Val.

»Wir sollten weiter«, sagte Kaiton nur.

Bald hatten sie die Oberstadt durchquert und standen vor den Toren des Anwesens. Das Dach auf den Türmen glänzte in der Sonne golden, die Wände schimmerten in weißem Marmor.

Niemand hielt sie auf, als sie an den Wachen vorbei und in den Garten traten. Vielleicht lag es unter anderem an der Selbstverständlichkeit, mit der Kaiton durch die Straßen stolzierte. Im Licht der Sonne glänzte sein Haar silbern, seine Haut schien nicht ganz so fahl wie sonst.

Im Garten herrschte nicht länger dieselbe Geschäftigkeit wie in den Straßen. Nur das ein oder andere Pärchen kam ihnen Arm in Arm entgegen.

Kaiton steuerte nicht den Haupteingang an, sondern bog vorher in einen Sandpfad ein. Blumen in unzähligen Farben sprossen links und rechts des Weges. Die Hecken waren in Formen gebracht – Val sah einen Schwan, ein Pärchen, das miteinander tanzte, eine Landschaft mit Hügeln und Tälern.

Ruckartig blieb Kaiton stehen und Val sprang einen Schritt zur Seite, weil er es ihm nicht gelang, rechtzeitig abzubremsen.

Val war so sehr auf den Garten konzentriert gewesen, dass er gar nicht bemerkt hatte, wie sie die Residenz umrundet hatten.

Auf einen Fingerzeig Kaitons hin sah er an der marmornen Wand hinauf. Eines der Fenster war geöffnet und leise Klaviermelodien drangen hinaus. Kaiton streckte seine Hände nach ihm aus und sagte: »Nimm mich.«

Val verschluckte sich und hüstelte leise. Er wusste genau, was Kaiton meinte, nur hatte er im ersten Augenblick an etwas anderes gedacht.

Er erntete einen finsteren Blick von Kaiton. »Mach einfach«, sagte er. »Bevor uns noch jemand sieht.«

»Ja ... natürlich«, stammelte Val und umfasste Kaitons Taille. Er ließ die knöcherne Hand nach oben schnellen. Der Haken schoss hinaus und traf gegen das Fensterbrett.

Er zog die Hand zurück und wurde hochgeschleudert. Noch bevor sie gänzlich ankamen, stoppte er und half Kaiton in das Zimmer, ehe er selbst folgte.

Der Raum, in dem sie landeten, erstreckte sich weiter als Vals gesamte Wohnung. Gold und Silber glänzte im Licht der Sonne. In der Mitte stand ein Himmelbett, an einer Seite ein Schrank und daneben ein Tisch mit einem Spiegel.

Aus einem Plattenspieler klang die leise Musik, die nun eine schwere, tragische Note annahm. Das Zimmer stand leer, doch wer auch immer es bewohnte, würde vermutlich bald zurückkehren.

»Schnell«, flüsterte Kaiton und deutete ihm mit einer Handbewegung an, ihm zu folgen. »Wir wollen hier nicht gesehen werden.«

Sie verließen das Zimmer und traten in einen hohen Flur, umsäumt von marmornen Säulen und golden verziert. Keine Menschenseele war zu sehen. Die Anspannung hatte erst jetzt von Kaitons Körper Besitz ergriffen und verriet, dass er nur bis zu diesem Punkt geplant hatte. Wenn sie nun erwischt würden, dann könnten sie nur hoffen, dass seine Überzeugungskraft ausreichte, damit sie nicht zum Henker geführt wurden.

Warum hatte sich Val nochmal dazu breitschlagen lassen?

Kaitons Auge glühte auf. Wenigstens würde er sie vorwarnen können, falls jemand auf ihrem Weg wandelt. Seine Schritte waren vollkommen lautlos, obwohl er wie immer die klobigen Stiefel trug. Das einzige Geräusch von ihm war ein leises Rascheln seines Mantels, wenn er sich bewegte.

Val hingegen hatte sich noch nie in seinem Leben so fehl am Platz und auffällig gefühlt. Er schien jede einzelne knarzende Diele zu treffen. Mehr als einmal warf Kaiton ihm einen genervten Blick zurück, bis er vermutlich beschloss, dass es die Zeit nicht wert war.

Stimmen drangen durch die Tür am Ende des Korridors. Kaitons Auge leuchtete auf und er suchte den Raum dahinter ab, ehe er die Klinke ergriff und hinunterdrückte.

»Verweist sie aus der Stadt.«

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