Ein ungewöhnliches Bündnis
Ein Klopfen riss ihn aus dem Grau, doch seine Starre löste es nicht auf.
»Val?«, Kaitons Stimme erklang hinter der Tür. »Ich weiß, dass du da bist. Darf ich hineinkommen?«
Was machte er hier? Hatte Val ihm nicht klar gesagt, dass er allein sein wollte? Wieder einmal wurde ihm bewusst, welch großen Fehler er begangen hatte, als er Kaiton in seine Wohnung gelassen hatte.
»Es tut mir leid, dass ich wieder hier bin«, sagte Kaiton. »Aber ich denke nicht, dass du jetzt allein sein solltest.«
Val drehte sich zur Tür, seine Bewegungen langsam, mechanisch. Er hob eine Hand und wischte sich durch das Gesicht, ehe er die Klinke hinunterdrückte.
Sein Blick fiel auf Kaiton. Der Regen war weitestgehend von seinem Mantel abgeperlt und hinterließ nur an den Rändern der Flicken dunkle Flecken. Tropfen glitzerten in seinen Haaren.
»Was willst du hier?« Vals Stimme klang kratzig. Er konnte die Worte nur unter Zwang dazu bringen, seinen Mund zu verlassen.
»Darf ich hineinkommen?«, fragte Kaiton, ohne auf seine Frage einzugehen. Er strich sich die nassen Haare von der Stirn und entblößte dabei eine kleine weiße Linie direkt unter seinem Haaransatz.
Val brummte nur als Antwort und ging einen Schritt zur Seite.
»Du solltest dich aufwärmen«, sagte Kaiton, als er die Wohnung betrat. »Deine Lippen sind schon blau.«
»Schau sie nicht an, wenn es dich stört«, entgegnete Val, aber seiner Stimme fehlte der Nachdruck, den er ihr eigentlich verleihen wollte. Er schloss die Tür und folgte Kaiton in das Innere seiner Wohnung. Leises Tropfen begleitete seine Schritte.
»Willst du dir vielleicht etwas anderes anziehen?«, schlug Kaiton vor.
Wieder gab Val nur ein Brummen von sich, aber er schleppte sich in sein Schlafzimmer. Seine Knochen schienen mit Blei gefüllt, als er die Schubladen seiner Kommode öffnete und neue Kleidung herausholte.
Warum tat er, was Kaiton ihm sagte?
Es war nicht das erste Mal, dass Val einen Toten sah und auch nicht das erste Mal, dass er einen Vertrauten verlor, doch all das änderte nichts daran, dass ihm Anthonys leblose Gestalt vor Augen erschien, sobald er sie nur für einen Moment schloss.
Er schälte sich aus seiner nassen Kleidung, zog sich neue an und trat zurück in den Hauptraum. Kaiton hatte eine Öllampe entzündet und sich in die Küche begeben. Ein goldener Schein umgab ihn, doch die restliche Wohnung war nun von tieferem Grau eingenommen. Einzig der Baum im Bücherregal schenkte ein mattes Grün.
Val wandte sich ab und setzte sich auf das Sofa. Er vergrub sein Gesicht in den Händen. Sein ganzer Körper flehte nach Ruhe, danach, sich nicht länger zu rühren und die Welt an sich vorbeiziehen zu lassen, bis er unweigerlich bemerken würde, dass sich niemand dafür interessierte, ob er in Tristheit unterging, und er weitermachen musste.
Nach und nach verschlang die Stadt jeden. Meist die Unvorsichtigen oder diejenigen, die ein zu gutes Herz besaßen. Auf Anthony traf keines von beidem zu. Er hatte sich – wenn er Kaiton Glauben schenkte – nur auf die falschen Leute eingelassen.
Er hob den Kopf, als er Schritte hörte. Kaiton stellte die Öllampe auf den niedrigen Tisch vor dem Sofa und hielt Val eine dampfende Tasse entgegen.
Kurz betrachtete Val sie, ehe er sie annahm. »Was machst du hier?«, fragte er erneut und nippte an dem Tee. Er war noch zu heiß, um ihn wirklich zu trinken, aber die Wärme in seinen Handflächen breitete sich nach und nach in seinen gesamten Körper aus.
»Ich ...« Kaiton wich seinem Blick aus. »Ich wollte nicht, dass du allein bist. Das sagte ich doch bereits.«
»Aber wir kennen uns doch gar nicht«, meinte Val. »Dir sollte egal sein, wie es mir geht.«
Kaitons Blick schweifte auf der Suche nach einer Antwort durch den Raum, bis er sich wieder auf Val legte. Er setzte sich neben ihm auf das Sofa. »Ich weiß«, sagte er. »Aber es ist gewissermaßen meine Schuld, was geschehen ist, und du scheinst mir ganz anständig zu sein ... für einen Schmuggler.«
Vals Mundwinkel zuckten schwach. Er wurde schon vieles genannt, doch ›anständig‹ war nur selten dabei.
Er stieß ein lautloses Seufzen aus. Sein Blick verfing sich in dem Spiegelbild, das sich in seiner Tasse reflektierte. Matt sahen seine Augen zu ihm auf, eine leichte Rötung umgab sie. Er wischte sich über die Wangen, um die Tränenreste zu trockenen.
Eine Berührung ließ ihn aufsehen. Kaiton hatte ihm eine Hand auf die Schulter gelegt und drückte sie vorsichtig. Die Geste war eher unbeholfen, sein Blick spiegelte seine Unsicherheit wider.
»Du hast mir einiges zu erklären«, sagte Val.
»Ich weiß«, meinte Kaiton. »Aber vielleicht nicht jetzt.«
Val nickte nur langsam und wandte sich wieder seinem Spiegelbild zu. Er holte tief Luft und versuchte, jede Wärme, die die Tasse ihm gab, aufzunehmen. Die Kälte würde früh genug zurückkehren.
»Standet ...« Kaiton räusperte sich. »Standet ihr euch nahe?«
Val hob leicht die Schultern. »Er war einer der wenigen in der Stadt, zu denen ich Kontakt hatte. Ich habe für ihn gearbeitet und er hat sich regelmäßig hierdrum gekümmert.« Er hob seine knöcherne Hand. »Sie hat manchmal ihre Macken. Außer wenn es um Geschäftliches ging, haben wir wenig miteinander gesprochen, aber so einen Tod hat niemand verdient. Ob nun Freund, Bekannter oder Feind.«
»Ich hatte nicht gewollt, dass jemand zu Schaden kommt, bevor ich Genaueres weiß«, murmelte Kaiton. »Vor allem nicht auf diese Art. Ich habe ihn von der Decke geholt und begraben, nachdem du gegangen warst. Ich hoffe ... ich hoffe, ich bin dir damit nicht zu nahe getreten.«
Val schüttelte den Kopf. »Was meinst du damit, dass es deine Schuld ist?«
»Ich bin hier, um die Machenschaften der Trengroves aufzudecken«, erklärte Kaiton. »Und ich verdächtigte Anthony, dass er hinsichtlich des Menschenhandels mit ihnen zusammenarbeitet. Ohne diesen Verdacht, wäre Sam nicht auf die Idee gekommen, auf eigene Faust zu handeln.«
Val biss die Zähne zusammen, als ein Schatten von Sams Gesicht vor seinem inneren Auge auftauchte. »Ich denke nicht, dass es deine Schuld ist«, sagte er. Nur einer Person konnte er die Schuld an Anthonys Tod geben. »Glaubst du, dass Sam recht hat?«, fragte er. »Dass Anthony mit Leichenteilen gehandelt hat?«
»Ich weiß es nicht«, gab Kaiton zu. »Sam war gestern noch in dem Anwesen der Trengroves und ich vermute, dass sie dort einen Beweis für Anthonys Beteiligung gefunden hat. Ansonsten hätte sie wohl nicht so drastisch gehandelt.«
Val presste die Lippen zusammen. »Ich denke, sie hat Unrecht«, brachte er hervor.
»Und ich weiß nicht, was ich glauben soll«, gestand Kaiton. Er ließ seine Hand von Vals Schulter sinken und hinterließ eine Kälte, die Val zwar versuchte, abzuschütteln, aber sie blieb an ihm haften.
»Warum hast du mir nicht früher davon berichtet?«, fragte Val. Er hätte doch alles aufklären können, wie er es am Morgen versucht hatte.
»Ich ging davon aus, dass du sein Komplize bist und alles wusstest«, antwortete Kaiton. »Ich erkannte erst heute früh, dass ich falschlag.«
Val schluckte schwer. Kaiton hatte auch ihn umbringen wollen. Am Vortag hatte er gesehen, wie Kaiton kämpfte, welcher Ausdruck dabei sein Gesicht verdunkelte. Er hätte keine Chance gegen ihn gehabt, doch er war so töricht gewesen, ihm einen Platz für die Nacht zu gewähren und sich damit verwundbar zu machen.
Und doch zürnte er ihm nicht. Hier konnte man niemandem vertrauen und vor allem nicht denen, die den vertrauenswürdigsten Eindruck machten.
»Du bist also hier, um die Trengroves aufzuhalten«, sagte Val. Seine Stimme zeigte noch die Reste der Unruhe in ihm, aber er war nicht bereit, sich länger mit den Geistern der Vergangenheit zu beschäftigen. Sie würden ihn früh genug wieder heimsuchen.
Nun musste er erst einmal etwas anderes tun. Und dafür wäre Kaiton von nutzen.
Kaiton nickte als Antwort. »Ich traf sie bereits außerhalb der Stadt an und erfuhr, dass sie ihren Hauptsitz hier haben. Also kam ich hierher, fand einige Leute, die dasselbe Ziel verfolgen wie ich, und schloss mich mit ihnen zusammen.«
»Ich helfe dir, die Trengroves zu überführen«, sagte Val.
Kaiton neigte den Kopf und seine Augen verengten sich.
»Und wenn wir einen Hinweis auf Anthonys Unschuld finden, dann will ich Sams Leben.«
Für einen Moment herrschte Schweigen im Raum. Kaitons Adamsapfel hüpfte auf und ab. »In Ordnung«, sagte er letztlich. »Wenn Sam unrecht hat, dann werde ich nicht eingreifen, falls du sie töten willst. Mehr kann ich dir nicht versprechen.«
»Das reicht mir.«
»Ich wollte heute Nacht noch einmal in das Anwesen, diesmal im Geheimen, bevor sie die Wachen verstärken. Ich kann verstehen, wenn du mich nicht begleiten möchtest, aber ... das Angebot steht.«
»Ich komme mit«, sagte Val. Die Kälte, die Gedanken, das Grau würde zurückkehren, sobald er allein war. Irgendwann würde er bereuen, Kaiton seine Hilfe zugesichert zu haben, aber derzeit nahm er jede Ablenkung, die er bekommen konnte.
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