Ein Blick hinter die Fassade
Die Nacht war bereits angebrochen und die Stadt ruhig, als sie diese betraten. Vereinzelt mussten sie Wachen ausweichen, doch es war noch kein Chaos losgebrochen.
Aetherion hatte sicherlich bemerkt, was sich außerhalb der Stadt abgespielt hatte, aber er war an Menschen gebunden, die er erst dorthin entsenden musste.
Val schloss seine Wohnungstür hinter Kaiton. Der Geruch von verbranntem Fleisch und Verwesung heftete an seiner Kleidung und seinen Locken.
Kaiton hängte seinen Hut und seinen Mantel an den Kleiderständer. Er rieb sich die Augen und ließ die Schultern in einem lautlosen Seufzen sinken.
Während des Rückweges hatte er kein Wort gesprochen und nur in seinen Gedanken verbracht.
»Weißt du schon, wie wir wieder in die Oberstadt gelangen können?«, fragte Val und legte auch seinen Mantel ab. Gegen den Geruch half es kaum. Vermutlich müsste er seine Kleidung verbrennen, um ihn gänzlich loszuwerden.
Kaiton schüttelte nur den Kopf. »Ich möchte gerade auch nicht darüber nachdenken.«
Kurz wog Val Worte auf seiner Zunge. Wollte Kaiton jetzt nur nicht sprechen, weil sie unweigerlich über das Thema seines Todes stolpern würden? Vielleicht war er gerade nicht in der Lage, sich in Ausreden zu flüchten.
Er legte Kaiton eine Hand auf die Schulter und drückte sie leicht. Die Worte brannten auf seiner Zunge, doch er schluckte sie hinunter. Es lag nicht an ihm, so lange nachzubohren, bis Kaiton notgedrungen alles gestehen würde.
Er zog ihn zu sich und schloss ihn in seine Arme.
Kaiton spannte sich unter der Berührung an, ehe er die Umarmung erwiderte und Val an sich zog.
Val strich sanft über seinen Rücken, doch die Anspannung, die sonst jedes Mal von Kaiton abgefallen war, blieb. »Alles gut?«, fragte er.
Für einen Moment erwiderte Kaiton nichts, dann sagte er: »Du riechst nach Tod.«
Val seufzte leise. Er drückte ihn noch einmal an sich, ehe er ihn aus seinen Armen entließ. »Du auch. Du kannst als Erster duschen, wenn du willst.«
»In Ordnung«, meinte Kaiton und verschwand in das Badezimmer.
Val sah ihm kurz nach, ehe er sich abwandte und seine Öllampe entfachte. Er machte sich daran, das Loch in seinem Fenster, durch das Coraks Krähe hineingekommen war, notdürftig mit einigen Brettern zu verschließen. In der Zeit ihrer Abwesenheit hatte der Wind sich gedreht und der Regen hatte eine Pfütze auf den Dielen hinterlassen.
In den Scherben auf dem Boden spiegelte sich das Licht aus der Öllampe und hinterließ kleine kristallene Flammen an den Wänden.
Val stieß ein leises Seufzen aus. Ob Kaiton sich ihm je anvertrauen würde? Sie kannten sich zwar noch nicht lang, aber sie hatten vieles durchgestanden.
Er wedelte seine Gedanken fort. Irgendwann würde schon die Zeit kommen. Nur ... würde Kaiton Aetherions Tod überhaupt überleben?
Als Val aus dem Bad trat, tropften seine Locken noch. Er hatte sich ein Handtuch über die Schultern gelegt, um das Wasser aufzufangen.
Kaiton saß auf dem Sofa, beide Beine angezogen. Sein Kiefer mahlte und ein finsterer Schatten lag über seinen Augen. »Ich bin gestorben«, sagte er, ohne einen Blick auf Val zu werfen.
Val schluckte und setzte sich neben ihn. Er hatte nicht erwartet, dass dieser Moment so schnell kommen würde.
»Ich fand schon früh heraus, was sich in meiner Familie abspielte, aber ich brauchte lang, bis ich erkannte, was es bedeutete. Und nur einige Tage später stellte ich sie zur Rede und fragte nach Antworten ... Antworten, die ich nie erhielt. Stattdessen wurde ich hinter die Stadt gebracht, als Schande meiner Familie beschimpft und gerade noch für genug befunden, dem Kaiser einen letzten Dienst zu erweisen.«
Er verzog das Gesicht. »Ich war bereits einmal in dieser Halle und man warf mich in ein ... Maul, besetzt mit stählernen Zähnen. Irgendwie konnte ich mich retten. Nun ... nicht ganz. Die Maschine hatte einen Teil aus meinem Körper gerissen.« Er deutete auf das Stück kurz über seiner Taille, an dem sein Hemd locker hinab hing.
»Es hat mein Bein verschlungen.« Er hob die Prothese kurz an. »Und meine Organe beschädigt. Meine Familie hatte sich schon von mir abgewandt, als ich ins Freie kroch und dort zusammenbrach. Ich erinnere mich nicht an das, was anschließend geschah, nur daran, dass ich bei der Frau aufwachte. Sie flickte mich zusammen, gab mir die Prothese für mein Bein und ein neues Auge. Sie fügte Metall in meinem Körper ein, damit ich mich halten konnte. Und ... ich weiß nicht, wie viel meines Körpers noch künstlich ist. Vermutlich mehr, als ich glaube.«
Kaiton schloss seinen Mund, die Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst. Seine Erzählung hatte geendet oder er war nicht bereit, noch mehr von sich preiszugeben.
Val rückte an ihn heran und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Ist ... ist es wahr, was die Senatorin gesagt hatte?«, fragte er. »Wenn Aetherion stirbt, dann vergeht jeder Fortschritt, jede Technologie? Dann wirst du ...« Er brachte es nicht über sich, die nächsten Worte zu sagen.
Kaiton hob nur schwach die Schultern. »Ich weiß es nicht. Woher auch? Ich weiß nur, wenn es stimmt, dann könnte ich sterben. Ich verstehe nicht, weshalb ich trotzdem weitermache. Sollte mir mein Leben nicht wichtiger sein als Aetherions Tod? Ich könnte einfach die Stadt verlassen und müsste mich nie wieder mit ihm beschäftigen.«
»Vielleicht gehörst du zu den Wenigen, die das Wohl der Meisten über ihr eigenes stellen ...«, sagte Val. »Ich kann dir aber nicht beantworten, ob es eine gute Sache ist.« Er selbst hatte nie darüber nachgedacht. Obwohl es nicht sein eigenes Leben betraf, hatte ihn mehr als einmal der Gedanke gekreuzt, ob all die Gefahr und Kaitons Tod es wirklich wert war. Doch es lag nicht an ihm, dies zu entscheiden.
Kaiton stieß ein leises Seufzen aus. »Es gibt nur einen Weg, um herauszufinden, was geschieht, wenn Aetherion stirbt«, sagte er. »Und dafür müssen wir erst einmal wieder in die Oberstadt gelangen.«
»Du hast einen Plan?«
»Ich habe einige Bekannte. Und du kannst vielleicht nochmal mit Matthews Erinnerungen helfen. Er stand schließlich schon einmal dem Kaiser gegenüber. Doch ...«, er rieb sich die Augen, »erst morgen. Darf ich ...« Er wich Vals Blick aus. »Darf ich wieder bei dir schlafen?«
Ein Lächeln erhellte Vals Gesicht. »Natürlich.«
Mit weiten Schritten ging Matthew durch den Korridor. Das Geräusch wurde von den Wänden aus Marmor und Gold zurückgeworfen und untermalte das Stimmenmeer und die Musik, die aus dem Saal kamen. Nur selten wurde er von seiner Pflicht abgerufen und noch seltener für ... Feierlichkeiten.
Er hatte sich in einen Gehrock gekleidet, an dem nicht der Geruch von verbranntem Fleisch und Horn hing. Die Aufgabe hatte sich als schwieriger herausgestellt, als er anfangs vermutet hatte. Er hatte nur ein weißes Kleidungsstück gefunden, dessen Ärmel und Kragen in Wirbeln mit goldenen Fäden bestickt waren. Seit einer halben Ewigkeit hatte dieser Gehrock ganz hinten in seinem Schrank gehangen, da er ihn bei seiner Arbeit nicht tragen wollte.
Das Blut hätte man für immer in dem Weiß gesehen.
Zwei Metallwachen öffneten die hohe Flügeltür für ihn. Ein Meer aus Licht und Farben riss ihn mit sich. Es mussten hunderte von Adeligen sein, die sich hier versammelt hatten. Allesamt in ihrer besten Kleidung. Sie unterhielten sich und lachten, doch all dies war nur eine Maske, hinter der sich die Verwesung der Stadt verbarg.
»Senator Brigham.« Ein älterer Mann, dem nur noch ein Kreis dünnes graues Haar geblieben war, gesellte sich an seine Seite. »Eine Freude, Euch zu sehen. Ich hatte schon befürchtet, dass Ihr nicht auf die Einladung eingehen würdet.«
»Seine Majestät hielt meine Anwesenheit für unabdingbar«, antwortete Matthew kühl. Dass er selbst sich nur ungern in Menschenmengen aufhielt, hatte Aetherion dabei nicht gekümmert.
Schweiß glänzte auf der Stirn des Mannes. Sicherlich hatte er sich irgendwann bereits bei Matthew vorgestellt, doch er hatte dessen Namen für unwichtig erachtet und vergessen.
»Lasst mich Euch herumführen und Euch vorstellen.« Der Mann griff nach einem Taschentuch und tupfte sich die Stirn ab.
Und so begann die ewige Qual, die jedes Mal eintrat, wenn Matthew einer dieser Festlichkeiten beiwohnen musste. Händeschütteln. Gezwungen freundliche Mienen, obwohl jeder sich am liebsten an die Kehle gehen würde. Erstaunte Blicke, sobald er sich vorstellte.
Aetherions rechte Hand begab sich nur selten in die Öffentlichkeit und wurde daher mit Anerkennung und Lobpreisungen überhäuft.
Er hasste Menschen.
»Entschuldigt mich für einen Moment«, sagte Matthew, nachdem er schon gefühlte Stunden diese Tortur ertragen hatte. Wenn er nicht wahnsinnig werden wollte, dann brauchte er eine Pause und Zeit für sich.
Er wartete nicht auf eine Antwort seiner Gesprächspartner und wandte sich ab. Er verließ den Saal, um auf den angrenzenden Balkon zu treten. Kühler Wind strich ihm durch die Haare. Die Sterne funkelten wie tausend kleine Sonnen und der volle Mond tauchte die Szenerie in silbernes Licht.
Doch Matthew war nicht so allein, wie er sich erhofft hatte. Ein Mann hatte sich auf das Geländer gestützt und sah auf, um den Sternenhimmel zu betrachten.
Langes blondes Haar fiel ihm bis weit über die Schultern. In ihm verfingen sich die Goldtöne der Kerzen, die in regelmäßigen Abständen auf dem Geländer angebracht waren, und das silberne Licht des Mondes.
Er schien einem Engel gleich zu sein, obwohl keine weißen Schwingen seinem Rücken entsprangen.
Kaum hatte sich der Gedanke in Matthews Kopf geformt, schoss es heiß seinen Arm hinauf. Er sog scharf Luft zwischen zusammengebissenen Zähnen ein. Was hatte er getan, dass Aetherion ihn so bestrafte?
Der Mann wandte sich zu ihm. »Ist alles in Ordnung?«, fragte er. Strahlend blaue Augen trafen auf Matthews und sein Herz trommelte leise in seiner Brust.
Warum tat es das?
Er schüttelte seine Hand, als könnte er den Schmerz damit verbannen, und trat an das Geländer heran. »Es ist nichts«, sagte er. »Wer seid Ihr?« Er hatte nicht zu den Leuten gehört, die ihm vorgestellt worden waren.
»Mein Name ist William«, antwortete der Fremde. »William Norwood.«
Matthew runzelte die Stirn. Es gab keine Adelsfamilie, die diesen Namen trug. Vielleicht war sein Gegenüber ein Freund irgendeines Adelshauses. Oder jemand, der während Matthews Abwesenheit in den Adelsstand erhoben worden war.
»Zerbrecht Euch nicht Euren Kopf«, sprach William. »Mich müsst Ihr nicht kennen. Ich bin nur hier, um die Gäste zu unterhalten.«
Ein Künstler also?
Matthews Blick wanderte zu Williams Händen. An den Fingerspitzen waren keine Schwielen, wie er es von Musikern kannte, die auf Saiteninstrumenten spielten. Auch zeigte sich keine Farbe unter seinen Nägeln oder Schattierung von Bleistiften an seinen Händen. Ein Pianist vielleicht?
»Und falls Ihr meine Gesellschaft möchtet«, William schenkte ihm ein Lächeln, »dann bin ich für heute Nacht noch frei.«
Die Worte brauchten einige Augenblicke, bis sie gänzlich bei Matthew angekommen waren. »Ah«, machte er. Er wandte sich halb ab und dem Sternenhimmel zu. »Ich fürchte, in dieser Hinsicht seid Ihr an den Falschen geraten, Mr. Norwood.«
William rückte an ihn heran. Der Wind strich durch die langen Haare, die wie flüssiges Gold vor dem Hintergrund der Nacht schimmerten. »Vielleicht aber auch an den Richtigen, Senator Brigham. Ihr seht aus, als würde Euch ein wenig Gesellschaft guttun.«
Sein Blick schweifte zu der gläsernen Tür, hinter der die Adeligen und Senatoren sich unterhielten. »Gesellschaft, die Euch nicht nur mit einem falschen Lächeln begrüßt«, sagte er. »Gesellschaft, die nicht vor Euch flieht oder vor Euch im Staub kriecht, nur weil Ihr Aetherions rechte Hand seid.«
Matthew würde nicht sagen, dass es verlockend klang. Er zwang seine Gedanken in eine andere Richtung, doch der Kaiser hatte offenbar einige Fetzen aufgeschnappt, denn die Kette in seinem Handgelenk brannte.
»Und Ihr seid eine solche Gesellschaft?«, fragte Matthew und bemühte sich um einen möglichst kühlen Ton.
William ließ sich davon nicht abschrecken. Das Blau seiner Augen funkelte auf. »Es liegt an Euch, das herauszufinden.«
Matthew holte tief Luft. Die Stimmen im Hintergrund hoben sich an und erinnerten ihn, dass er eigentlich anderen Pflichten nachgehen musste. Er hatte keine Zeit, sich mit einem Fremden zu unterhalten und die Sterne zu betrachten.
Noch nicht. Vielleicht ... später.
Er grub in der Tasche seines Gehrockes und holte einen Schlüssel hervor. »Trefft mich nachher in meinem Zimmer«, meinte er und wandte sich ab.
»Es wird mir eine Freude sein, Senator Brigham«, rief William ihm noch nach, ehe er zurück in den Saal trat.
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