Der Wolf im Schafspelz
Die Kugel raste knapp neben Vals Wange vorbei. Er packte Kaiton beim Kragen und rannte los. Hinter ihm knallte es erneut, der Stein unter seinen Füßen splitterte bei dem Aufprall.
Die Wachen am Wegesrand hoben nun ebenfalls ihre Gewehre, einige zogen ihre Degen.
Val wich in die Gasse zum Nebengebäude aus. Aus dem Haupttor würden sie nicht mehr entkommen können.
Warme Flüssigkeit rann an seiner Wange hinab. Kaum der Rede wert.
Kugeln schlugen in den Stein. Er stolperte einige Schritte nach vorn, ehe er sich wieder fing. Schmerz bohrte sich in seine Seite und er biss die Zähne zusammen. Das Adrenalin in seinen Adern dämmte das Stechen weitestgehend. Es würde ihn nicht umbringen.
An der Rückseite des Gebäudes kam er zum Stehen, doch nur, um Kaitons Taille zu ergreifen. Er war dünner, als Val erwartet hatte, aber ihm blieb nicht die Zeit, sich lang darüber Gedanken zu machen.
»Halt dich fest«, knurrte er ihm zu.
Er sah auf und ließ seine knöcherne Hand ruckartig nach oben fahren. Ein Haken, an dem ein Seil befestigt war, schoss hervor und traf die Dachkante. Val zog an ihm und verlor den Boden unter den Füßen. Er raste durch die Luft und kam kaum eine Sekunde später auf dem Dach auf.
Kurz strauchelte er – er war es nicht gewöhnt, jemand anderen mit sich zu tragen. Von dem Dieb fehlte jede Spur. Entweder die Wachen hatten ihn mittlerweile vom Dach geholt oder er war schon entkommen.
Val ließ Kaitons Taille los, packte dafür aber seinen Ärmel und zog ihn weiter. Sie hatten noch nicht einmal das Ende des Daches erreicht, da erkannte er den Fluchtweg vor sich. Sein Arm schloss sich um Kaitons Oberkörper. Im Sprung schleuderte er den Haken an den Rand der Mauer und nach kurzem Flug standen sie auf dem Wehrgang.
Nur leider erwarteten die Wachen sie bereits.
Im weißen Licht der Scheinwerfer blitzte etwas in Kaitons Hand auf, das er dem Erstbesten in den Hals rammte. Der Wachmann stieß ein Gurgeln aus, Blut strömte aus seinem Mund und er brach zusammen.
Kaiton hielt sich nicht mit ihm auf. Er zog ein weiteres Messer und schleuderte es auf den nächsten. Zielsicher suchte es sich seinen Weg zwischen die Rüstungsplatten und bohrte sich in dessen Rippen. Er keuchte auf und seine Knie gaben nach.
Ein Knall hallte durch die Nacht. Kaiton hielt mittlerweile einen Revolver in der Hand. Ein kreisrundes Loch zeigte sich in der Stirn der dritten Wache. Blut floss ihr über das Gesicht und sie kippte nach hinten.
Val hatte das Geschehen nur starr betrachten können und schloss nun langsam seinen Mund. Kaiton hatte seinen Gegnern nicht einmal genug Zeit gegeben, ihre Waffen zu heben, geschweige denn zu zielen. Dunkelheit lag über seinen Augen und Härte in seinen Gesichtszügen. Einige rote Sprenkel zierten seine Wangen.
Einen solchen Ausdruck hatte Val schon bei einigen Leuten gesehen. Bei denen, die oft töteten, die sich nichts daraus machten, ein Leben zu beenden. Leute, von denen er sich für gewöhnlich lieber fernhielt.
Sein Herzschlag beschleunigte sich und er war unfähig, den Blick von Kaiton zu nehmen. Gleichzeitig legte sich erneute Bitterkeit auf seine Zunge. Die Bitterkeit von Lügen und Verrat.
Ein Schuss im Hof holte ihn zurück in die Realität. Er schüttelte die Benommenheit von sich und suchte die Umgebung nach einer Möglichkeit ab, zu fliehen. Und er fand ein nahes Haus.
Wieder griff er nach Kaiton, um endgültig aus dem Inneren der Mauern zu verschwinden. Doch damit waren sie noch nicht entkommen. Die Tore öffneten sich und Wachen strömten hinaus.
Erst als Val die Tür hinter sich geschlossen hatte, atmete er auf. Die Wachen könnten zwar immer noch anklopfen und um Einlass bitten, aber in all den Jahren, die er hier schon lebte, war es nur selten geschehen. Und dafür gab es einen guten Grund.
»Mr. Leyton, was ist denn mit Euch passiert?«, hörte er die Stimme seiner Vermieterin. Jolie Richardson.
Ein müdes Lächeln legte sich auf Vals Lippen, als er den Blick anhob und auf eine kleine, etwas rundliche Frau sah. »Nur das Übliche«, meinte er. Der Schmerz in seiner Seite ließ ihn nur mit zusammengebissenen Zähnen Luft holen. »Habe ich Euch geweckt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich war ohnehin noch wach.« Ein Buch tauchte vor seiner Nase auf. »Bei so etwas kann ich doch nicht schlafen gehen.«
Er kniff die Augen zusammen und versuchte, den Titel zu entziffern. Die Buchstaben verschwammen und er gab es auf.
»Und wer ist das?« Ihr Blick wanderte zu Kaiton weiter und sie neigte den Kopf.
Sowohl Kiste als auch Hut hatte Kaiton im Inneren des Trengrove-Anwesens zurückgelassen. Der Wind hatte seine Haare zerzaust und sie standen in alle Richtungen ab, obwohl er versuchte, sie zu ordnen. Die Blutsprenkel waren nur noch als leichte Röte auf seinen Wangen zu erahnen.
»Niemand Wichtiges«, sagte Val. Weshalb hatte er Kaiton überhaupt mitgenommen? Er hatte ihn vergessen, bis sie ihn auf ihn angesprochen hatte.
Sie drehte den Kopf in seine Richtung. »In letzter Zeit bringt Ihr viele Niemande mit, Mr. Leyton.«
Val stockte. Waren es wirklich so viele gewesen? Es war ihm gar nicht so vorgekommen, aber Jolie hätte es ansonsten wohl nicht bemerkt.
»Aber ich verstehe es«, sagte sie. »Wer würde sich nicht in diesen hübschen Augen verlieren wollen?«
Val lächelte schwach und fuhr sich durch die Locken. Seine Mutter hatte ihm immer erzählt, dass er dieselbe Augenfarbe wie sein Vater hatte – ein tiefes Blau. ›Farbe in all dem Grau‹ hatte sie es genannt. Nur einer der vielen Gründe, weshalb er stets Trauer in ihrem Blick sah, wenn er zu lange bei ihr war.
»Ich hoffe, er bleibt ein wenig länger als der letzte Niemand«, meinte Jolie. »Er sieht schnuckelig aus.«
Val winkte nur ab. »Ich muss mich erst einmal darum kümmern.« Er deutete auf die Wunde an seiner Seite.
»Natürlich«, meinte sie. »Gebt nur Bescheid, wenn Ihr etwas braucht.«
»Danke«, sagte Val und schleppte sich die Stufen zu seiner Wohnung hoch. Das Adrenalin in seinem Blut hatte mittlerweile nachgelassen und wirkte nun fast wie ein Schlafmittel.
Schritte folgten ihm.
Ihm fehlte die Kraft, es Kaiton zu verbieten. Eigentlich hätte er ihn gar nicht mitnehmen sollen. Eigentlich hätte er ihn bei den Trengroves zurücklassen sollen, nachdem doch so offensichtlich geworden war, dass er nicht derjenige war, der er vorgab zu sein.
Val öffnete die Tür und schob Kaiton hinein, ehe er sie wieder schloss. Seine Wohnung lag im Dunkeln, nur die Umrisse der Küche und der Möbel waren zu erkennen.
»Sollten wir nicht zu Anthony zurückkehren?«, fragte Kaiton. Die Dunkelheit war aus seinem Blick verschwunden, aber der Ausdruck blieb ebenso undurchdringlich. Das Welpenhafte, das Val bei der ersten Begegnung bemerkt hatte, war zurück, doch er glaubte der unschuldigen Miene nicht länger.
Val schüttelte als Antwort den Kopf. Er legte seinen Mantel ab und hing ihn über den Kleiderständer. Beim Vorbeigehen entzündete er eine Öllampe auf dem niedrigen Wohnzimmertisch, die den Raum in warmes Licht tauchte. Er zog sich das Hemd über den Kopf und warf es über den Sessel, ehe er sich selbst auf ihn fallen ließ. Von darunter holte er ein Köfferchen mit Verbandszeug hervor.
Er hielt inne, als sein Blick auf seinen linken Arm fiel. Monatelang trug er die Prothese nun schon, aber trotzdem hatte er sich noch nicht an die stählerne Vorrichtung gewöhnt, die ihm kurz unter der Schulter in das Fleisch biss und die knöcherne Hand mit seinem Körper verband.
Kaiton blieb neben der Tür stehen und sah sich im Raum um. Immer wieder glühte sein Auge auf.
»Lass das«, knurrte Val.
Kaiton zuckte zusammen und sein Auge erlosch zu einem matten Rot. »'tschuldigung«, murmelte er. »Alte Gewohnheit.«
Val wischte sich erst das Blut von der Wange und wandte sich dann der Wunde an seiner Seite zu. Seine Hose war zwar schon rot getränkt, aber tief sah die Verletzung nicht aus. Wenigstens eine gute Nachricht.
Er tupfte sich das Blut von der Haut und begann, seine Seite zu verbinden. »Wer bist du genau?«, fragte er.
»Kaiton«, antwortete dieser und trat von einem Bein auf das andere. »Das hatte ich doch schon gesagt.«
»Das meinte ich nicht.« Vals Stimme war rau und er machte sich nicht die Mühe, seine Missgunst hinter einem Lächeln zu verbergen. »Du wusstest, was dort vor sich ging. Du kennst die Trengroves und außerdem ...« Er sog scharf Luft ein. Während er gesprochen hatte, hatte er sich den Verband zu fest um den Körper geschlungen.
»Ich habe sie schon einmal getroffen«, antwortete Kaiton leise. »Außerhalb der Stadt. Sie sind der Grund, weshalb ich in erster Linie hier bin.«
»Und du hast nicht daran gedacht, dich ein wenig bedeckt zu halten?« Er verklebte den Verband und ließ das Köfferchen wieder unter dem Sessel verschwinden.
»Ich musste etwas überprüfen«, sagte Kaiton. Er wich Vals misstrauischem Blick aus und ließ den seinen stattdessen durch den Raum schweifen.
Val schluckte die Worte, die schon auf seiner Zunge lagen, wieder hinunter. So sehr er auch jede Wahrheit aus Kaiton quetschen wollte, er hielt sich zurück. Er selbst verriet schließlich auch nur selten einem Fremden etwas über seine Person und daher sollte er es auch von seinem Gegenüber nicht verlangen.
»Meine Güte, setz dich doch«, sagte er und gestikulierte zu dem Sofa ihm gegenüber, da Kaiton weiterhin kurz hinter der Wohnungstür stand.
Dieser zuckte zusammen. Er folgte der Geste mit seinem Blick, zog den Kopf ein und tat, wie geheißen. Behutsam setzte er sich, in der Undurchdringlichkeit vor seinen Augen entstand ein Riss, doch er blinzelte ihn so schnell weg, dass Val nicht erkennen konnte, was sich dahinter verbarg.
»Wusstest du, dass Anthony Schulden bei ihnen hat?«, fragte Kaiton.
Val schüttelte den Kopf. »Hätte ich mir aber denken können. Wenn er nicht selbst hingeht, dann führt er etwas im Schilde.«
Kaitons Blick blieb an dem Bäumchen hängen, das in dem Bücherregal an der Wand stand. Sein Adamsapfel hüpfte auf und ab. »Ich sollte gehen«, sagte er und erhob sich.
»Das ist zu gefährlich«, entgegnete Val. »Da draußen werden die Wachen weiterhin nach uns suchen. Wenn sie hier klopfen, dann wimmelt Mrs. Richardson sie ab.«
Kaiton nickte langsam und setzte sich wieder. »Wenn ... wenn ich hierbleiben soll, kannst du dir dann wenigstens etwas anziehen?«
»Ich ...« Val brach ab. Eigentlich trug er doch genug, dass es nicht unangenehm zwischen ihnen sein sollte. Die leichte Röte auf Kaitons Wangen war aber offenbar anderer Meinung.
Val griff sich sein Hemd von der Sessellehne und schlüpfte wieder hinein. »Ist dir kalt?«, fragte er dann mit einem Blick auf Kaiton, der seinen Mantel immer noch trug.
»Nein«, erwiderte dieser nur.
»Dann verbirgst du etwas.«
Diesmal begegnete Kaiton seinem Blick. Eine gewisse Härte lag in ihm, eine gewisse Ahnung, dass Val bisher nur an der Oberfläche gekratzt hatte. Sein Herz setzte einen Schlag aus, bevor es dann verräterisch gegen seine Brust trommelte.
»Du hast mir vorhin auch nichts über dich erzählen wollen«, meinte Kaiton.
»Die Dinge haben sich geändert«, sagte Val, während er versuchte, sein Herz zu ignorieren und vor allem zum Schweigen zu bringen. »Ich habe dich in meine Wohnung gelassen und mehr noch als das: Ohne mich hättest du das Anwesen der Trengroves nie verlassen.«
Kaiton presste seine Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. »Ich habe meine Wege«, brachte er hervor. »Und verzeih mir, wenn sie in deinem offenbar sehr beschränkten Verstand keinen Sinn ergeben, aber ich werde niemandem, dem ich gerade erst begegnet bin und dessen erste Handlung es war, mir ins Gesicht zu schlagen, meine gesamte Lebensgeschichte erzählen.«
Val stockte. Er hatte erwartet, dass Kaiton noch länger an seiner Maske festhalten würde, doch nun hatte er sie endgültig fallenlassen. »Guter Punkt«, sagte er letztlich und erhob sich. »Du kannst hier übernachten. Die Couch ist ganz bequem und ...« Er klappte die Sitzfläche des Sessels nach hinten und holte eine Decke aus dem Kasten darunter, die er Kaiton hinhielt.
»Morgen sollte sich die Situation draußen beruhigt haben«, sagte Val, »und wir können zu Anthony gehen und ihn zur Rede stellen. Einverstanden?«
Kaiton nickte nur stumm.
»Gut. Bad ist da hinten, wenn du es brauchst.« Val deutete auf eine Tür am anderen Ende des Raumes. »Und dann eine gute Nacht.« Er wartete nicht auf eine Antwort und wandte sich ab, um in sein eigenes Zimmer zu gehen.
Es war nur eine kleine Kammer. Nur sein Bett und seine Kommode, beides aus dunklem Holz gefertigt, fanden Platz. Die Vorhänge an den Fenstern waren stets zugezogen.
Kurz nach seinem Einzug hatte er versucht, Pflanzen in seine Wohnung zu bringen, doch nur das Bäumchen hatte es geschafft. Die leeren Blumentöpfe in der Ecke des Zimmers waren die einzigen Überreste dieses Vorhabens.
Er zog sich das Hemd aus und warf es auf die Kommode. Seinen Gürtel, an dem eine Pistole und sein Degen baumelten, legte er ebenfalls dorthin.
Aus dem Hauptraum klangen metallische Geräusche. Er hatte kaum etwas anderes erwartet. Kaiton hatte bei dem Kampf scheinbar aus dem Nichts Waffen gezogen und unter seinem Mantel verbarg er sicherlich noch mehr.
Val schob die Gedanken an ihn fort. Wenn Kaiton sich vor ihm verstecken wollte, wer war er, ihn daran zu hindern?
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