Der Schlüssel I

Der Regen ergoss sich über Val und Kaiton, als sie an der Ecke standen, zu der Corak sie gebeten hatte. Anfangs hatte Val versucht, sich eng an die Häuserwand zu pressen, doch der Vorsprung des Daches war zu schmal, um sich vor dem kalten Nass zu schützen.

Von Kaitons Hutkrempe ergossen sich Wasserfälle und Vals Haare, die kein Hut schützte, klebten ihm auf der Stirn. Sein Mantel wies eigentlich Regen ab, doch bei diesen Massen gab er nach.

Kaitons Auge leuchtete auf. »Er kommt«, sagte er knapp.

Nur einen Moment später tauchte ein Licht hinter der nächsten Ecke auf, das sich langsam auf sie zu bewegte.

»Und du bist dir sicher, dass es keine Wache ist?«, fragte Val.

Kaiton nickte und kippte damit einen Schwall Wasser von seinem Hut auf den Boden vor sich. »Er hat einen Vogel auf der Schulter.«

Das Licht kam näher. Eine breite Hutkrempe tauchte auf, doch Coraks Augen lagen in ihrem Schatten verborgen. Die Krähe auf seiner Schulter schmiegte sich nah an sein Gesicht, um im Trockenen zu sein. Etwas glitzerte in ihrem Schnabel.

Vor ihnen blieb er stehen. »Der gefallene Held«, begrüßte er Val und sein Blick schweifte zu Kaiton. »Und der nach Heiligkeit Strebende.«

»Corak«, meinte Val.

Coraks Mundwinkel zuckten. »Namen sind doch etwas Faszinierendes«, sprach er. »Einige überdauern Jahrhunderte, andere verschwinden nach nur wenigen Sekunden.«

»Ihr wolltet uns sprechen«, sagte Val, ohne auf ihn einzugehen. Er wollte nicht länger als notwendig im Regen stehen, vor allem nicht auf offener Straße.

»Das wollte ich«, sagte Corak. »Doch mir scheint, meine Worte sind unbedeutend, wenn nicht zuvor Eure Fragen vorgetreten sind.«

Vals Blick verdunkelte sich. In der Erinnerung von Matthew hatte sich der Krähenmann noch wie ein halbwegs angenehmer Zeitgenosse gezeigt. Doch seitdem waren schon einige Jahrzehnte vergangen. Eigentlich sollte Corak gar nicht mehr am Leben oder zumindest bedeutend älter sein.

Val zog den Kopf ein, um unter die Krempe zu schauen. Der Regen versperrte ihm einen Teil der Sicht und auch der Schatten lichtete sich kaum. Doch er hatte keinen Zweifel: Corak war seit der Erinnerung nicht gealtert.

Coraks schwarze Augen trafen ihn, seine Brauen hoben sich leicht und er neigte den Kopf. Die Krähe schlug mit den Flügeln und rückte noch näher an Coraks Gesicht heran, da einige Regentropfen sie trafen. »Verzeih, meine Schöne.« Er richtete den Kopf wieder gerade und strich ihr durch das Gefieder.

Val räusperte sich und meinte: »Ihr sagtet, Aetherion ernähre sich von Leben. Aber wir können ihn doch nicht irgendwohin schaffen, wo er keinen Zugang dazu hat?«

»Kurz hatte ich noch gezweifelt, dass Ihr es wirklich seid«, sagte Corak. »Lord Brigham wusste, was ich meinte.« Er nahm der Krähe das Glitzernde aus dem Schnabel und hielt Val seine Hand entgegen. Zwischen seinen Fingern baumelte ein Schlüssel.

»Hinter der Stadt werdet Ihr ein Schloss finden, zu dem dieser Schlüssel passt«, sagte Corak. »Nehmt ihn.«

Val gehorchte.

»Ihr werdet dort all Eure Antworten erhalten und das Ende einleiten. Und beeilt Euch. Er ernährt sich von Leben, doch das Leben kann nicht ohne ihn existieren. Eine unlösbare Wahrheit.«

Er nickte schon zum Abschied und wollte sich abwenden, aber Kaiton hielt ihn auf. »Warum habt Ihr Sam gerettet? Das war nicht Euer Kampf und nun gibt es nur eine weitere Person, die meinen Hals will.«

Corak neigte den Kopf. »Ihr solltet Eure Energie auf das Himmlische konzentrieren, Lordling. Euch zeigt sich ein Feind. Schenkt den abertausenden anderen, die Euch zwar entgegen, doch gleichzeitig auf Eurer Seite stehen, keine Beachtung.«

Damit beendete er seinen Satz. Er nickte als Verabschiedung und wandte sich ab. Nur der schwarze Vogel krähte auf, als das Licht um die nächste Ecke verschwand.

Val betrachtete den Schlüssel in seiner Hand. Er war aus Messing gefertigt und in den Verzierungen des Griffes hatte sich Erde gesammelt.

»Wir sollten so schnell wie möglich los«, sagte er und wandte sich zu Kaiton.

Ein Schatten lag über seinen Augen und er verlagerte sein Gewicht von dem einen auf das andere Bein. »Ich war schon lang nicht mehr hinter der Stadt.«

»Ich noch nie.« Von Matthew hatte er erfahren, dass dort die Mülldeponien waren. Dorthin wollte weder ein lebender noch ein toter Mensch.

Er erwartete fast, dass Kaiton ausführte, weswegen er bereits einmal dort gewesen war, doch er schwieg. Natürlich schwieg er.

Der Regen hatte nachgelassen und hing nur noch als Nebel in der Luft. Selbst nachdem sie die Stadt verlassen hatten, lichtete sich die Wolkendecke nicht.

Zuerst folgten sie der breiten Straße, die mit jeder Abzweigung schmaler wurde. Anfangs klackerten ihre Sohlen noch auf Kopfsteinpflaster, später knirschte Sand unter ihnen.

In der Ferne zeigten sich im Nebel Schemen von Bergen, die sich beim Näherkommen jedoch nicht als natürlich herausstellten. Kein Gras lag auf ihnen, sondern Metallteile. Keine Bäume säumten sie, sondern aufgetürmte Gliedmaßen.

Val rümpfte die Nase und wandte den Blick ab. Der beißende Geruch von Tod und Verwesung lag wie eine erdrückende Decke über der Landschaft.

In einiger Entfernung durchbrachen Lichtpunkte das triste Grau.

»Dort müssen wir hin.« Es waren die ersten Worte, die Kaiton, seit sie die Stadt verlassen hatten, mit ihm wechselte. »Vermute ich zumindest.«

Val schluckte die Fragen hinunter, die auf seiner Zunge brannten. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt sie zu stellen. Nur ... wann würde dieser kommen?

Ein Gebäude hob sich dunkler noch vom dunklen Himmel hervor. Es schien nur ein Schatten zu sein und kaum Konturen oder Details zu haben. Hinter ihm strömte Rauch aus tausenden Schornsteinen in die Luft und vermischte sich mit den Wolken.

Das rostige Tor quietschte, als Val es öffnete. Steine waren als Weg in den Boden eingelassen. Links und rechts türmten sich weitere Berge und auch diese stanken nach Verwesung, sodass Val lieber keinen genaueren Blick auf sie warf.

Eine Krähe schrie auf und Kaiton zuckte zusammen. Er schüttelte sich und richtete seinen Hut, sodass er ihm noch tiefer ins Gesicht hing. »Die Bewohnerin des Hauses ist nicht feindselig«, sprach er und seine Stimme zitterte leicht. »Wir können sie nach Hilfe fragen.«

Val schluckte. Wer wollte denn in so einem Gebäude leben?

Kühle drang in seine Knochen, je näher er dem Haus kam. In einem nahen Haufen bewegte sich ein Schatten und kleine Krallen schabten über den Stein. Die Ratten veranstalteten hier ein Festmahl.

Das Gebäude hob sich aus der Dunkelheit hervor und es stellte sich heraus, dass es zwei waren. Das hintere besaß die tausenden Schornsteine. Das vordere aber glich einem Wohnhaus mit löcherigen Gardinen vor den Fenstern und verdorrten Blumen in Kästen an den Fensterbänken.

Hinter einer der Scheiben schien Licht.

Val schüttelte die Gänsehaut ab und klopfte gegen die Tür. Durch den unteren Spalt pfiff Wind hindurch und Risse furchten sich tief durch das Holz.

Ein Schatten bewegte sich in einem Fenster. Schwere ungleichmäßige Schritte drangen aus dem Inneren. Dann ein Klicken. Und noch eines.

Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit und ein dunkles Auge blickte Val entgegen.

»Guten Tag«, begrüßte er es. Er hätte sich im Vorfeld Worte bereitlegen sollen. Nur Wahnsinnige und Törichte würden Fremden helfen, wenn sie an die Tür klopften und behaupteten, sie würden nach dem Schloss für einen Schlüssel suchen.

Das Metall wog schwer in seiner Manteltasche, als versuchte es, ihn an die Aufgabe zu erinnern, obwohl er sie nie vergessen hatte.

Das Auge schweifte an Val vorbei und traf auf Kaiton. Erst weitete es sich, dann legte sich ein leichtes Glitzern in das matte Schwarz.

Lange, dürre Finger mit faulig-schwarzen Nägeln krochen an der Tür entlang und schoben sie ganz auf. Dahinter kam eine Frau zum Vorschein ... oder zumindest glaubte Val, dass diese Gestalt einst eine Frau gewesen war.

Graue Haut bedeckte ihren Körper und hing teilweise in Fetzen an ihr hinab. Ihr Gesicht war von tiefen Falten durchzogen und an einer Seite passte es sich nicht ihrer Form an, sondern zog sich wie geschmolzen bis zu ihrer Schulter lang.

Ihre Knochen schienen unter der dünnen Haut hervor, als hätte ein Gerippe sich eine menschenähnliche Verkleidung übergestülpt.

Helle Haare hingen zwar bis zu ihren Hüften, doch waren sie nur in runden Büscheln an ihrem Schädel befestigt und so dünn, dass sie einem durchscheinenden Schleier ähnlich kamen.

Kleidung trug sie zwar, doch diese war aus Lumpen zusammengeflickt. Keine Stiefel bedeckten die Füße, unter deren Haut sich irgendetwas bewegte. Val wandte den Blick ab, ehe er herausfinden konnte, was es war.

Sie öffnete den lippenlosen Mund und eine heisere Stimme kam heraus: »Meine beste Kreation.« Ihr Blick aus nur einem Auge lag weiterhin auf Kaiton.

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