Das Leben nach dem Tod
Val schüttelte sich den Regen aus den Locken, als er durch die Tür ging. Er tastete nach dem Lichtschalter. Erst blitzte das Licht auf, dann erhellte es das Treppenhaus weiß und grell.
Hinter ihm trat Kaiton ein. Er nahm sich den Hut ab und kippte das Wasser aus der Krempe, ehe er ihn wieder aufsetzte.
Es waren einige Tage vergangen, seit sie in das Anwesen der Trengroves eingebrochen waren, doch an diesem Abend war Kaiton vor Vals Türschwelle aufgetaucht und hatte gesagt, er sei bereit, zu Anthony aufzubrechen. Und natürlich hatte es auf dem Weg angefangen, zu regnen.
Wortlos stiegen sie die Stufen hoch. Insgesamt hatte Kaiton kaum mit ihm gesprochen. Vielleicht hatte er Angst, noch mehr über sich preiszugeben, wenn er den Mund aufmachte.
Die Tür zu Anthonys Wohnung war nicht abgeschlossen. Kaum, dass Val sie öffnete, stob ihm Kälte gepaart mit dem Geruch nach Tod entgegen. Ein Grau lag in dem Raum, als wäre ihm jede Farbe entzogen und nur Trostlosigkeit zurückgelassen worden.
Der Schatten Anthonys verweilte noch, das Geräusch des tropfenden Blutes, das Schreien der Krähen, die an seinem Fleisch genagt hatten. Ob Sam ihn wenigstens umgebracht hatte, bevor sie ihn an den Kerzenleuchter gehängt hatte?
Vals Kehle schnürte sich zu und die Kälte ließ seine Glieder steif werden.
»Wir können auch später wiederkommen, falls es für dich zu früh ist.« Kaiton trat neben ihn. In diesem Licht wirkte seine Haut noch fahler. Sein Auge passte sich dem Grau der Umgebung an. Zumindest bis das andere aufglomm und eine leichte Röte auf seine Wangen warf. Die einzige Farbe in diesem Raum.
»Es geht schon«, brachte Val hervor und schüttelte die Benommenheit von sich. Sein Vater war früh gestorben und daher war er mit dem Tod aufgewachsen. Irgendwann hatte er bemerkt, dass er entweder jeden verlieren würde, der ihm etwas bedeutete, oder er selbst gehen würde. Es war kein besonders tröstender Gedanke, aber es hatte ihn gelehrt, dass der Tod unausweichlich war, und ihm geholfen, das Leben und seine Familie höher zu schätzen.
Er setzte sich in Bewegung, so sehr seine Beine sich auch wehrten. Ihm war, als würden Augen aus dem Jenseits ihn beobachten, als würde leises Flüstern an sein Ohr dringen, doch er war unfähig, nur ein einziges Wort zu verstehen.
»Was glaubst du, geschieht nach dem Tod?«, fragte er, während er den Blick durch den Raum schweifen ließ. Wo sollte er nur anfangen, zu suchen, um etwas zu finden, von dem er noch nicht einmal wusste, was es war?
»Ich mache mir selten Gedanken darüber«, sagte Kaiton. »Kaum eine Möglichkeit scheint mir, in Ordnung zu sein. Vielleicht kommen die Guten in den Himmel, die Schlechten in die Hölle – doch wer will entscheiden, was gut und was böse ist? Und was dann? Dann würden wir auf ewig in Himmel und Hölle existieren? Die Ewigkeit ist eine lange Zeit.«
Vals Finger strichen über den Küchentisch. Eine leichte Staubschicht hatte sich bereits auf das Holz gelegt.
»Vielleicht hört nach dem Tod aber auch alles auf«, fuhr Kaiton fort. »Doch dann würde ich für die Ewigkeit nicht existieren.«
Ein schwaches Lächeln legte sich auf Vals Lippen. »Dann wäre ewiges Leben vermutlich auch nichts für dich?«
»Eine Ewigkeit zu existieren, scheint mir ebenso furchterregend, wie eine Ewigkeit lang nicht zu existieren.«
Vals Blick fiel auf die Tür, die Anthony stets vor ihm geschlossen gehalten hatte. Wenn er etwas finden würde, dann dort. »Und Wiedergeburt?«, fragte er, während er den Raum durchquerte.
»Hm«, machte Kaiton nur und strich sich über das Kinn.
Val drückte die Klinke hinunter und schob die Tür auf. »Dann würde man zwar existieren, aber nicht mehr als derjenige, der man zuvor war.« Der Raum dahinter war klein und ebenso grau wie der Rest der Wohnung. Ein ungemachtes Bett stand auf der einen Seite, auf der anderen ein Schreibtisch, auf dem sich Zettel und Briefe ungeordnet sammelten.
Kaitons Schritte folgten ihm. »Wie kannst du dir da so sicher sein? Vielleicht bin ich ein genaues Abbild meines letzten Selbst. Vielleicht sind meine Vorlieben die seinen, meine Denkweise, mein Lebensstil. Nichts würde wirklich zu mir gehören.«
»Das kommt wohl ganz darauf an, wie du dein Ich in dem Fall definierst.« Val ging zu dem Schreibtisch und wühlte durch die Zettel.
»Und du?«, fragte Kaiton. »Was glaubst du, geschieht nach dem Tod?«
»Meine Mutter sprach immer davon, dass ihr die Toten in ihre Träume kommen und sie mit ihr reden«, sagte Val. »Einige haben noch etwas in dieser Welt zu erledigen und verweilen, andere warten auf jemanden, mit dem sie dann gemeinsam aufbrechen wollen ... wohin auch immer. Doch sie war nie in der Lage, meinen Vater zu sehen. Vielleicht dient sie nur als Medium, um anderen zu helfen, nicht aber, um ihre eigene Seele zu beruhigen. Vielleicht ist er jedoch auch ohne sie gegangen.«
Er schloss den Mund, als er bemerkte, dass er schon zu viel über sich gesagt hatte, ohne wirklich auf Kaitons Frage eingegangen zu sein.
»Das muss schwer für sie sein«, sagte Kaiton. Er trat zu ihm an den Schreibtisch und betrachtete die Zettel. »Ich glaube, wir haben gefunden, wonach wir gesucht haben.«
Val ließ nun das erste Mal seinen Blick genauer über die Papierbogen schweifen und las sie. Ein Brief, in dem jemand ihn für einen Auftrag abwerben wollte, um Leichenteile von einem Ort zum nächsten zu schaffen. Ein Schriftstück, in dem jemand Anthony nach seinen Leistungen gefragt hatte. Er hatte ausschließlich mit den gewöhnlichen Tätigkeiten eines Mechanikers geantwortet.
Kaiton deutete auf einen Brief. Das rote Siegel der Trengroves war aufgebrochen.
Mr. Rye,
ich hoffe, Ihr erhaltet diesen Brief in bester Gesundheit. Wie abgesprochen, werdet Ihr die Lieferung innerhalb der nächsten Woche erhalten. Ich vertraue darauf, dass Ihr anschließend so schnell wie möglich, Prothesen anfertigt und an uns gebt.
Schickt uns einen ungefähren Zeitraum, in der wir Eure Lieferung erwarten können, damit ihr eingelassen werdet. Mit Abgabe der Prothesen seid Ihr von Euren Schulden befreit.
Unterzeichnet von Lady Irene Trengrove.
»Er hat mit ihnen Geschäfte gemacht«, sagte Kaiton.
»Aber ...« Val schluckte. »Vielleicht hat er nichts von dem Menschenhandel gewusst. Er stellt Prothesen her.«
»Und woher kommen die Knochen für die Prothesen?«, hakte Kaiton nach.
Val betrachtete seine eigene knöcherne Hand. »Er ... er meinte zu mir, er hätte sie von einem Toten. In den Straßen liegen so viele, da habe ich nicht darüber nachgedacht. Nur weil er mit den Trengroves Geschäfte gemacht hatte, heißt das nicht, dass er von dem Menschenhandel wusste.«
Kaitons Miene blieb nüchtern.
»Hier.« Val hob einen der Briefe auf und hielt ihn Kaiton vor die Nase. »Anthony wurde angefragt, ob ich bei einem Auftrag mitarbeiten würde. Ein Auftrag, in dem Leichenteile transportiert werden sollten. Er hat mir nie davon berichtet, vermutlich wollte er selbst nichts mit dem Absender zu tun haben. Und hier.« Er hielt Kaiton das zweite Schreiben, das er grob überflogen hatte, hin. »Er spricht immer nur davon, dass er Mechaniker ist. Nichts von irgendwelchen anderen Leistungen.«
»Vielleicht will er das nicht in einem Brief erwähnen«, entgegnete Kaiton.
Vals Kiefer mahlte. Er konnte nicht sagen, wer von ihnen zu sehr an seinem Glauben festhing. »Was willst du als Beweis?«, fragte er letztlich. »Es wird hier nirgendwo einen Zettel geben, auf dem steht: ›Ich bin kein Menschenhändler‹. Ich kann dir sagen, dass ich seit Jahren mit ihm zusammengearbeitet habe. In all der Zeit hätte ich doch irgendetwas herausgefunden.«
Kaiton antwortete ihm nicht. Nach einigen Sekunden, in der nur Stille zwischen ihnen stand, wandte er sich ab. »Ich denke, hier wird es nichts mehr für uns geben«, sagte er. »Wir sollten gehen.«
»Du lässt es einfach so stehen?«, fragte Val, doch Kaiton ließ auch ihn einfach so stehen und verließ den Raum.
»Warte«, rief Val und folgte ihm.
Kaiton wartete an der Eingangstür. »Ich muss über deine Worte nachdenken«, sagte er. »Und ich muss mit Sam sprechen. Aber hier sind wir fertig.« Als Val zu ihm aufgeholt hatte, setzte er sich wieder in Bewegung und beide stiegen die Treppe hinunter.
»Ich denke, du glaubst wirklich an Anthonys Unschuld«, sagte Kaiton nach einem Augenblick. »Doch es beweist sie nicht. Wir wissen, dass er mit den Trengroves gehandelt hat, aber er könnte nichts von deren Geschäften gewusst haben.«
Val öffnete die Tür nach draußen. Weiterhin prasselte der Regen auf das Kopfsteinpflaster.
»Ich komme zu dir, wenn ich weiß, wie ich damit verfahren möchte«, sagte Kaiton und nickte ihm zu. »Ich wünsche dir noch einen schönen Abend.«
Er wollte schon losgehen, aber Val hielt ihn auf. »Willst du vielleicht ...« Er brach ab. Er hatte gesprochen, bevor er nachgedacht hatte.
Kaiton wandte sich zu ihm.
Val räusperte sich und brachte den Satz zu Ende: »Willst du vielleicht noch mit zu mir kommen?«
»Warum?«
»Weil ...« Weil sie sich eine Woche lang nicht gesehen hatten und Kaiton auch an diesem Abend ihm gegenüber abweisend war. Val konnte es ihm nicht ganz verdenken – Kaiton hatte deutlich gemacht, wie gern er seine Geheimnisse hütete, und Val hatte trotzdem nachgebohrt.
»Nichts«, sagte er letztlich. »Ich wünsche dir auch einen schönen Abend.«
Kaiton nickte ihm zum Abschied zu, ehe er sich in den Regen wagte. Kurz blieb Val noch stehen und sah ihm nach, ehe er sich auch auf den Weg machte.
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