Prolog
Carla Fuego vermisste ihr geliebtes Spanien. Sie vermisste die Wärme aber auch die Leute dort, die nicht so zugeknöpft und streng waren, wie die höflichen, aber gestressten Engländer. Sie vermisste ihre Umgebung und die Gemütlichkeit, die jeder Spanier in sich zu haben schien.
Spanien war nicht streng, nicht kalt, nicht regnerisch oder höflich – Spanien war bunt, laut, gemütlich, freundschaftlich und so viel mehr, als die Insel, aber dennoch hätte Carla nie zurück gewollt.
Ihre Familie hielt sie in England – aufgewachsen war sie selbst zwar in Spanien und hatte den größten Teil ihres Lebens dort verbracht. Englisch hatte sie schnell gelernt, aber der spanische Akzent war noch deutlich herauszuhören und sie sah auch wie eine typische Spanierin aus.
Sie war Mitte sechzig, aber dafür sah sie noch richtig fit und jung aus. In ihrer Jugend war sie einer der schönsten Frauen Spaniens gewesen, hatte bei Schönheitswettbewerben Preise gewonnen und war für Werbespots und Plakate ein beliebtes Vorzeigemittel gewesen, aber diese Zeit war vorbei. Noch immer war sie ziemlich groß und schlank, aber Schwangerschaft und die Zeit ließen sie nicht mehr so schlank sein, wie zu ihren besten, oder auch schlechtesten Zeiten, als sie noch ungesund dünn gewesen war.
Ihre Haut war wunderbar gebräunt und nur einige Falten ließen erkennen, dass sie schön älter war, aber ansonsten war ihre Haut noch immer makellos und rein, wie die eines perfekten Bikinimodels.
Ihre Augen waren dunkel und groß, ihre Lippen voll und rot, ihre Nase gerade und schmal. Alles in ihrem Gesicht schien perfekt zusammen zu passen und ihre schwarzen Locken umrahmten ihr schmales Gesicht. Das Schwarz wurde nur von wenigen grauen Strähnen durchzogen, die mit dem Alter und den vielen Sorgen gekommen waren, aber Carla war stolz auf ihre grauen Haare.
Schon lange war sie nicht mehr so fanatisch auf ihr Aussehen – sie hatte schon vor langer Zeit bemerkt, dass es wichtigere Dinge im Leben gab.
Ihre Familie.
Das war auch der Grund, warum sie nach England gezogen war. Ihre Tochter wollte das so – sie hatte Fernweh nach der Insel gehabt und Carla wollte sie nicht allein ziehen lassen. Kurzerhand hatte sie sich ebenfalls ein Haus in England, London besorgt und lebte nun nur ein wenig entfernt zu ihrer Tochter, Eva.
Carla kochte und aß gerne. Früher hatte sie jede einzelne Mahlzeit verabscheut, aber heutzutage kochte sie gerne viel und doch meist nur für sich. Traditionelle, spanische Gerichte erinnerten sie an ihre Heimat und das alles würzte sie noch außergewöhnlich scharf. Die Familie Fuego war in Spanien dafür bekannt gewesen, ihre Mahlzeiten immer so scharf zu würzen, dass sogar andere Spanien verzweifelt nach Brot fragen mussten und sich mit den Händen Luft auf die verbrannte Zunge fächelten. Carla hatte Schärfe noch nie gespürt, sondern empfand ein Essen eher fad und langweilig, wenn es nicht außergewöhnlich viel gewürzt war.
Sie stand in der Küche und kochte Paella, ein spanisches Gericht, das sie selbst von ihrem Vater gelernt hatte und der wiederum von seiner eigenen Mutter. Es war schon seit Generationen weitergegeben worden und noch immer kochte Carla es so, wie ihr Vater.
Plötzlich läutete es an der Tür und Carla sah verwundert auf. Sie hatte niemanden erwartet. Ihre Nachbarn waren unfreundliche Leute, die bestimmt nichts von ihr wollten, sie hatte noch nicht wirklich Freunde in England gefunden, niemand hatte ihr gesagt, dass er sie besuchen kommen würde, also legte Carla ihr Messer nicht aus der Hand, sondern ging damit vorsichtig zur Tür und öffnete diese aufmerksam, bereit, einem Angreifer sofort entgegen zu treten, aber dort stand kein Angreifer oder ein Fremder.
Eva Fuego, Carlas Tochter stand verheult und weinend vor ihrer Haustür, in ihren Armen zappelte ruhig ein kleines Kind, das selbst in Ordnung schien.
Eva sah ihrer Mutter wirklich erstaunlich ähnlich. Dieselben schwarzen Haare, dasselbe schöne Gesicht, nur die Augen waren eine Spur heller und ähnelten eher einem schlammfarben, als der Farbe von dunklem Kaffee.
„Eva", begrüßte Carla ihr Kind besorgt, „Was ist los, querida? Was ist passiert?"
„Sie ist passiert", zischte Eva hasserfüllt und drückte Carla das Kleinkind in die Arme, „Sie ist ein Dämon! Sie ist ein Monster! Ich will sie nicht mehr!"
„Eva!", Carla liebte ihre Tochter, aber als sie sie so sprechen hörte, zog sich ihr Herz zusammen, „Sprich nicht so über deine Tochter!"
„Ich spreche über sie, wie ich will!", widersprach Eva ihrer Mutter laut, „Sie ist nicht normal! Ich wollte doch nur ein normales Leben, und dann ist sie passiert! Ich will sie nicht mehr sehen!"
„Das hättest du dir überlegen sollen, bevor du schwanger geworden bist", erinnerte Carla sie gereizt, das kleine Kind in ihren Armen schützend an ihre Brust drückend, „Du wolltest sie!"
Eva war jung. Sie war noch nicht einmal zwanzig Jahre alt und hatte schon ein Kind. Der Vater war Carla unbekannt, aber sie wusste, dass es ein Engländer gewesen war. Eva hatte ihn kennengelernt, kurz nachdem sie nach England gezogen war und war mit ihren siebzehn Jahren in Carlas Augen noch ein Kind gewesen, als sie schwanger geworden war.
„Und jetzt will ich sie nicht mehr", beschloss Eva und trat mit ihrem Fuß eine große Tasche unachtsam in Carlas Richtung und drehte sich schon um, aber Carla hielt sie noch zurück.
„Warte!", Eva stockte, drehte sich aber nicht zu ihrer Mutter um, „Hast du dir das gut überlegt, Eva? Sie ist deine Tochter. Sie ist einzigartig. Bist du sicher, dass du das machen willst?"
„Sie ist nicht einzigartig, sondern anders", Eva schaute ihre Mutter nicht an, „In der Tasche sind ihre Sachen. Ich will sie nicht wiedersehen."
„Dann will ich dich auch nie wiedersehen", dieser Satz rutschte aus Carla heraus und sie bereute ihn, sobald er ausgesprochen war, aber Eva schien das nicht zu interessieren.
„Schön", zischte sie, „Du wirst mich nicht wiedersehen!"
Eva stürmte davon und gab Carla keine Chance, sich zu entschuldigen oder die Sache richtig zu stellen. Zwar wollte sie ihrer Tochter hinterherrennen, aber da begann das Kleinkind in ihren Armen plötzlich zu quengeln und plötzlich weinte es.
„Shh", versuchte Carla sie zu beruhigen, „Alles wird gut, querida. Deine abuelita ist hier. Deine Oma wird jetzt für dich sorgen."
Mit einem letzten Blick hinaus schloss Carla die Tür und widmete sich dem weinenden Kind in ihren Armen. Es war lange her, seit sie ein kleines Kind in den Armen gehalten hatte, aber sie hatte ein Kind großgezogen und würde es trotz ihres Alters noch einmal schaffen.
„Ich weiß nicht, was in Eva gefahren ist", murmelte Carla gedankenverloren, „Was hat sie zu diesem Wahnsinn getrieben?"
Carla hatte ihre Enkelin nicht oft gesehen. Eva und sie waren auch schon seit der Geburt ihrer Tochter leicht zerstritten und es war dicke Luft zwischen ihnen gewesen – der Streit eben war wohl nur das Endergebnis jahrelanger kleiner Streitigkeiten gewesen.
Sie blickte auf ihre Enkelin herab und erstarrte. Das Kind war kaum älter als ein Jahr und noch so winzig. Man erkannte die Ähnlichkeit mit ihrer Mutter, aber sie hatte auch einige Merkmale, von denen Carla vermutete, dass sie vom Vater stammen mussten.
Ihre Haut war ein wenig heller, was daran liegen könnte, dass sie ihr gesamtes Leben schon in England verbrachte, aber auch, dass ihr Vater selbst vermutlich keine so schön gebräunte Haut hatte, wie Eva oder Carla. Ihre Nase war eine Stupsnase, wie bei allen Babys und ihre Augen waren ziemlich groß. Auf ihrem Kopf Sprossen auch schon die ersten Haare, die ebenso kohlenschwarz waren, wie die von Eva und Carla.
Was sie wirklich erschreckte, waren die Augen. Sie hatten nicht die Form, die Carlas oder Evas Augen hatten, also vermutete Carla, dass diese vom Vater stammen musste, aber die Augenfarbe selbst – das rechte Auge war so dunkelbraun, wie das von Carla. Es erinnerte an schwarzen Kaffee und Carlas Herz wurde warm, als sie bemerkte, dass das Kind ihre Augenfarbe geerbt hatte.
Das linke Auge hingegen war ganz anders. Es war hellgrün und im Gegensatz zu seinem dunklen stach es sofort heraus. Es war unnatürlich und wirkte so fremd. Carla hatte schon häufiger gehört, dass Menschen zwei verschiedene Augenfarben haben konnten – sie selbst kannte Leute, auf die das zutraf, aber da waren sie nicht so verschieden gewesen, wie die, des Kindes.
„Querida", hauchte Carla und konnte ihre Augen nicht von den Augen des Kindes abwenden, „Als wären zwei Seelen in dir vereint. Zwei Geister, in einem, kleinen Körper. Friedlich und im Einklang."
Das Kind lachte. Es war hell und fröhlich, als hätte es gar nicht bemerkt, dass ihre Mutter sie gerade verlassen hatte und Carla konnte nicht anders, als selbst zu lächeln.
„Du bist aber ein kleiner Wonneball, querida", Carla stupste dem Kind in den Bauch und brachte es so nur noch mehr zu kichern, „Ich verstehe deine Mutter nicht."
Carla trug das Kind in die Küche und setzte es auf den Boden.
„Ich muss weiterkochen, querida, aber keine Sorge – das Essen ist bald fertig und dann habe ich Zeit für dich", versprach Carla und wandte sich wieder dem Essen zu.
Das Kind saß tatsächlich einen Moment ruhig auf dem Boden, bevor sie sich nach vorne kippen ließ und durch die Gegend zu krabbeln begann.
Carla hatte immer ein wachsames Auge auf sie, während sie das Essen abschmeckte. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten bereitete Carla zwei Teller mit Essen vor – einen für sich und einen kleineren für das Kind.
„Dann wollen wir einmal", Carla hob sie hoch und da sie keinen Kindersitz hatte, setzte sie das Kind auf ihren Schoß, „Hier kommt das Flugzeug."
Mit einem Löffel wollte Carla ihr Reis zu essen geben, aber die Kleine war unzufrieden damit und schlug den Löffel weg.
Natürlich würde der Reis überall verteilt, aber anders, als Carla erwartet hatte, verbreiteten sich die kleinen Körner nicht auf dem ganzen Boden, sondern blieben für einen kleinen Moment tatsächlich in der Luft stehen, drehten sich ein paar Mal um sie, als wären es Planeten, die um die Sonne kreisten, bevor sie sich wohl wieder an die Schwerkraft erinnerten und auf den Boden fielen.
Carla war einen Moment sprachlos und konnte sich nicht bewegen, während die Kleine selbst in ihrem Schoß lachte und fröhlich in die Hände klatschte.
„Mia querida", hauchte Carla, „Das meinte Eva wohl damit..."
Carla stand auf und hob die Kleine hoch, um sie genauer zu betrachten.
„Kein Dämon, kein böser Zauber, kein Fluch", murmelte sie zu sich selbst, „Ein Wunder und ein Geschenk. Es ist ein Geschenk, meine kleine Tia Fuego."
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